Gelegenheit macht Protestierende

[analysiert]: Jonas Rugenstein erklärt die Stuttgarter Protestbewegung anhand „politischer Gelegenheitsstrukturen“

Viele Erklärungsversuche der Protestbewegung gegen das Großprojekt „Stuttgart 21“ setzen direkt bei den Menschen an: So verfolgt auch die Befragung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung das Ziel, die Motive, Einstellungen, Erfahrungen und Ressourcen der Protestierenden genauer zu analysieren. Sind erst die Beweggründe der Protestierenden gefunden, so die Annahme, lässt sich erklären, wie der Protest entsteht und sich entwickelt. Und in der Tat lässt sich so Einiges über die Frage nach dem „Warum“ aussagen. Eine solche Analyse kommt jedoch nicht über den engen Erklärungsrahmen der internen Voraussetzungen für die Entstehung von Bewegungen hinaus und läuft damit Gefahr, eine einseitige Deutung abzugeben.

Um demgegenüber die entscheidende Frage nach den Ursachen für die Herausbildung von Bewegungen noch genauer beantworten zu können, lohnt es sich, einen Schritt aus der Bewegung herauszutreten und die Geschehnisse in einem größeren Zusammenhang, quasi aus der Vogelperspektive, zu betrachten. Bei dieser Analyse, die – mit wissenschaftlichen Vokabeln gesprochen – von der Mikro- auf die Makro-Ebene wechselt, werden die politischen Rahmenbedingungen, sprich die externen Ressourcen einer Bewegung untersucht.

Ein Ansatz, der dies leistet, ist die Theorie der politischen Gelegenheitsstrukturen. Diese in den späten 1970er Jahren entwickelte Bewegungstheorie geht davon aus, dass die jeweilige Konstellation des politischen Systems die Entstehung von Bewegungen hemmen, aber auch fördern kann. Gelegenheitsstrukturen sind demnach: „Parameter für soziale oder politische Akteure, die ihre Aktionen entweder ermutigen oder entmutigen“. Anhand dieser Theorie soll im Folgenden nach den speziellen Formationen im politischen System gefragt werden, die den Protest in Stuttgart befördert haben.

Ein solcher Parameter, der Einfluss auf die Bildung von Protestbewegungen hat, ist der Grad der Offenheit politischer Institutionen. Ein Auslöser für die Entstehung von Bewegungen ist demnach ein Zustand, in dem den Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zu politischen Institutionen so weit verschlossen bleibt, dass sie sich nicht mehr vertreten fühlen. Dabei darf die Schließung allerdings nicht so weit gehen, dass sie die Einflussnahme auf den politischen Prozess als aussichtslos erscheinen lässt. Zur Beschreibung des jetzigen Zustandes der Offenheit politischer Institutionen bietet sich die von Colin Crouch entwickelte These der Postdemokratie an. Folgt man Crouchs Analyse, so ist das System der politischen Interessenvertretung zwar formal intakt, der Zugang zu den Parteien und Verbänden offen, gleichzeitig findet jedoch durch die Auflösung der Milieus als Träger der politischen Großorganisationen praktisch eine Ablösung des politischen Entscheidungsverfahrens von den Menschen statt. Anstelle der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger werden politische Entscheidungen von einer Elite aus Parteien und Wirtschaft getroffen. Es besteht also eine Lücke zwischen dem formal vorhandenen offenen Zugang und dem tatsächlichen Zustand, der durch eine Schließung der politischen Institutionen gekennzeichnet ist.

Diese Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand ist es, die die Menschen in Stuttgart auf die Barrikaden bringt. Formal ist das Verfahren, das zur Verabschiedung des Projekts Stuttgart 21 geführt hat, zumindest weitestgehend korrekt abgelaufen. Es fehlt jedoch die Einbeziehung der Stuttgarterinnen und Stuttgarter in diesen Entscheidungs- und Aushandlungsprozess. Folglich versuchen die Ausgeschlossenen ihren Einfluss jenseits der klassischen Formen der politischen Partizipation, durch die sie sich nicht mehr ausreichend vertreten fühlen, geltend zu machen: eben auf der Straße.

Ein weiterer Parameter, den die Theorie der Gelegenheitsstrukturen untersucht, ist die Stabilität politischer Bindungen. Demnach führt die Auflösung von festen Parteipräferenzen zu einer Gruppe politisch Heimatloser, die sich in Bewegungen organisieren können. Beispielhaft lässt sich dieser Prozess anhand der SPD in den 1970er Jahren beobachten. Die damals aufkommenden Konflikte, die sich unter dem Stichwort Postmaterialismus zusammenfassen lassen, konnten von der Sozialdemokratie nicht mehr schlüssig aufgelöst werden, was zu einer Abwanderung von Mitgliedern und Wählerinnen und Wähler führte. Ihre neue Heimat fanden sie in den damals aufkommenden sozialen Bewegungen.

Einen – wenn auch im Ausmaß nicht vergleichbaren – Prozess scheint derzeit die CDU durchzumachen. Insbesondere der baden-württembergische Landesverband der CDU ist hierfür ein gutes Beispiel. Die in den 1980er Jahren von Lothar Späth eingeleitete moderne Industrie- und Technologiepolitik führte dazu, dass die konservative Wählerschaft der CDU sukzessive den Rücken zukehrte. Besonders auf dem Land musste die CDU einen bedeutenden Teil ihrer katholischen Stammwählerschaft einbüßen. Mit ihrem klaren Ja zum unterirdischen Bahnhof nimmt die CDU keine Rücksicht auf den konservativen Wunsch nach einem Innehalten während der scheinbar automatisch voranschreitenden Modernisierung. Gerade in Krisenzeiten wird dem Bedürfnis nach Sicherheit und Sparsamkeit nicht ausreichend Rechnung getragen, weshalb sich auch ein bedeutender Teil von ehemaligen Anhängern der CDU erstmals in ihrem Leben eine Demonstration besucht, anstatt die nächste Wahl abzuwarten und den für sie selbstverständlichen und vormals einzigen Weg der politischen Mitbestimmung zu beschreiten.

Auch wenn gerade über die Rolle der Parteien viel Unmut entsteht, komplett bedeutungslos sind sie deshalb für politische Bewegungen nicht. Im Gegenteil: Parteien können, indem sie Konsens in der parlamentarischen Ebene aufbrechen oder – in den Worten der Theorie der Gelegenheitsstrukturen gesprochen:  – die Eliten spalten, einen bedeutenden Impuls für die Entstehung von Bewegungen setzen. Dies haben die Grünen und die LINKEN in Stuttgart getan. Während sich die CDU und die FDP und anfangs auch die SPD für das Projekt Stuttgart 21 aussprachen, waren die Grünen von Beginn an entschlossene Gegner des Großprojekts. Hierdurch wurden sie zu verlässlichen Partnern der Bewegung auf der parlamentarischen Ebene und konnten die Bewegung mit Fachwissen aus dem politischen Ablauf, aber auch ganz praktisch bei organisatorischen Aufgaben unterstützen.

Protest und Bewegungen sind im Gegensatz zu Parteien und Verbänden durch Spontaneität geprägt, weitaus weniger kalkulierbar und entstehen scheinbar unvorhersehbar. Und doch lassen sich anhand von Verschiebungen im politischen System Gründe ausfindig machen, die erklären, warum Menschen zu einem spezifischen Zeitpunkt motiviert sind, gemeinsam für ihre Interessen einzutreten. Ob sich hier in Stuttgart eine einmalige günstige Gelegenheit für die Entstehung einer starken Protestbewegung ergeben hat oder ob sich im System der Bundesrepublik ein grundlegender Wandel vollzieht, der in Zukunft mehr Proteste erwarten lässt, ist die spannende Frage der kommenden Jahre.

Jonas Rugenstein ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Mitglied der dortigen AG Demokratietheorie, die eine explorative Studie über die Protestierenden in Stuttgart durchgeführt hat. Die Ergebnisse finden sich hier.