[analysiert]: Teresa Nentwig über einen politischen Skandal, für den im Mai 1955 der niedersächsische Kultusminister Leonhard Schlüter sorgte.
Selten war die niedersächsische Politik derart präsent in den ausländischen Medien wie vor sechzig Jahren: Ob die französische Tageszeitung Le Monde, die englische Times, die Neue Zürcher Zeitung oder die New York Times – sie und viele weitere Blätter richteten im Mai und Juni 1955 ihren Blick nach Hannover und Göttingen. Was war dort passiert?
Am 24. April 1955 waren die Niedersachsen zur Landtagswahl aufgerufen gewesen. Doch weder hatten sie die Regierung des Sozialdemokraten Hinrich Wilhelm Kopf bestätigt noch für einen klaren Sieg von CDU, DP (Deutsche Partei) und FDP gesorgt. Erst Mitte Mai war klar, dass Niedersachsen zukünftig von einer Koalition aus DP, CDU, BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und FDP regiert werden würde. In der Kabinettsliste, die der designierte Ministerpräsident Heinrich Hellwege der Öffentlichkeit vorstellte, sorgte ein Name für Erstaunen: Der erst 33-jährige Leonhard Schlüter, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Niedersächsischen Landtag, sollte neuer Kultusminister werden.
Doch es war nicht sein Alter, sondern sein Werdegang, der die Gemüter erregte. Schlüter war nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch „Halbjude“, hatte darunter in persönlicher wie beruflicher Hinsicht zu leiden gehabt und viele seiner Verwandten in Konzentrationslagern verloren. Das hatte ihn jedoch nicht gegen jede Form des Rechtsextremismus immun gemacht, im Gegenteil: Seit Februar 1948 engagierte sich Schlüter in der DKP-DRP (Deutsche Konservative Partei-Deutsche Rechtspartei), u.a. seit September 1948 als deren niedersächsischer Landesvorsitzender und seit November desselben Jahres als Mitglied des Rates der Stadt Göttingen. Aufgrund seiner rechtsextremen und nationalistischen Agitation verbot ihm die britische Besatzungsmacht mit einer Verfügung vom 30. April 1949 jegliche Form der politischen Betätigung.
Doch daran hielt sich Schlüter nicht. Nachdem er schließlich Anfang 1951 den Vorsitz der „Nationalen Rechten“ übernommen hatte, wurde er bei der niedersächsischen Landtagswahl am 6. Mai 1951 als gemeinsamer Spitzenkandidat der rechtsextremen „Deutschen Reichspartei“ (DRP) und der „Nationalen Rechten“ in den Landtag gewählt. Einen Monat später begann Schlüters Karriere in der FDP: Seit Juni 1951 war er Hospitant, seit September vollwertiges Mitglied der FDP-Landtagsfraktion, wo er sich in der Folgezeit zum Wortführer des rechten Flügels der FDP-Abgeordneten entwickelte. Im Mai 1954 stieg Schlüter, der erst 1953 Mitglied der FDP geworden war, zum stellvertretenden Vorsitzenden, im April 1955 schließlich zum Vorsitzenden der freidemokratischen Landtagsfraktion auf.
Parallel zu seiner Tätigkeit als Politiker wirkte Schlüter als Verleger: Im September 1951 gründete er die „Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik“, die in den Folgejahren hauptsächlich Werke rechter bis rechtsextremer Provenienz veröffentlichte, darunter 1954 die Schrift „Der Fall Otto John. Hintergründe und Lehren“ des ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels. Vor diesem Hintergrund überrascht kaum, dass Schlüters Wahl zum Vorsitzenden der FDP-Fraktion für den SPD-Pressedienst vom 29. April 1955 „ein Alarmsignal erster Ordnung“ darstellte.
Da Schlüter sich jedoch in seinen Jahren als Landtagsabgeordneter in der Schulpolitik profiliert hatte, war es vom Fraktionsvorsitz nicht mehr weit zum Posten des Kultusministers: Seine Fraktion schlug ihn einstimmig dafür vor, Heinrich Hellwege setzte dem nichts entgegen und so tauchte Schlüters Name im Mai 1955 auf der Kabinettsliste auf. Der Rektor der Universität Göttingen, Emil Woermann, reagierte sofort: In persönlichen Gesprächen mit Hellwege, FDP-Vertretern (darunter auch der Bundesvorsitzende Thomas Dehler) und Leonhard Schlüter selbst brachte er seine Bedenken gegen dessen Berufung zum Ausdruck. Da allerdings weder Hellwege noch die Liberalen einlenkten, vereinbarte Woermann einen Tag vor der Vereidigung der neuen Regierung mit seinen Senatskollegen den Rücktritt von ihren Ämtern, sollte Schlüter tatsächlich zum neuen Kultusminister ernannt werden.
Und so kam es auch: Am 26. Mai 1955 wurde Schlüter zum Kultusminister ernannt und von der Landtagsmehrheit in diesem Amt bestätigt. Daraufhin kam es zu vielfältigen, sehr heftigen öffentlichen Protesten. Wie angekündigt, traten Emil Woermann sowie alle übrigen Mitglieder des Akademischen Senats noch am gleichen Tag demonstrativ von ihren Ehrenämtern zurück. Die Angehörigen des AStA folgten diesem Beispiel. Außerdem riefen sie ihre Kommilitonen am nächsten Morgen zu einem Vorlesungs- und Übungsboykott auf. Mit Erfolg: „In drei der größten Universitätsgebäuden [sic!] fanden während des Vormittags insgesamt 5 Vorlesungen vor einem Gesamtauditorium von 25 Hörern statt.“[1]
Und dabei blieb es nicht: Trotz ungünstiger Bedingungen („kürzeste Ankündigungsfrist, Ferienbeginn, strömender Regen bis zum Abend“[2]) folgten am Abend des 27. Mai 1955 rund 3000 von damals 4500 Göttinger Studenten einem Aufruf des AStA vom Vormittag und marschierten in einem Fackelzug durch die Göttinger Innenstadt. Die Zahl der Solidaritätsbekundungen nahm von Tag zu Tag zu. So baten der Rektor der Technischen Hochschule Braunschweig sowie die Direktoren der Pädagogischen Hochschulen in Göttingen, Braunschweig, Lüneburg und Osnabrück den niedersächsischen Ministerpräsidenten um die Entbindung von ihren Ämtern. Und sogar aus dem Ausland übermittelten viele Wissenschaftler und andere Persönlichkeiten der Universität Göttingen ihre Unterstützung, darunter z.B. der Physiker und Nobelpreisträger von 1925 James Franck, der von 1921 bis zu seiner Emigration im Jahr 1933 in Göttingen gelehrt hatte und zum Zeitpunkt der Schlüter-Affäre in Chicago lebte.
Schlüter stand damals zwar auch aufgrund eines Verfahrens wegen Beamtenbestechung, das gegen ihn schwebte, in den Schlagzeilen, aber die Proteste ereigneten sich hauptsächlich wegen seiner Biografie und seiner Verlegertätigkeit. So zogen die Studierenden während ihres Fackelzugs mit einem Transparent durch die Straßen, auf dem zu lesen war: „SCHLÜTER: ‚Mein Leben spricht für sich‘“. Und auf dem Pflaster vor der Universität war in großen weißen Buchstaben zu lesen: „SCHLÜTER“. Daneben sah man ein großes weißes Hakenkreuz.
Trotz aller Proteste hielten der Ministerpräsident und die niedersächsischen Liberalen an ihrem Minister fest. Doch nach und nach distanzierten sich mehrere FDP-Landesverbände von Schlüter; zudem lehnten in der Bildungspolitik relevante Entscheidungsträger und Institutionen jede Zusammenarbeit mit ihm ab. Infolgedessen sah sich Hellwege am Ende doch gezwungen, Schlüter zum Rücktritt zu drängen – am 9. Juni 1955 legte dieser mit Hinweis auf den öffentlichen Druck sein Amt nieder.
Als der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der in der Schlüter-Affäre gebildet worden war, im Februar 1956 seinen Abschlussbericht vorlegte, trat Schlüter aus der FDP wie auch aus der Landtagsfraktion aus. Einer „der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit“[3] war damit endgültig zu Ende.
Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Fotos: Städtisches Museum Göttingen
[1] Offener Brief des AStA Göttingen an alle Allgemeinen Studentenausschüsse vom 04.06.1955, unterzeichnet vom 1. AStA-Vorsitzenden Dieter Stöckmann. Zitiert nach Marten, Heinz-Georg: Der niedersächsische Ministersturz. Protest und Widerstand der Georg-August-Universität Göttingen gegen den Kultusminister Schlüter im Jahre 1955, Göttingen 1987, S. 51.
[2] Zitiert nach ebd.
[3] Jenke, Manfred: Die nationale Rechte. Parteien, Politiker, Publizisten, Berlin 1967, S. 201.