[präsentiert]: Die Arbeitsgruppe*, die sich mit den grünen Neuwähler_innen beschäftigt, stellt ihre Ergebnisse der zweiten Erhebung in Schleswig-Holstein vor.
Die Grünen haben, neben dem Abstieg der FDP, in den beiden vergangenen Jahren die erstaunlichste Entwicklung in der deutschen Parteienlandschaft durchgemacht. Von knapp 11 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 entwickelte sich die, in bundesweiten Umfragen gemessene, Zustimmung auf bis zu 24 Prozent im Sommer 2010 und nochmals im Frühjahr 2011, um bis zum Jahresende wieder auf 16 Prozent abzuschmelzen. Jenseits starker Meinungskonjunkturen schien aber offensichtlich ein den Grünen zugewandter Zeitgeist diesen Aufstieg – verbunden mit einem starken Mitgliederzuwachs, dem ersten grünen Ministerpräsidenten und einer signifikanten Erweiterung der eigenen Anhängerschaft – zu flankieren. Ein viel diskutiertes Grün-Gefühl schien sich gesellschaftlich Bahn zu brechen, welches die Frage aufwirft, ob jener Aufschwung mehr ist, als nur eine Laune des Zeitgeistes.
Die baden-württembergische Perspektive
Um diese Frage zu erhellen erstellte das Göttinger Institut für Demokratieforschung in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung im Frühjahr 2011 eine qualitative Studie zu Werthaushalten und Politikvorstellungen der neuen Grünen Wähler_innen in Baden-Württemberg unter dem Titel Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel. Die Antwort fiel dort ambivalent aus. So stand einem kurzfristig erhofften Wechsel des Politikstils mithilfe der Grünen und einer starken Frontstellung gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Mappus zugleich der Befund einer möglichen Werteverschiebung gegenüber. Hinweise auf eine solche Verschiebung bei den neuen Grün-Wähler_innen fanden sich etwa im Rückgang der Leistungsbegeisterung, zudem in der Abwendung von der bundesrepublikanischen Leiterzählung des gesellschaftlichen Fortschritts durch ewiges Wachstum. Nicht zuletzt drückte sich auch in einer veränderten Wahrnehmung der Generationengerechtigkeit, die weniger als soziale Frage verhandelt wurde, sondern vielmehr in die Formel „Wir müssen die Erde für unsere Kinder und Enkel erhalten“ mündete, eine Verschiebung im Wertehaushalt aus. Gleichwohl handelte es sich eher um Indizien denn um handfeste Belege. Dies führte zu dem Schluss, dass ein Wertewandel, der den Grünen dauerhaft nutzen könnte, allenfalls gerade erst vor der Tür steht. Überdies zeigte die erste Untersuchungswelle, dass (noch) kein solides Wertefundament existiert, über das sich alte und neue Wähler verständigen können. Doch gilt diese Diagnose auch für Schleswig-Holstein, ein halbes Jahr nach Fukushima, anderthalb Jahre nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und im Zuge einer massiven Zuspitzung von Euro-, Finanz- und Schuldenkrise?
Die schleswig-holsteinische Perspektive
Für den Zeitgeisteffekt spricht der weiterhin bestehende Zweifel an der Funktionsfähigkeit der repräsentativen Demokratie und der Regelungsmöglichkeiten und Fähigkeiten der großen Politik. Der Landespolitik wird dabei noch weniger Vertrauen entgegengebracht als den bundespolitischen Institutionen. In der Wahrnehmung der Neuwähler_innen sind die Grünen diesbezüglich eine Alternative. Mehr aber auch nicht. Nur vereinzelt begeben sie sich in eine klare Frontstellung „Grüne vs. die anderen“, oder streben nach weitreichenden Veränderungen der politischen Kultur im Lande, wie es etwa auch in Stuttgart der Fall war. Denn über eine diffuse Zustimmung zu den Grünen aufgrund unterstellter Glaubwürdigkeit, auch der Fähigkeit, in Umwelt- und Bildungspolitik neue Impulse setzen zu können, hinaus, findet sich in Schleswig-Holstein keine übergreifende Erzählung bzw. Hoffnung, die einen Wechsel ins grüne Lager zu begründen und untermauern/stabilisieren vermag.
So monieren die unterdurchschnittlich verdienenden Neuwähler_innen soziale Problemlagen infolge von Leistungsdruck, sozialer Segregation und Arbeitsplatzunsicherheit – allein sie sehen die grüne Partei nicht als die logische Retterin aus dieser Malaise. Die überdurchschnittlich verdienenden Neuwähler_innen begegnen den Grünen vor allem im persönlichen, eigenverantwortlichen Nahbereich. Möglich scheint, dass das Gefühl verloren gegangener Sicherheit in den Krisen hier eine Hinwendung zum verantwortlichen Konsumdiskurs als überschaubare Thematik befördert, die nurmehr mit einer zufälligen Nähe zu den Grünen einhergeht. Möglich scheint aber auch, dass erst der wahrgenommene Bedeutungszuwachs grüner Themen, auch einhergehend und befördert durch eine gewandelte Wahrnehmung der Grünen als seriöse Partei mit echter Machtperspektive, die Leistungsträger_innen diesen Konsumdiskurs und der Partei nahegebracht hat.
Die Werte, die sie hinterfragen
Eine verbindende Brücke hierfür kann auf der Ebene der Werte vermutet werden. Bereits in Baden-Württemberg zeigte sich eine, mutmaßlich den Grünen zugewandte, Werteverschiebung. Die Ergebnisse aus Schleswig-Holstein weisen zunächst in eine ähnliche Richtung. Fast noch stärker schien hier die Abkehr von der unhinterfragten Leistungseuphorie vergangener Jahrzehnte. Der Wunsch nach einer qualitativen Umdeutung des noch dominanten Leistungsbegriffes – etwa als eigenverantwortliche, moralisch integre Leistung des Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext – war zu beobachten. Auch ewiges Wachstum wird über Umwelt- oder Finanzkrisen in Frage gestellt. Diese Debatten waren vor allem dominant in den überdurchschnittlich verdienenden Gruppen. Hier werden die Folgen von negativem Fortschritt – der sich in Rationalisierung und damit verbundenen sozialen Konsequenzen, in Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch niederschlägt – höchst kritisch gesehen, als geradezu zukunftsdestruktiv bewertet. Positiver Fortschritt hingegen, etwa im medizinischen Bereich und vor allem auch in puncto Energiewende, wird begrüßt und z. B. in puncto Windkraft auch als ökonomische Chance für das Land gesehen.
Bei den grünen Altwähler_innen ist diese grundsätzliche Leistungs- und Fortschrittsskepsis – was wenig überrascht – bereits tief verankert. Die Gesellschaft empfindet man im Vergleich zu „früher“ als weniger solidarisch und gerecht, beobachtet zunehmenden Egoismus und steigende Fixierung (zumindest außerhalb des eigenen Milieus) auf individualistische Werte. Allerdings, so scheint es, ist diese Leistungs- und Fortschrittskritik schon so selbstverständlich geworden, dass eine „plumpe“ Anti-Leistungs-/Fortschrittshaltung bzw. -rhetorik dieses sich bekanntermaßen gern diskursiv austobende Milieu zum Widerspruch reizt. Auch der „Nachhaltigkeits-Trend“ löst bei ihnen kaum Begeisterung aus, gehorcht er ihrer Ansicht nach immer noch zu sehr der überkommenen Fortschrittslogik; man schreite zu sehr auf alten, ausgetretenen Pfaden voran, so ihre Kritik, statt „ganz andere“ (und längst mögliche!) Wege einzuschlagen. Ihnen sind die „kleinen Schritte“ zu wenig, sie fordern einen „Quantensprung“ – dies allerdings höchst rational begründet mit Verweis auf bestehende Möglichkeiten, nicht als erträumte Utopie.
Nicht zuletzt wird auch in fast allen Gruppen die Idee einer nachhaltigen Generationengerechtigkeit vereinzelt angesprochen, etwa hinsichtlich der Energiewende oder bezüglich des Ressourcenverbrauchs. Indes, auch diese für die Frage eines Wertewandels wichtige Diskursverschiebung hinsichtlich der Generationengerechtigkeit ist in Schleswig-Holstein deutlich geringer ausgeprägt als im Süden der Republik. Die Ursachen hierfür scheinen vielfältig, der zeitliche Abstand zu Fukushima auf den ersten Blick evident. Dennoch würde diese Erklärung womöglich zu kurz greifen, betrachtet man die Zukunftssichten und Krisenwahrnehmungen der befragten Neu- und Altwähler_innen. Zum einen zeigt sich, dass die Relevanz von Umweltpolitik, Atomausstieg und Energiewende für grüne Neuwähler_innen – wohl auch bedingt durch die Bedeutung Schleswig-Holsteins für die Energiewende – im Vergleich zur Aktualität des Themas bei den Erhebungen in Baden-Württemberg nur geringfügig zurückgegangen ist. Zum anderen könnte es sein – dies werden womöglich die Erhebungen im Frühjahr 2012 in Sachsen beantworten können – dass der im Frühjahr 2011 diagnostizierte vage Beginn eines ökologisch-nachhaltigen Wertewandels derzeit von den unmittelbar wahrgenommenen ökonomischen Krisen deutlich überlagert wird.
Die Krisen, die Grünen und ihre neuen Wähler
Aktuell jedenfalls erscheint die Fundamentalität der Finanzkrisen als stark einschneidendes Erlebnis im Erfahrungshorizont. Die Angst vor weitreichenden Folgen für die eigene Zukunftsabsicherung scheint offensichtlich. Erst eine Überwindung dieser konkreten Ängste könnte hier womöglich auch einen Wertewandel jenseits von Fragen über die Funktionsweise des Finanzmarktkapitalismus ermöglichen – oder ihn gar mit einer noch größeren Dynamik versehen. Womöglich fehlen aber für diese Stoßrichtung eines Wertewandels noch – anders als etwa bei der Energiewende – die vertrauenswürdigen und glaubhaften Alternativen und Auswege. Hier ist die grüne Partei selbst gefordert. Denn deren Position zu den aktuellen ökonomischen Krisen war kaum einem/r Teilnehmer_in bewusst, die Regelungsfähigkeit dieser Krisen wird bei den Grünen eher nicht vermutet.
Resümierend lässt sich also auch für Schleswig-Holstein eine Mischung aus Zeitgeisteffekt und Wertwandel feststellen. Dennoch sind beide Sphären in Schleswig-Holstein weniger aufeinander bezogen. Offensichtlich scheint weiterhin die Wahrnehmung der Grünen als Alternative zu den etablierten Parteien aufgrund ihrer unterstellten Glaubwürdigkeit. Daneben finden sich Aspekte eines Wertewandels, der mit Teilen grüner Inhalte und Zuschreibungen konform gehen könnte, gleichwohl so kaum verbunden wird. Hier als Partei diskursiv noch viel stärker an die sich wandelnden Einstellungen zu Wachstum, Leistung und Generationengerechtigkeit anzuknüpfen, könnte den zunächst nur kurzfristigen Aufschwung der Grünen zumindest teilweise absichern. Denn, das zeigen das Sinken der Umfragewerte und das Aufkommen der Piraten, allein die Stellung als „irgendeine“, Hauptsache andere Alternative zu anderen Parteien wird langfristig nicht reichen.
* Zur Arbeitsgruppe zählen Michael Lühmann, Christian von Eichborn, Katharina Rahlf, Andreas Wagner, Elena Segalen, Klaudia Hanisch und Daniela Kallinich.
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier. Die vollständigen Projektberichte aus Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein stehen zum Download bereit.
Dieser Bericht erschien in längerer Form auch auf den Seiten der Böll-Stiftung.