Fußball – mehr als ein Spiel?

[präsentiert]: Lars Geiges hat ein Buch über die Entwicklung des Arbeiterfußballs verfasst. Hier fasst er seine zentralen Ergebnisse zusammen.

Kann man dieses Spiel noch Fußball nennen? Ein Spiel, bei dem nicht ausschließlich die Anzahl geschossener Tore zählt. Bei dem Schimpfen und Schreien mit Punktabzügen geahndet werden. Bei dem der gelungene Abspiel, filigrane Ballstafetten und fixe Doppelpässe, kurz: das schöne Spiel mehr zählen als der schnöde Treffer in des Gegners Tor?

Mehr Haltung, weniger Kampf. Dies war eine Überlegung der Arbeiterfußball-Funktionäre Anfang der 1920er-Jahre, die Spielregeln ihres Verbandes zu verändern: Eine Punkte-, statt eine Tore-Wertung sollte her. Die Diskussion hielt gut ein Jahr an, nachzulesen in etlichen Beiträgen der Freien Sportwoche, einer der wichtigsten Arbeitersportzeitungen dieser Zeit. Da hieß es beispielsweise: „Lieber soll das Spiel vor dem Tore etwas an Lebhaftigkeit verlieren; ehe wir die gesunden Knochen der Torwarte in so schwere Gefahr bringen“.

Auch die Antworten druckte die Zeitung in Form vieler Einsprüche kickender Genossen: Zu unübersichtlich, nicht durchsetzbar, zu schwierig für die Schiedsrichter, die damals erstens Mangelware und zweitens ohnehin schon häufiges Ziel von Attacken waren, seien die Empfehlungen „Denn wenn jetzt schon bei der einfachen Wertung die Ausschreitungen gegen den Schiedsrichter und die sonstigen unliebsamen Vorfälle keine Seltenheit sind, so werden sie bei der vorgeschlagenen Wertung immer ekelerregender werden“, hieß es.

Ende 1921 hatte sich diese Debatte erledigt. Man wolle die Regeln beibehalten, dafür aber verstärkt „eine umfassende Erziehung der Spieler“ durchführen, erklärte die Fußballsparte des Arbeiter-, Turn- und Sportbundes (ATSB). Es würde in den Vereinen nämlich zum übergroßen Teil „lediglich gespielt“, statt gleichsam erzogen, beklagte die Freie Sportwoche.

Die Diskussion um die Regeländerung ist nur ein Beispiel für den Umgang der Genossen mit dem Spiel. Der organisierte Fußball innerhalb der Arbeitersportbewegung hatte, so wie alle Sparten des Bundes, vor allem einem Zweck zu dienen: als „Instrument der Befreiung“ helfen, einen neuen, sozialistischen, freien Menschen zu schaffen. Eine für die Bewegung unverrückbare Auffassung, in der – das zeigt diese Arbeit – die Hauptursache für das Scheitern liegt. Denn der Arbeitersport ging von einem irrigen menschlichen Bewegungsbedürfnis aus, deutete den Zweck der (sportlichen) Bewegungshandlung um und oktroyierte dem Sport ein falsches Menschenbild. Zentrale Begriffe wie Leistung, Spiel oder Wettkampf unterlagen einer Umdeutung und beschnitten dadurch den Charakter der Sportspiele im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen auf fundamentale Weise. Einfacher formuliert: Das konnte nicht gutgehen.

Dabei war das Organisationssystem weitgehend stabil. Es gab Meisterschaften, Länderspiele, gar Europaspiele und Arbeiterolympiaden, bei denen Fußball gespielt wurde. Doch der organisierte Arbeiterfußball hatte einen erheblichen Startnachteil. Denn Fußball war ein von den Klassenkämpfern lange Zeit wenig geliebtes Spiel. Bis nach dem Ersten Weltkrieg galt das Balltreten als gänzlich unproletarisch. Viel zu individualistisch, zu leistungsorientiert, zu körperbetont sei dieses Spiel. Es fördere kompromissloses Konkurrenzdenken, wobei einzelne Spieler hervorgehoben würden, was wiederum dem Egoismus Vorschub leiste. Starkult war verpönt und Fußball als „English Sport“ verlacht, den Studenten und Gymnasiasten vorbehalten. Zum Vergleich: Der große Gegner, der „unpolitische“ Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte sich bereits im Jahr 1900 gegründet, begann also gut zwanzig Jahre früher, eine eher offene Vereins- und Spielkultur zu organisieren.

Ohnehin war die Konkurrenz groß. In der zersplitterten Struktur der deutschen Sportverbände in den Weimarer Jahren buhlten neben DFB und ATSB außerdem noch die national-konservative Deutsche Turnerschaft, die katholische Deutsche Jugendkraft (DJK), deren protestantisches Pendant vom Eichenkreuz, diverse Werk- und Firmensportvereine sowie ab 1928 der kommunistische Rotsportverband um Fußballer. Untereinander waren sich die Verbände spinnefeind.

Wer sich die Arbeitersportzeitungen dieser Zeit durchsieht, stößt immer wieder auf die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner: „den Bürgerlichen“, dem DFB. Deutlich wird die verzweifelte kämpferische Aussichtslosigkeit.

Zum Beispiel in puncto mediale Öffentlichkeit: Der DFB versuchte, wenn auch verhalten, bereits die ersten Spiele im Radio zu übertragen, hatte Vereine, die große Zuschauertribünen für mehrere zehntausend Zuschauer bereitstellten und Zeitungen wie etwa den Kicker, die berichteten. Sport war da längt ein Massenphänomen geworden.

Anders die Arbeiterfußballer. In den Zeitungen finden sich keine Fotos, keine Ergebnisse, keine Tabellen. „Das Spielresultat spielt ein ganz untergeordnete Rolle“, lautete die Vorgabe. Wann sich ein Spieler verletzte, wann die Tore fielen oder wer vom Platz gestellt wurde, galt als nebensächlich. Und eine Uhr bräuchte man nicht für einen guten Fußballbericht, schrieb die Freie Sportwoche 1927. Das Blatt verzichtete noch bis Ende desselben Jahres gänzlich auf Namensnennung der Spieler. Die Bedingungen waren also schwierig, die Sorgen groß. Denn wegen schlechter Schulbildung konnte die Arbeiterschaft obendrein „herzlich wenig federgewandte Genossen aufweisen“, hieß es. Daher die Feststellung: der bürgerliche Sport sei darin glücklicher.

Hinzu kam, dass der DFB Anfang der 1920er von zahlreichen sportpolitischen Initiativen zur sogenannten „Wiederherstellung der Volksgesundheit“ nach dem Ersten Weltkrieg profitierte. Die Fußballlehrerausbildung wurde unterstützt, DFB-Vereine erhielten Steuernachlass und bekamen vielfach Spielflächen von den Kommunen geschenkt. Bahnreisen, Sportstätten, Vergnügungssteuer – überall wurde der DFB gefördert, der Arbeitersport nicht. Schon aus diesen wirtschaftlichen Gründen, womöglich ausschließlich deshalb, hielt der DFB am Amateurprinzip fest, das ihm gestattete, den Status der Gemeinnützigkeit zu genießen.

Schon ab 1926 merkte der ATSB, wie groß die Anziehungskraft des DFB auf die Fußball spielenden Arbeiter war. Immer wieder beklagt sich der Bund über die „verirrten Genossen“, die sich „gedankenlos den Flötentönen nationaler Rattenfänger“ hingäben: Die Spieler gingen für einen Arbeitsplatz, eine bessere Wohnung und schlicht, um in einer besseren Mannschaft zu spielen, zum DFB Die Zuschauer gingen wegen des Spektakels. Im Jahr 1928 notiert die Freie Sportwoche, dass das „Proletariat das Hauptpublikum“ des DFB stelle, was das Blatt wütend kommentierte: „Sind Sie beglückt, mit Akademikern, Fabrikdirektoren und anderen Klassengegnern in Harmonieduselei zu machen?“

Im Sommer 1932 fand das letzte Endspiel im ATSB-Fußball statt. Es ging um die 13. Bundesmeisterschaft. Im selben Jahr feierte ein gewisser FC Bayern München seine erste Deutsche Meisterschaft im DFB. Das Spiel der Bayern sahen 40.000 Zuschauer. Beim Arbeiterfußball-Finale waren gerade einmal 7.500 Anhänger zugegen. Ein Ende hatte sich da bereits abgezeichnet. Knapp ein Jahr später zerschlugen die Nazis endgültig alle Arbeiterorganisationen.

Lars Geiges ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Mehr Informationen zum Buch:

Lars Geiges: Fußball in der Arbeiter-, Turn- und Sportbewegung. Ein zum Scheitern verurteiltes Spiel?
Göttinger Junge Forschung 11, ibidem-Verlag, Stuttgart 2011