Mit Spannung werden in Frankreich die Kommunalwahlen am 15. und 22. März 2020 erwartet. Obwohl es sich „nur“ um lokale Wahlen handelt – in den knapp 30.000 Kommunen werden die Bürgermeister*innen sowie die Stadt- und Gemeinderät*innen gewählt –, werden die nationalen Parteiführungen die Ergebnisse mit Argusaugen verfolgen.
Vor allem für die Partei von Staatspräsident Emmanuel Macron steht viel auf dem Spiel: La République En Marche (LaREM) verfügt auf lokaler Ebene über fast keine Bürgermeister*innen und Mandatsträger*innen, da die letzten Kommunalwahlen vor der Parteigründung stattgefunden haben. Die Parteistrateg*innen hatten daher gehofft, dass die Kommunalwahlen die bisher fehlende territoriale Verankerung in die Wege leiten würden. Doch nachdem sich in den vergangenen Monaten mehr und mehr abgezeichnet hatte, dass häufig den bisherigen Amtsinhaber*innen, die nicht LaREM angehören, gute Chancen auf eine Wiederwahl zugerechnet werden, entschied sich die Partei, in vielen Fällen scheidende Kandidat*innen anderer Parteien zu unterstützen, die als „Macron-kompatibel“[1] gelten. Der Großteil der von LaREM protegierten Listenanführer*innen gehört den Republikanern an, alle anderen der Sozialistischen Partei (PS) oder einer der Zentrumsparteien.
Zwar hat LaREM im Gegenzug Listenplätze für die eigenen Kandidat*innen bekommen, aber ein Wahlsieg rückt durch diese Übereinkünfte in weite Ferne. Dazu könnten auch die zahlreichen dissidentischen Kandidaturen beitragen: In rund dreißig Städten treten zwei LaREM-Mitglieder gegeneinander an, so etwa in Lyon: Um den Vorsitz der mächtigen Metropolregion konkurrieren der jetzige Amtsinhaber David Kimelfeld sowie sein Vorgänger und ehemalige Innenminister unter Macron, Gérard Collomb. Hinzu kommt eine weitere schwere Hypothek: In ca. zwanzig Städten hat sich der nationale Bündnispartner von LaREM, die Zentrumspartei Mouvement démocrate (MoDem), mit den Republikanern zusammengeschlossen, darunter in Bordeaux, Marseille und Toulouse.
Vor diesem diffizilen Hintergrund für die Präsidentenpartei gehen Meinungsforschungsinstitute gegenwärtig sogar davon aus, dass LaREM bei den Kommunalwahlen lediglich auf den vierten Platz kommen könnte. „Das kann Emmanuel Macron nur schwächen“, so der Politikwissenschaftler Frédéric Dabi.[2] Vieles wirkt sich momentan negativ auf Macrons Beliebtheitswerte und das Ansehen seiner Partei aus, seien es die Gelbwestenbewegung[3] und die in weiten Teilen der Bevölkerung unpopuläre Rentenreform, sei es das Etikett „Präsident der Reichen“, das dem Staatspräsidenten anhaftet: Die Kommunalwahlen dürften für LaREM somit eine Sanktionsabstimmung werden. Die Strateg*innen im Elysée-Palast befürchten sogar schon, dass Macron es bei den Präsidentschaftswahlen 2022 nicht in den zweiten Wahlgang schaffen könnte, sollte er noch einmal antreten.
Sehr viel setzen dagegen die Grünen in die Kommunal- wie auch bereits in die Präsidentschaftswahlen. Beflügelt von ihrem guten Abschneiden bei der Europawahl 2019, der allgemeinen Klimaschutzdebatte und der Schwäche ihrer linken Konkurrenten (vor allem die PS und die linkspopulistische Bewegung La France insoumise), haben sie ihre Krise[4] überwunden und rechnen nun damit, zukünftig weitere Bürgermeister*innen größerer Städte zu stellen. Bisher amtiert in Grenoble ein grüner Bürgermeister; eine Wiederwahl ist wahrscheinlich. Aber auch in Besançon, Bordeaux, Rouen, Straßburg und anderen größeren Städten haben Kandidat*innen von Europe Écologie-Les Verts, wie die Grünen in Frankreich heißen, gute Chancen, bald die Stadtspitze zu bilden – eine „grüne Welle“[5] sei möglich, wie es Le Monde kürzlich ausdrückte. Dies würde dem Parteivorsitzenden Yannick Jadot, der aus seinen Präsidentschaftsambitionen keinen Hehl macht, kräftigen Rückenwind verleihen.
Ähnlich sieht Marine Le Pen die Ausgangslage für sich und ihre Partei, das Rassemblement National (RN, vorher Front National). Nachdem der FN bereits bei den Kommunalwahlen im Jahr 2014 etwa ein Dutzend Bürgermeisterposten gewonnen hatte, erwartet Le Pen nun, zukünftig weitere Stadtoberhäupter stellen zu können z. B. im südfranzösischen Perpignan. Programmatisch setzt sie im Wahlkampf vor allem auf das Konzept des „Lokalismus“. „Lokalismus“ meint dabei u. a., dass regionale Produkte gegenüber importierten Lebensmitteln bevorzugt werden, Machtbefugnisse eher den Bürgermeister*innen und Bewohner*innen als den interkommunalen Gebietskörperschaften zufallen und Stadtviertel kulturelle Zentren bilden. Die Großstädte stellt das RN demgegenüber als Orte dar, die die Einwohner*innen ihres Menschseins berauben und zur baulichen Gleichförmigkeit sowie zur kulturellen Monotonie beitragen.
Mit diesem Konzept will das RN die Wähler*innen in ländlichen Gebieten und kleineren sowie mittleren Städten ansprechen. Das Ziel von Marine Le Pen besteht in diesem Zusammenhang darin, die lokale Verankerung als „Stützpunkt“ und „Startrampe“ für einen Sieg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu nutzen, wie es der Politologe Jérôme Fourquet ausdrückt.[6] Sein Kollege Pascal Perrineau spricht auch von einer „Strategie von unten nach oben“[7]. Als einzige hat in der Tat bisher nur Marine Le Pen ihre Kandidatur im Jahr 2022 erklärt – zweieinhalb Jahre vor dem Urnengang.
Weniger weitblickend als die Grünen und die Rechtsextremen sind momentan sowohl die Republikaner als auch die Sozialisten. Nach ihrem schlechten Abschneiden bei den Präsidentschafts-, Parlaments- und Europawahlen steht für beide Parteien derzeit im Mittelpunkt, bei den Kommunalwahlen möglichst viele Posten und Mandate zu behalten und neue hinzuzugewinnen. Für die Republikaner[8] wie auch die Sozialistische Partei[9] geht es regelrecht um das parteipolitische Überleben: Eine weitere Niederlage würde ihre tiefe Krise verschärfen. Beide Parteien haben in den vergangenen Jahren den Großteil ihrer Mitglieder verloren; statt mit überzeugenden inhaltlichen Alternativen zur Regierungspolitik machen sie mit ihrer Zerstrittenheit und Orientierungslosigkeit auf sich aufmerksam. Hinzu kommt, dass sowohl den Republikanern als auch den Sozialisten charismatische Führungsfiguren auf nationaler Ebene und engagierte Mitglieder an der Basis fehlen, die die Wahlkämpfe ihrer Parteien stemmen. Vor diesem Hintergrund wäre für die beiden einstmals großen Parteien, die die politische Landschaft Frankreichs über fünfzig Jahre strukturiert haben, ein schlechtes Abschneiden bei der Kommunalwahl keine gute Ausgangsbasis für die nächsten Wahlen – im September 2020 stehen noch die Senatswahlen an, 2021 Departments- und Regionalwahlen, ehe im April 2022 mit den Präsidentschaftswahlen die zentrale Wahl erfolgt.
Alles in allem zeigt sich vor den Kommunalwahlen also ein stark fragmentiertes Parteiensystem: Die Wahlallianzen sind von Stadt zu Stadt unterschiedlich und durchbrechen häufig das traditionelle Rechts-Links-Cleavage. Man darf gespannt sein, wie die Wähler*innen auf dieses „Durcheinander“[10] reagieren.
[1] Lemarié, Alexandre/Pietralunga, Cédric: La République en marche craint la déroute aux municipales, in: Le Monde, 10.10.2019. Bei dieser und allen weiteren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche handelt es sich um Übersetzungen durch die Verfasserin.
[2] Zit. nach Lemarié, Alexandre: Municipales: vers une „bérézina“ pour LRM, in: Le Monde, 28.02.2020.
[3] Vgl. dazu Meinhardt, Anne-Kathrin: Akt 5 der gilet jaunes – Ende des Dramas?, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 14.12.2018, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/akt-5-der-gilet-jaunes-ende-des-dramas [eingesehen am 02.03.2020].
[5] Mestre, Abel/Zappi, Sylvia: Poussée verte avant les municipales, in: Le Monde, 19./20.01.2020.
[6] Fourquet, Jérôme: „La France du Boncoin“ contre „la France d’Amazon“, in: Le Point, 30.01.2020, S. 41 f., hier S. 41.
[7] Perrineau, Pascal: La „stratégie du bas vers le haut“, in: Le Point, 30.01.2020, S. 42.
[8] Zu ihrer Krise vgl. auch Nentwig, Teresa: Sarkozy-Partei: Von der UMP zu den „Republikanern“, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 05.06.2015, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/sarkozy-partei-von-der-ump-zu-den-republikanern [eingesehen am 02.03.2020].
[9] Zu ihrer Krise vgl. auch Nentwig, Teresa: Auf eine Nebenrolle reduziert. Die Parti socialiste in Frankreich, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 7 (2018), H. 3, S. 98–107.
[10] So der Politikwissenschaftler Rémi Lefebvre. Zit. nach Flandrin, Antoine: „Il y a une ‚écologisation‘ des politiques urbaines“, in: Le Monde, 29.02.2020.