[analysiert]: Daniel Albrecht über Gewissensentscheidungen von Politikern bei Grundfragen des Lebens.
Im Sommer 2010 konnte man bei der sehr leidenschaftlich geführten biopolitischen Debatte, die sich an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entzündete,[1] Folgendes beobachten: Seite an Seite argumentierten Abgeordnete von CDU/CSU, SPD, den Grünen und der Linkspartei für ein gänzliches Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID), die die Erkennung von Erbkrankheiten möglich macht. Die Gruppe warnte vor den möglicherweise dramatischen Folgen der Technologie, weil sie einen prinzipiellen Selektionsgedanken in sich trage und eine Entscheidung darüber beinhalte, welches Leben es wert sei, gelebt zu werden. Auf der anderen Seite wehrte sich eine ebenso „bunte“ Koalition gegen diesen Vorwurf der Euthanasie und stellte Leidensgeschichten von Eltern in den Vordergrund, die vor der Entscheidung stehen, ein möglicherweise schwer erkranktes Kind zur Welt zu bringen.[2]
Parlamentarische Debatten um Themen wie diese, um Abtreibung, embryonale Stammzellenforschung oder Präimplantationsdiagnostik, sind Anomalien im politischen Alltag, weil sich Parlamentarier dort mit Grundfragen des menschlichen Lebens beschäftigen, all dies unter der Aufhebung der sonst üblichen Fraktionsdisziplin. Renate Martinsen spricht in diesem Zusammenhang von einer „Repolitisierung des Gewissens“.[3] Nicht umsonst gelten solche Debatten als Sternstunden des Parlaments, sind sie doch häufig hoch emotional. Unter welchen Umständen aber tritt ein solches politisches Gewissen, das hier als unhintergehbare Orientierungsinstanz verstanden wird, zum Vorschein? Und wie lässt es sich im politischen Entscheidungsfindungsprozess verorten?
Einige Vorbemerkungen: Um zu verstehen wo ein solches Gewissen in der politischen Auseinandersetzung seinen Bezugspunkt findet, erweist sich ein Blick auf die Potenziale der Biotechnologie selbst als hilfreich. Diese gelten als noch nicht ausgeschöpft und absehbar, weshalb die Metapher von einer „Spitze des Eisberges“ durchaus zutreffend ist.[4] Ihre Konfliktträchtigkeit ergibt sich größtenteils aus ihrem „Zukunftsbezug“, der zugleich auch ihre Achillesferse ist[5] – und zwar, weil diese Technologien „gewohnte und geteilte Vorstellungen über Anfang und Ende des Lebens, über Körper und Krankheit verändern und soziale Beziehungen neu strukturieren“.[6] Zukunftsweisend ist dieses Thema auch, weil in postmodernen Industriegesellschaften die (Weiter-)Entwicklung dieser Hochtechnologien noch zunehmen wird.
Diese Entwicklungen finden zudem in einem gesellschaftspolitischen Klima statt, in der die Bewältigung von Zukunft mithilfe von Technik nicht mehr zweifelsfrei positiv konnotiert ist. War die Bundesrepublik noch bis weit in die 1960er Jahre hinein von einem Zukunftsoptimismus getragen, der auf dem Glauben an die „Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt“ fußte,[7] erodierte diese Perzeption in den Folgejahrzehnten. Die Ölkrisen der 1970er Jahre sowie Katastrophen, etwa der Super-GAU von Tschernobyl, als Folgen menschlichen und technischen Versagens in den 1980er Jahren, bremsten nicht nur den wirtschaftlichen Aufschwung aus und zeigten die globale wirtschaftliche Abhängigkeit von Nationalstaaten, sondern entlarvten auch den Fortschrittsoptimismus als eine Ideologie, welche nur im Austausch gegen die Vernichtung von Lebensgrundlagen aufrechterhalten werden konnte. Zukunft wurde nun vermehrt als Risiko empfunden.
Kurzum: Der unerschütterliche Glaube an die Technik und die Überzeugung, dass sie die einzige Antwort auf drängende Fragen sei, ist längst erschüttert. Darüber hinaus stoßen uns die Biotechnologien auf Fragen, die durch Technik selbst nicht mehr zu beantworten sind. Sie stellen selbst ein Gefahrenpotenzial dar und benötigen vielmehr technische, ethische und politische Leitlinien. Besonders schwer wird die Suche nach solchen moralischen Prinzipien in modernen Gesellschaften, denen bedingt durch Individualisierungsprozesse und einer nie da gewesenen Vielfältigkeit von Lebensformen ein gesamtgesellschaftlich überwölbender Wertekonsens abhanden gekommen ist.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Überlegungen für das politische System und seine Repräsentanten? Eine erste Antwort: Indem durch (bio-)technologische Weiterentwicklungen, in diesem Fall durch die PID, immer neue „ungeregelte Lücken“ entstehen, befinden sich (zukünftige) Eltern und Ärzte in einer rechtlich unsicheren Lage. Unklar ist, welche Rechte und Pflichten sie haben oder womit sie sich möglicherweise strafbar machen, ungeachtet der persönlichen Konfliktsituation, in der sie sich befinden. Hier war es das Urteil der VerfassungshüterInnen, das die Präimplantationsdiagnostik auf die politische Agenda hievte. Somit wurde nun der „Staat zum Adressat von Handlungsansprüchen“, der damit zugleich eine normative Entscheidung darüber zu fällen hatte, wie wir leben wollen.[8] Jedoch fordern diese Fragen das politische System in einer Zeit „normativer Unbestimmtheit“,[9] in der prinzipiell eine Vielzahl von Begründungszusammenhängen plausibel, legitim oder kontingent ist, besonders heraus.
Der Bundestag, sich dieser „Unmöglichkeit“ bewusst, reagierte auf diese „Systemüberforderung“ wie folgt: Alle Fraktionen lockerten, mittels einer Entlassung aus dem parteilichen Haftungsschutz, die Leinen für ihre Fraktionsmitglieder. Eine Entscheidungsfindung auf herkömmlichen Wege schien den Fraktionsspitzen anscheinend schlichtweg unmöglich. Befreit vom Fraktionszwang, konnten sich Parlamentarier auf ihre persönlichen Überzeugungen und auf die eigene Stimme, das Gewissen, besinnen. Lang „gehegte und gepflegte“ Ressentiments und weltanschauliche Klüfte anderen Parteien gegenüber wurden gleich mit über Bord geworfen.[10] In der parlamentarischen Auseinandersetzung dominierte dementsprechend die „Aktualisierung der Gewissensstimme“. Das Resultat: Die eigentliche „Pluralität von Moral in säkularisierten Gesellschaften“ wird im Ergebnis auf wenige „jeweils als universalistisch gültige und intersubjektiv zwingend nachvollziehbare Moralnormen“ verengt.“[11]
Problematisch ist die moralisierende Verengung in diesen Fragen, die offensichtlich den Rückgriff auf das Gewissen provozieren, vor allem deshalb, weil damit zwangsläufig andere in der Gesellschaft vorhandene Haltungen ausgeschlossen werden. Denn nicht alle Haltungen lassen sich unter einen Hut bringen. Ein Gesetz begrenzt oder fördert zwar letztendlich immer bestimmte Handlungsweisen, aber wie in kaum einem anderen Politikfeld schreibt es hier bestimmte Vorstellungen des „normativ Richtigen und Gewünschten“ bezüglich des privaten Lebens fest.
Daniel Albrecht ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Pilath, Monika: „In äußerster Seelenot“. Präimplantations-Diagnostik. Die Abgeordneten diskutieren ohne die übliche Fraktionsdisziplin, in: Das Parlament, Jg. (2011), H. 16 – 19, S. 1. In seinem Urteil stellte das Bundesverfassungsgerichts nämlich heraus, dass das 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetz der Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht grundsätzlich widerspreche. Hieraus ergab sich ein legislativer Graubereich.
[2] Das Parlament: Debattendokumentation. Debatte über die Präimplantationsdiagnostik/ 105. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages am 14. April 2011, in: Das Parlament, Jg. (2011) H. 16 – 19, S. 1 – 12.
[3] Martinsen, Renate: Gewissen ohne Geländer? Normative Selbstregulation als politisches Phänomen, in: ZPTh, (2010) H. 1, S. 26.
[4] Saretzki, Thomas: Technisierung der Natur – Transformation der Politik? Perspektiven der politikwissenschaftlichen Analyse zum Verhältnis von Biotechnologie und Politik, in: Martinse, Renate (Hrsg.): Politik und Biotechnologie, Baden-Baden 1997, S. 41.
[5] Martinsen, Renate: Einleitung: Politik und Biotechnologie, S. 9.
[6] Manzei, Alexandra: Über die Moralisierung der Bioethik-Debatte und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Das Beispiel des Stammzellendiskurses in Deutschland, in: Bender, Wolfgang/Hauskeller, Christine/Manzei, Alexandra (Hrsg.): Grenzüberschreitungen. Kulturelle, religiöse und politische Differenzen im Kontext der Stammzellenforschung weltweit, Münster 2005, S. 80.
[7] Martinsen, Renate: Einleitung: Politik und Biotechnologie, S. 10.
[8] Ebd., S. 11.
[9] Manzei, Alexandra: Über die Moralisierung der Bioethik-Debatte und ihre gesellschaftlichen Ursachen. Das Beispiel des Stammzellendiskurses in Deutschland, S. 82.
[10] Das Parlament: Debattendokumentation. Debatte über die Präimplantationsdiagnostik/ 105. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages am 14. April 2011, in: Das Parlament, Jg. (2011) H. 16 – 19, S. 1 – 12. Wie ließen sich Koalitionen aus Konservativen (CDU/CSU) und Linken (Die LINKE) auch sonst erklären?
[11] Martinsen, Renate: Gewissen ohne Geländer? Normative Selbstregulation als politisches Phänomen, S. 30 – 31.