Fummeln wird nicht helfen

[kommentiert]: Stephan Klecha zur Debatte um Prozenthürden bei der Europawahl.

Man sollte als Politikwissenschaftler vorsichtig sein, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder Gesetzesinitiativen zu bewerten. Wenn man sich allerdings ein weniger näher mit dem Wahlrecht auseinandergesetzt hat und einigermaßen in hermeneutischer Deutung geübt ist, fällt es einem jedoch schwer, sich bei der nun geplanten Reform des Europawahlrechts zurückzuhalten. Der Hintergrund ist recht schnell erläutert: Das Bundesverfassungsgericht hat 2011 die bisher geltende Fünfprozenthürde bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Damit korrigierten die Richter eine frühere Rechtsprechung. Immerhin zehn Prozent der Wählerstimmen waren bei der Europawahl 2009 durch die bisherige Regelung letztlich unter den Tisch gefallen und hätten bei Nichtexistenz einer Sperrklausel Parteien wie NPD, Piraten oder Tierschutzpartei einen oder zwei Mandatsträger zulasten der etablierten Parteien beschert. Die davon betroffenen Parteien – CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP – setzen nun für die Europawahl 2014 auf eine Dreiprozentklausel. Bei einem Übertrag des Ergebnisses von 2009 hätte sich dann aus ihrer Sicht nichts geändert.

Nun ist es tatsächlich keineswegs so, dass das Verfassungsgericht eine Sperrklausel grundsätzlich ablehnt. Die europäischen Verträge lassen eine solche Regelung sogar ausdrücklich zu, verweisen dabei jedoch auf nationale Wahltraditionen; dementsprechend kommt es auf den Prüfungsmaßstab an, den das Grundgesetz anlegt – und dieses stellt hohe Anforderungen, um von der gleichen Stimmengewichtung abzuweichen.

Das heißt, es braucht einen plausiblen Grund, um eine Sperrklausel überhaupt zu erheben und um ihre Höhe festzulegen. Um die Begründung verfassungsfest werden zu lassen, kommt es auf die realen Verhältnisse an – und zwar nicht nur auf die deutschen, sondern auf die europäischen insgesamt. Denkbar wäre demnach eine Sperrklausel, sobald die Arbeitsfähigkeit des Parlaments gefährdet wäre. Das ist der ausschlaggebende Grund, warum die Sperrklauseln für Bundestags- oder Landtagswahlen Bestand haben. Die Parlamente müssen arbeitsfähig sein, bilden ihre Fraktionen auf der Grundlage der von den Parteien eingereichten Wahlvorschläge und sollen vor allem eine möglichst mehrheitsfähige Regierung ins Amt bringen.

Foto: rudolf ortner / pixelio

Davon weicht das Europäische Parlament jedoch in einigen Dimensionen ab: Im Europäischen Parlament gibt es zum einen eine Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen, die in der Regel auch stabile Mehrheiten gewährleisten. Dabei sind die Fraktionen keine Zusammenschlüsse nur einer Partei, sondern mehrerer Parteien aus unterschiedlichen Ländern. Die Fraktionen stimmen sich ihrerseits nicht so kohärent ab, wie das auf nationaler Ebene der Fall ist, mithin muss im Parlament ohnehin ein übergreifender Konsens erzielt werden.

Zum anderen ist das Europäische Parlament nicht gezwungen, eine Regierung zu stützen, sondern besitzt Mitwirkungsrechte bei Investitur und beim Sturz der Kommission; dagegen gibt es keine Aktionseinheit aus Parlamentsmehrheit und Regierung, wie sie für parlamentarische Regierungssysteme konstitutiv ist. Deren Fehlen war auch ein tragender Grund dafür, dass Bundes- wie Landesverfassungsgerichte die Sperrklauseln bei Kommunalwahlen nach der Einführung von Bürgermeisterdirektwahlen fast flächendeckend zu Fall gebracht haben.

Auf diese Unterschiede weist auch das Verfassungsgericht hin und macht deutlich, dass es aus Sicht der Arbeit im Europäischen Parlament letztlich egal sei, ob Deutschland nun einigen Kleinparteien Sitze zuteilt oder nicht. Vielmehr habe es trotz der zahlreichen Erweiterungsrunden keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit gegeben, gerade weil die Fraktionsarbeit im Parlament stabil eine hinreichende Effektivität gewährleiste und gerade weil es einen hinreichenden mehrheitsfähigen Grundkonsens zwischen den beiden großen Fraktionen gebe, die ihrerseits aber keinen Anspruch hätten, ihren Status dauerhaft zu schützen. Fasst man diese Bewertungen zusammen, so gibt es also bislang keinen Grund, der eine Sperrklausel rechtfertigen würde – weder in Höhe von fünf noch in Höhe von drei Prozent.

Und so braucht man auch kein Prophet zu sein, um mit großer Gewissheit anzunehmen, dass eine derartige Änderung des Europawahlrechts mit Sicherheit in Karlsruhe landen würde. Außerdem ist es nicht ganz unrealistisch, dass die Richter die gewählte Regelung kippen werden. Die Folge wäre aus Sicht der etablierten Parteien wohl fatal, so kurz vor der Europawahl im Mai 2014 gäbe es dann keine Möglichkeit mehr, eine andere Regelung zu treffen. Die Parteien hätten ihr Ziel schließlich in anderer Form erreichen können, wenn sie eine konsequente Föderalisierung des Europawahlrechts vorgenommen hätten. Mit getrennten Wahlgebieten, wie sie etwa in Belgien existieren, wären faktische Sperrklauseln entstanden. Sie hätten den Effekt der Zersplitterung durch den Übergang zum Zuteilungsverfahren von d’Hondt vermindern können. All das wird sich nach einem neuerlichen Richterspruch angesichts der zeitlichen Abläufe zur Wahl 2014 nicht mehr korrigieren lassen. Zu allem Überfluss würden die Kleinparteien so eine nie zuvor dagewesene Aufmerksamkeit erhalten. Kurzum, die Fummelei am Wahlrecht dürfte nicht den gewünschten Effekt bringen.

Dr. Stephan Klecha ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.