[analysiert]: Hannes Keune hinterfragt ein aktuelles Narrativ der public intellectuals.
Irgendwie schien die Realität Francis Fukuyamas Geschichtsteleologie, demnach die Demokratie westlichen Typs endgültig triumphiert habe,[1] nach 1989 zu konterkarieren: In unmittelbarer Nachbarschaft der Europäischen Union gingen aus dem Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaats sich nur langsam modernisierende und demokratisierende Transformationsgesellschaften hervor. Den islamistischen Anschlägen von 9/11 folgten Afghanistan- und Irak-Krieg. Und dass die Globalisierung nicht widerspruchslos abläuft, bewies nicht zuletzt die Vielzahl ökonomischer Krisen in den 1990ern und 2000ern – es seien an dieser Stelle nur die wichtigsten der Reihe nach genannt: die Skandinavische Bankenkrise zu Beginn der 1990er Jahre, die Japan-Krise ab 1991, die Asien-Krise 1997/98, das Platzen der Dotcom-Bubble 2000 und nicht zuletzt die Weltwirtschaftskrise ab 2007. To make a long story short: Die Welt war mit dem Ende der Sowjetunion keineswegs zu einem besseren Ort geworden, Protest oder gar utopische Gegenentwürfe regten sich jedoch kaum oder waren den Massenmedien keine Berichterstattung wert.
Die globalisierungskritischen Demonstrationen von Seattle, Genua und Heiligendamm ließen zwar so manches Autonomenherz höherschlagen, blieben aber eine Angelegenheit des linken bis linksradikalen Spektrums. Das änderte sich erst mit den krisenhaften Verwerfungen ab 2007. Occupy von Berlin bis Berkeley, die Grüne Revolution im Iran von 2009, der Widerstand an der südeuropäischen Peripherie gegen die Spardiktate aus Berlin und Brüssel, der sogenannte Arabische Frühling ab Dezember 2010, Stuttgart 21, die Blockupy-Bewegung, die Gezi-Proteste gegen die Islamisierung der Türkei im Sommer 2013 und nicht zuletzt die Massendemonstrationen auf dem Kiewer Maidan seit dem letzten November – in globaler Gleichzeitigkeit, so die gängige These, gingen die Menschen gegen gesellschaftliches Unrecht und für die Demokratie auf die Straße.
Sinnbildlich dafür stehen die Solidaritätsgrüße ägyptischer Revolutionäre vom Tahrir-Platz an die kämpfenden Gewerkschaften in Wisconsin: „Egypt supports Wisconsin Workers: One World, One Pain“[2]. Wisconsin antwortete: „Wir lieben Euch. Danke für die Unterstützung und Glückwunsch zu Eurem Sieg!“[3] Flankiert wurden die Bürgerproteste von Intellektuellen, die nach vielen Jahren der feuilletonistischen Emigration endlich wieder in die nicht nur auf die westliche Welt beschränkten Massenproteste intervenieren konnten. In ihrer Rolle als public intellectuals drücken insbesondere Stéphane Hessel und Jürgen Habermas das Unbehagen vieler Bürger in den westlichen Gesellschaften aus. Der Résistant und KZ-Überlebende Hessel fiel dabei vor allem mit seinem Essay „Empört Euch!“ auf. In ihm fordert er besonders junge Leute auf, dem Grundmotiv der europäischen Résistance gegen den Faschismus zu folgen und sich zu empören – gegen die „Diktatur der internationalen Finanzmärkte“[4], gegen die Manipulation der Massenmedien, gegen die Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Aus Empörung, so die Hoffnung Hessels, werde „ein friedlicher Aufstand“, der die Demokratie entlang ihrer republikanischen Traditionen erneuere.
Jürgen Habermas, der Philosoph der linksliberal-sozialdemokratischen Mittelschichten und in den vergangenen Jahren wie kein Zweiter publizistisch präsent, betrachtet das Phänomen der neuen zivilgesellschaftlichen Proteste in Europa im Kontext der Krise ab 2008, in deren Verlauf Demokratie abgebaut und die Bürger entmündigt würden. Habermas’ Kritik am technokratischen „Pakt für Europa“, der eigentlich ein „Pakt gegen Europa“ sei, deckt sich dabei mit seiner Hoffnung auf eine soziale Bewegung zur zivilgesellschaftlichen Erneuerung Europas.[5] Die Habermas-Schülerin Seyla Benhabib sah anno 2011 im Arabischen Frühling einen solchen demokratischen Aufbruch gegen alte Despoten, in dessen Folge eine neue Freiheitsordnung, ein „novo ordo saeclorum“[6], entstehe. Noch pathetischer gab sich Bernard-Henri Lévy, als er zu den Massen auf dem Kiewer Maidan sprach: „Ihr habt mit einer großen Völkern würdigen Selbstbeherrschung der Tyrannei eine historische Niederlage bereitet.“[7] Lévys Ausführungen, die Ukrainer stünden mit ihrem Kampf um Demokratie in einer Reihe mit den Revolutionären von 1789, den Antifaschisten im Spanischen Bürgerkrieg und der Allianz gegen die Nazis, offenbaren unfreiwillig Sehnsüchte der Intellektuellen – auf die im gesellschaftlichen Normalvollzug eigentlich niemand mehr so recht hören mag – nach dem politischen Ausnahmezustand.
Ähnliche Protestformen – die Besetzung symbolträchtiger Plätze wie des Tahrir-Platzes, der Wall Street oder des Kiewer Maidans sowie die Rolle der Neuen Medien (Twitter, Facebook und Co.) – erzeugten den Anschein, als ob es sich bei den weltweiten Protesten der vergangenen Jahre um etwas nahezu Gleichartiges handele. Wenn ägyptische Revolutionäre und US-amerikanische Gewerkschafter sich via Twitter virtuell verbrüdern, so müssen sie doch auch die gleichen Kämpfe führen. Kairo ist aber nicht Madison, Kiew ist nicht Stuttgart. Zwar haben alle Proteste mit Sicherheit etwas mit den ökonomischen Umwälzungen der vergangenen Jahrzehnte – Stichwort: Globalisierung – zu tun; auf einen einfachen Konflikt zwischen Volk und politischen wie ökonomischen Eliten kann aber keine der Revolutionen oder Massendemonstrationen reduziert und schon gar keine globale Gleichheit der Proteste behauptet werden.
Vielmehr feilen nicht nur die oben zitierten Intellektuellen an einem Narrativ, das hinter den globalen Aufständen den Weltgeist vermutet, der an universaler Demokratie und Fortschritt arbeite. Gegenüber dem von den Intellektuellen reproduzierten Schein eines globalen demokratischen Aufbruchs muss jedoch eine gewisse Skepsis gewahrt werden. Euromaidan müsste neben anderen Faktoren im Kontext des ethnischen Zerfalls des alten Ostblocks – u.a. der sogenannte Arabische Frühling im Rahmen der Modernisierung islamischer Gesellschaften und die gegenwärtig äußerst erfolgreiche islamistische Gegenrevolte, der Widerstand gegen das europäische Spardiktat als Folge der Währungskrise – diskutiert werden.
Dementsprechend gilt auch für die vielfältigen Proteste in Deutschland, dass sie in einem spezifischen Kontext betrachtet werden müssen. In Deutschland scheint mittlerweile vieles möglich, was man sich noch in den 1990er Jahren nicht hätte träumen lassen. In der Süddeutschen Zeitung werden die Bürgerproteste gegen Stuttgart 21 und des Demos’ Forderungen nach mehr direkter Demokratie als Standortfaktor diskutiert; das massenmedial erzeugte und zunächst von konservativer Seite in denunziatorischer Absicht geprägte Label „Wutbürger“[8] scheint sich positiv zu wenden – nobilitiert es doch mittlerweile die Bundesbürger zur engagierten Avantgarde eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs. Sich engagieren und sich einbringen, das ist der zivilgesellschaftliche Imperativ der Stunde. Gleichsam wird ein Mehr an demokratischer Partizipation, zum Beispiel durch direktdemokratische Abstimmungen, gefordert.
Freilich darf darüber nicht vergessen werden, dass in den vergangenen Jahren nicht nur die Mittelschichten mit ihren (zumindest in der Selbstdarstellung) progressiven Stellungnahmen gegen infrastrukturelle Großprojekte und für eine ökologische Energiewende sowie mehr demokratische Teilhabe auf die Straße gegangen sind, sondern es vermehrt zu reaktionären Protesten aller Art gekommen ist. Vor dem Hintergrund einer sinkenden Integrationskraft des Arbeitsmarktes drücken die verschiedenen Proteste der fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften Abstiegsängste aus. Diese verbinden sich mit eben jener Forderung nach politischer Mitbestimmung – die als abgehoben betrachteten parlamentarischen Vermittlungsprozesse werden nicht länger akzeptiert, Stuttgart 21, aber auch die Forderung der Umweltbewegung nach einer Energiewende in Bürgerhand zeugen davon. In den peripheren Bereichen der westlichen Gesellschaften ist es die Angst, überhaupt nicht mehr dazuzugehören, die sich an Asylbewerbern in Hellersdorf und Schneeberg auslässt oder sich in wochenlangen Riots der europäischen Mega-Citys London und Paris ausdrückt. Demgegenüber zeugen die Aufstände in der Ukraine oder im sogenannten Arabischen Frühling von den Widersprüchen gesellschaftlicher Modernisierung, die ein globalisierter Kapitalismus evoziert und die je nach nationaler und kultureller Spezifik unterschiedlich verarbeitet werden. Ob diese Prozesse tatsächlich liberale Demokratie und bürgerliche Rechtsstaatlichkeit hervorbringen, sollte das Feuilleton zumindest nicht allzu vorschnell beantworten. Fukuyama mahnt.
Die neue Protestlandschaft will verstanden werden: Wie lassen sich die Riots in den Vorstädten der westeuropäischen Metropolen Paris und London erklären? Welche Unterschiede offenbaren die asylfeindlichen Proteste in Schneeberg und anderswo im Vergleich zur rassistischen Mobilmachung Anfang der 1990er Jahre? Wie sind die neuen Montagsdemonstrationen einzuordnen? Was passiert eigentlich auf dem Kiewer Maidan? Die Reihe „Protest.“ will sich mit diesen und anderen Fragen auseinandersetzen und somit den Blick auf die gegenwärtigen Proteste in Deutschland und anderswo erhellen.
Hannes Keune arbeitet am Institut für Demokratieforschung.
[1] Siehe Fukuyama, Francis The End of History and the Last Man, New York 1992.
[2] Vgl. Kroll, Andy: Cairo in Wisconsin, in: The Nation, 28.02.2011, URL: http://www.thenation.com/article/158883/cairo-wisconsin [zuletzt eingesehen am 06.06.2014].
[3] Vgl. Benhabib, Seyla: „Der arabische Frühling“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5/2011. Dabei zeigt sich wie so oft, dass die Geschichte den wissenschaftlichen Fortschrittsemphatiker eines Besseren belehrt – Fukuyama lässt grüßen. Der „neue“ Nahe Osten, den die Transformationen des Arabischen Frühlings hervorbringen, dürfte eher einer von failed states und islamistischer Bandenherrschaft denn einer des erfolgreichen state buildings und der Demokratisierung sein.
[4] Vgl. Hessel, Stéphane: Empört euch!, in: Frankfurter Allgemeine zeitung, 09.01.2011, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/stephane-hessels-pamphlet-empoert-euch-1580627.html [zuletzt eingesehen am 05.06.2014].
[5] Vgl. Habermas, Jürgen: Ein Pakt für oder gegen Europa?, in: ders.: „Zur Verfassung Europas – ein Essay“, Berlin 2011, S. 120-129. Die Zukunft der Demokratisierung der EU entscheidet sich für Habermas dabei entlang dreier entscheidender Momente, nämlich der „Wiederentdeckung des deutschen Nationalstaats“, des „demoskopiegeleiteten Opportunismus’“ und des „Unbehagens an der politisch-medialen Klasse“ (ebd., S. 124-128). Ohne zivilgesellschaftlichen Aufbruch fürchtet Habermas eine „Post-EU“ bzw. ein „postdemokratisches Europa“.
[6] Vgl. Benhabib.
[7] Vgl. Lévy, Bernard-Henri: Europa muss Euch helfen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.03.2014, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/bernard-henri-levy-auf-dem-majdan-europa-muss-euch-helfen-12829745.html [zuletzt eingesehen am 20.06.2014].
[8] Vgl. Kurbjuweit, Dirk: Der Wutbürger, in: Der Spiegel, 11.10.2010, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184564.html [zuletzt eingesehen am 05.06.2014]. In diesem Essay stellt sich Kurbjuweit die Frage, warum die Deutschen neuerdings so viel demonstrieren – und warum es auf einmal die sogenannte bürgerliche, gut situierte Mitte ist, die mit der Politik bricht: Kurbjuweit tauft diesen neuen Typus den „Wutbürger“.