[präsentiert]: Christopher Schmitz ordnet das Buch „Transparenzgesellschaft“ in den aktuellen Diskurs ein.
Obgleich es weder unter den Wörtern noch den Unwörtern der letzten Jahre zu finden war, setzen sich sowohl das Wort als auch das Prinzip der Transparenz im zunehmenden Maße in unserer alltäglichen Begriffs-, Lebens- und Umwelt fest. Immerhin: Im Jahr 2010 landete „Wikileaks“ auf Platz fünf der Wörter des Jahres. Aus der Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache dazu heißt es: Wikileaks sei „eine Internetplattform, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, geheime oder zensierte Dokumente von öffentlichem Interesse zugänglich zu machen.“ Darüber hinaus lassen Initiativen wie Abgeordnetenwatch, Bewegungen wie Post-Privacy und der zunehmende Erfolg der Piratenpartei, die sich u. a. der Transparenz verschrieben hat, erahnen, dass sich „Transparenz“ als neues Leitmotiv im gesellschaftlichen Denken festsetzen könnte. Und auch die die Wissenschaft beschäftigt dieses Thema, wie das hochaktuelle Buch „Transparenzgesellschaft“ (März 2012) von Byung-Chul Han beweist.
Han ist Professor für Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Diese akademische Herkunft merkt man bei der Lektüre seines Werkes deutlich: Finden sich zu Beginn noch tagespolitische Facetten, die eine Auseinandersetzung mit der politischen Dimension des Schlagwortes Transparenz vermuten lassen, vergrößert der Autor den Fokus mit der Begründung, dass die Transparenzgesellschaft umfassender sei als gemeinhin vermutet und über die Dimension des oben erwähnten öffentlichen Interesses hinausgeht: „Wer die Transparenz allein auf Korruption und Informationsfreiheit bezieht, verkennt ihre Tragweite. Die Transparenz ist ein systemischer Zwang, der alle gesellschaftlichen Vorgänge erfasst und sie einer tiefgreifenden Veränderung unterwirft“ (S. 6). Um die vom Autoren geäußerte Kritik am Alltagsverständnis des Begriffs in Gänze darzustellen, ist es zunächst notwendig, das komplex-abstrakte Argumentationsmuster Hans zumindest in groben Zügen nachzuvollziehen.
Die Auswirkungen dieses erweiterten Transparenzbegriffes Hans zeigen sich in der folgenden Interpretation: Transparenz sei demnach keine originäre Kategorie des Politischen, sondern vielmehr vor allem ein Werkzeug des Ökonomischen. „Transparent werden die Dinge […], wenn sie sich ganz in Preis ausdrücken“ (S. 6). Dennoch beschränkt sich die Diskussion des Themas nicht auf eine Kritik des Ökonomischen. Han präsentiert vielmehr eine Kulturkritik, die sich an den Folgen der zunehmenden Digitalisierung und Medialisierung reibt und abarbeitet. Unter Bezugnahme auf Namen wie Heidegger, Hegel, Nietzsche, Benjamin und Baudrillard wird die Transparenz als „die Hölle des Gleichen“ (S. 6) Kapitel für Kapitel um Analysen dessen ergänzt, was (seiner Meinung nach) hinter der Vulgärdefinition (Informationsfreiheit und Korruption) verborgen liegt. Han verfolgt das Ziel, den Begriff der Transparenz seiner Schatten zu berauben und sichtbar zu machen.
Die Transparenzgesellschaft wirke zunächst als eine Positivgesellschaft. Transparent sei eine Umwelt, in der jede Negativität (Schatten, Unsicherheiten, schlichtweg Lücken im Ganzen, also der Raum für Interpretationen) fehle. Eine Umwelt somit, die abstandslos, glatt, obszön und pornografisch sei: „Obszön ist die Transparenz, die nichts verdeckt, verborgen hält und alles dem Blick ausliefert. Heute sind alle medialen Bilder mehr oder weniger pornografisch“ (S. 46). Pornografie als der unmittelbare Kontakt zwischen Bild und Auge (vgl. S. 6) gehe einher mit der Ausstellungsgesellschaft, also einer Gesellschaft, in der sich das Innerste zum Äußersten wendet und zur Schau stellt (vgl. S. 22). Alles muss sichtbar werden und sich dem Ausstellungsimperativ unterordnen. Der „ikonische Zwang, zum Bild zu werden“ (S. 24) ist ihre Essenz. Die Transparenzgesellschaft wirke also durch die Einebnung von Negativität, die Verzurrung der Positivität und den Befehl zur Ausstellung. Sie münde in einer „Tyrannei der Sichtbarkeit“ (S. 24).
Die Diskussion des Kulturkritischen endet schließlich in der Konstruktion eines dialektischen Verhältnisses. Han bemüht hierfür den Begriff des digitalen Panoptikums, das sich im Gipfel der Transparenzgesellschaft manifestiere: der Kontrollgesellschaft. Ausgehend von Benthams Panoptikum (ein Entwurf für eine Überwachungsarchitektur für Gefängnisse und Fabriken, in der Zellen bzw. Arbeitsplätze kreisförmig um eine zentral positionierte Überwachungsstation herum angeordnet sind, wodurch ein Gefühl potentiell ständiger Überwachung hervorgerufen wird, die vom Zentrum in die Peripherie, also perspektivisch, wirkt) löst sich infolge der Medialisierung, Digitalisierung und Vernetzung die Grenze zwischen Zentrum und Peripherie auf: Abstände werden eingeebnet, Perspektiven auf- und durch die Aperspektivität abgelöst. „Die aperspektivische Überwachung ist wirksamer als die perspektivische […], weil man von allen Seiten, von überall her, ja von jedem ausgeleuchtet werden kann“ (S. 75). Hier offenbart sich der dialektische Zug der Transparenzgesellschaft: Die Kontrollgesellschaft vollende sich dort, „wo ihr Subjekt sich nicht aus äußerem Zwang, sondern aus selbstgeneriertem Bedürfnis heraus entblößt, wo also die Angst davor, seine Privat- und Intimsphäre aufgeben zu müssen, dem Bedürfnis weicht, sie schamlos zur Schau zu stellen“ (S. 76). Es entstehe ein ungesteuertes, dezentrales System totaler Kontrolle ungeahnter Effektivität, weil es aus einem Gefühl der Freiheit sich mitzuteilen heraus geschaffen werde. „Der Insasse des digitalen Panoptikums ist Opfer und Täter zugleich. Darin besteht die Dialektik der Freiheit. Die Freiheit erweist sich als Kontrolle“ (S. 82).
Diese Transparenzgesellschaft als eine Gesellschaft der Kontrolle sei geprägt von Misstrauen und Verdacht. Fehlende, brüchig gewordene moralische Instanzen und Werte wie Vertrauen und Verlässlichkeit würden durch die Transparenz als neuen sozialen Imperativ abgelöst (vgl. S. 79). Doch dort, wo das Ende des Vertrauens und der Zustand der Transparenz erreicht seien, werde die Politik schließlich zur Post-Politik. Dadurch, dass die Transparenzgesellschaft jede Negativität verloren habe, könne keine Energie mehr aufgebracht werden, um das politische System zu verändern. Politik verkomme zu einer Bestätigung, Optimierung und Verwaltung des Bestehenden, zu einer Politik ohne Geheimnisse, ohne Inspiration, zu einer „Theatokratie“ (S. 15 f.). „Das Übermaß an Positivität, das die heutige Gesellschaft beherrscht, ist ein Hinweis darauf, dass ihr die Narrativität abhanden gekommen ist“ (S. 54). So identifiziert Han die Piratenpartei als Ausdruck dieser Post-Politik. „Die Piratenpartei als Partei der Transparenz setzt die Entwicklung zur Post-Politik fort, die einer Entpolitisierung gleichkommt. […] Als Anti-Partei ist die Piraten-Partei nicht in der Lage, einen politischen Willen zu artikulieren und neue gesellschaftliche Koordinaten herzustellen“ (S. 16).
Über die Treffsicherheit von Hans Thesen lässt sich sicherlich streiten. Und es sollte über sie gestritten werden. Die Gleichsetzung von Transparenz mit Post-Politik, von Post-Privacy als abstandslose Ausstellungsgesellschaft mit Pornografie ist rabulistisch. Doch ermöglicht diese Rabulistik erst eine tatsächlich kontroverse Auseinandersetzung. Auf einen Diskurs, dessen Tenor bis dato überwiegend positiv ist, kann die Konstruktion einer Gegenmeinung nur sinnvoll einwirken. Auch ist der Zustand, den Han als gegeben und tatsächlich hinstellt, wohl doch eher Zukunftsmusik, mehr ein mögliches Szenario denn Realität. Hierfür ist die digitale Spaltung noch schlichtweg zu groß. Zu große Teile der Gesellschaft sind noch nicht in dem Maße digitalisiert, als dass diese Form der Transparenzgesellschaft bereits akut zu beobachten wäre.[1]
Dennoch stellt Hans Text einen wertvollen Beitrag zur Diskussion um das Phänomen der Transparenz dar. Nach dieser Lektüre muss sich eine Gesellschaft — und vor allem die Politik — fragen, ob sie weiterhin transparent sein bzw. transparenter werden will, oder sich doch lieber wieder verstärkt im „Pathos der Distanz“ (S. 10) üben sollte, wie Han dies vorschlägt. Und sie sollte gute Argumente aufbringen, um das Prinzip Transparenz zu verteidigen. Die Konstruktion des digitalen Panoptikums und die Ableitung der Kontrolle aus der Freiheit heraus mögen abstrakt sein. Doch wer Transparenz fordert und selbst intransparent bleibt, bietet eine Angriffsfläche. Der systemische Zwang beginnt zu wirken. Die Befürchtung also, dass die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit auf diese Weise schließlich endgültig eingeebnet wird, lässt sich nicht ohne weiteres zurückweisen.
Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Rezension zu: Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft, Matthes & Seitz, Berlin 2012 (96 Seiten, 10 €)
[1] https://www.divsi.de/2012-02-29-27-millionen-menschen-in-deutschland-ohne-internet