Euro-Fluch und Euro-Segen

[analysiert]: Matthias Micus über Angela Merkels Führung in der europäischen Währungskrise

Ihr lavierendes Vorgehen in der Eurokrise und im Überwachungsskandal hat Angela Merkel in den letzten Monaten viel Kritik eingetragen. Zumeist wurden dabei bereits bekannte Einwände gegen ihre Führung vorgebracht. So monierte beispielhaft der Herausgeber des Freitag, Jakob Augstein, den Wertemangel und die prinzipienlose Erfolgsfixierung der Bundeskanzlerin. Zwar habe sie, die Unbestimmbare, Diffuse, Richtungslose, von Helmut Kohl das Aussitzen gelernt, auch den starken Willen teile sie mit ihrem Vorvorgänger, doch was die westliche Demokratie ausmache, das habe die Ostdeutsche Merkel nicht verstanden. „Für den Machterhalt verbraucht die Kanzlerin andauernd demokratische Substanz, deren Erneuerung sie selber nicht gewährleisten kann. Das war in der Euro-Krise so. Das ist im Überwachungsskandal so.“[1] Und Nikolaus Blome, Leiter des Berliner Büros der Bild-Zeitung, konstatiert, „‚Angela Merkel‘ (sei) in Wahrheit ein anderes Wort für ‚offene Fragen‘“[2].

Dennoch lassen sich mit Blick auf die Biographie der Kanzlerin einige Feststellungen treffen. So hat Merkel im politischen System der Bundesrepublik als Außenseiterin Karriere gemacht. Als Frau, Physikerin und Ostdeutsche wies (und weist) sie gleich drei für die westdeutsche Spitzenpolitik ungewöhnliche Merkmale auf. Vielfach hingewiesen ist auch auf ihre fehlende Basisverankerung in der CDU, die Ermangelung einer ernst zu nehmenden Hausmacht und die Nichteinbindung in Karrierenetzwerke.[3] Eben dies gereichte (und gereicht) ihr nun aber paradoxerweise zum Vorteil – in Situationen, in welchen zum einen der Parteiendemokratie im Allgemeinen immer weniger Vertrauen entgegengebracht wird und in denen zum anderen die CDU in den Jahren 1999 und 2000 im Speziellen, gebeutelt durch die Spendenaffäre des Helmut Kohl, nach unbelasteten Köpfen suchte.

Als Außenseiterin und Nonkonformistin des Politikbetriebes trug (und trägt) Merkel die Scheuklappen des Systems nicht, in dem sie agiert. Ganz generell erkennen Menschen, die von außerhalb neu in ein System kommen, die Verengungen, Beschränkungen und Ausblendungen, die durch die Einbindung und Anpassung an das System entstanden sind, viel klarer als die Insider.

Es ist dieses Außenseitertum, wodurch CDU-Positionen noch aus dem Mund der frisch gekürten Parteivorsitzenden einstudiert klingen. Versuche, durch Schlagworte wie die Neue Soziale Marktwirtschaft und die ständige Berufung auf Ludwig Erhard an die Geschichte der westdeutschen Christdemokratie anzuknüpfen, versanden daher zwangsläufig sang- und klanglos. Es ist dasselbe Außenseitertum, das Merkels Distanz zu allen Verbindlichkeiten begründet, ihre Bindungslosigkeit. Gertrud Höhler diagnostiziert bei der Bundeskanzlerin einen leidenschaftslosen Umgang mit den politischen Angeboten. Was nicht läuft, wird vom Markt genommen, durch regelrechte Testläufe mit Politikangeboten wird die Akzeptanz des Politischen in der CDU ebenso wie in den anderen Parteien getestet.[4] Und schließlich lässt sich aus der Randstellung, die aus Merkels andersgearteten Prägungen folgt, die Bedeutung von Macht und Machterhalt auf Kosten der überkommenen christdemokratisch-westdeutschen Werte und Prinzipien ableiten. Weshalb denn auch durchaus wohlwollende Kanzlerinnenporträts konstatieren, der rote Faden von Angela Merkels Regieren sei das Regieren.[5]

Die CDU aber ist Merkel fremd geblieben – und umgekehrt. Erstere zog aus der Beinahe-Niederlage bei der Bundestagswahl 2005 die Konsequenz, sich künftig als Präsidial-Kanzlerin zu inszenieren und auf die Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ zu setzen – weil Gerhard Schröder alle Angriffsflächen, die der CDU-Wahlkampf der Ehrlichkeit bot, im Wahlkampf zuvor instinktsicher ausgenutzt und dadurch die CDU an den Rand einer Niederlage geführt hatte. Seitdem bietet die Merkel-CDU möglichst wenige Angriffsflächen und entzieht zugleich jene Themen dem Parteienstreit, aus denen die politischen Gegner Gewinne schöpfen könnten. Seither setzen die Parteivorsitzende und ihre Vertrauten auf ein interpretationsoffenes Sowohl-Als-Auch statt auf ein eindeutiges Entweder-Oder und verabreichen der Bevölkerung sozialpolitische Reformen nur noch in homöopathischen Dosen und in Verbindung mit einem Mehr an Sicherheit.[6] Die meisten christdemokratischen Aktivisten dagegen sind nach wie vor davon überzeugt, dass die CDU an überkommenen familienpolitischen Positionen und konservativen Werthaltungen festhalten sollte. „So wie sie sich jetzt präsentiert“, schlussfolgerte vor einigen Jahren Jacqueline Boysen, „steht Angela Merkel ihrer Partei vor, aber sie steht nicht in ihr.“[7]

Der Substanzverlust der CDU seit dem Amtsantritt Angela Merkels als Parteivorsitzende im Jahr 2000 ist denn auch unübersehbar. Mit den Rücktritten der prominentesten Mitglieder des sogenannten „Andenpaktes“ hat die CDU auch jede Menge Fachkunde verloren, die Diagnose des politischen Substanzverlustes gilt zumal für die mehr oder weniger freiwilligen Weggänge von Friedrich Merz und Roland Koch. Die sogenannte „bürgerliche Mitte“ hat sich weitgehend von der CDU entfremdet, die „gut ausgebildeten, weltläufigen, unideologischen, ungebundenen Produktiven“ haben sich „mit einem Schulterzucken abgewendet“ und gestalten ihr Leben an Staat und Regierung vorbei.[8] Die Konservativen, die insbesondere mit der Familienpolitik fremdeln, fühlen sich in der CDU ebenso wenig aufgehoben wie die jüngeren Jahrgänge, die in der Mitgliedschaft weitgehend fehlen. Auch deshalb geht der CDU seit Jahren schon der Führungsnachwuchs aus, erst recht sucht man starke und eigenwillige Parteicharaktere mittlerweile vergeblich.

Schließlich: Zwischen Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin und dem Jahresanfang 2013 verlor die CDU rund 70.000 Mitglieder und schrumpfte von gut 550.000 auf 484.000. Von anfangs zehn Ministerpräsidenten sind heute nur noch fünf übrig geblieben, bei sechs Landtagswahlen während Merkels zweiter Amtszeit seit 2009 blieb die CDU unter 30 Prozent, in keiner erreichte sie mehr als 40 Prozent. „Oben bei der CDU“, resümiert Nikolaus Blome, „sitzt Merkel fest im Sattel. Unten blutet sie aus.“[9] Wenig verwunderlich daher, dass die Faust in der Tasche regelrecht zum Dauermotiv der Geführten unter Merkel geworden ist. Ignoriert sie doch systematisch die begrenzte Leidensfähigkeit von Parteien. Diese aber „funktionier(en) wie ein lebendiger Organismus mit einer verletzbaren Seele und möchte(n) auch so behandelt werden“[10]

Dennoch ist auch die Forderung nach Kontroverse, Konflikt und Stimmung in der Politik mindestens ambivalent, zumal die Glaubwürdigkeit einer Strategie der Polarisierung auch von den Spitzenkandidaten und der herrschenden Koalitionskonstellation abhängt. Politiker, die zu leidenschaftsloser Vermittlung und vernunftbasierter Nüchternheit neigen, kann man nicht authentisch als brandredende Feuerköpfe inszenieren. Und wenn die beiden Volksparteien in einer Großen Koalition miteinander regieren, können sich die Spitzenkandidaten nachmittags nicht überzeugend attackieren, wenn sie noch vormittags einvernehmlich Entscheidungen getroffen haben.

Und womöglich ist das Unerklärte, Zögerliche, Hyperpragmatische bei Merkels Führungsstil ein Vorzug gerade in der Eurokrise. Diese Krise mit ihren Entwicklungen, die angesichts der Größenordnungen den Menschen die Sprache verschlagen, die Angst machen, auch von den Fachleuten in ihren Wechselwirkungen, Weiterungen und Dimensionen gar nicht abzuschätzen sind und bei denen man infolgedessen verantwortungsbewusst gar nicht anders als „auf Sicht“ fahren kann. Diese Entwicklungen rufen geradezu nach einer „nüchtern-rationale(n) Pragmatikerin, die ihr Land ohne großes Getue durch die Krise führt“ und dies „mit Geduld und Zähigkeit und ohne testosterongesteuerte Risikofreude“[11]. Mehr noch: Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise hat Merkel ihr historisches Motiv erhalten. Die Opposition ist weitgehend ausgeschaltet, da die Rettungspolitik aus deutscher Sicht zwingend erscheint, weshalb die Kanzlerin in dieser Frage kaum parteipolitische Widerstände erfährt. Und einen exekutiven Augenblick beschert die Euro-Krise der Kanzlerin außerdem, eine Zeit der Regierungschefs in Europa – nicht der Kommission und auch nicht der Parlamente.[12]

Vielleicht kann man in Zeiten der Pluralisierung, Individualisierung und Viel-Parteien-Parlamente gar nicht mehr anders reagieren. Schließlich lassen sich Machtworte zwar leicht einfordern, diese sind aber aufgrund der Politikverflechtung des bundesdeutschen politischen Systems gar nicht ohne weiteres möglich. Hinzu kommt: Politiker sollen einerseits handlungsfreudig sein, andererseits aber schützt Merkel gerade ihr Zaudern „vor jener Dauerkritik, die den Täter begleitet“[13]. Die vermeintlich überparteiliche Beobachterin Merkel lässt sich nicht verstricken und indem sie nicht verstrickt wird, kann sie sich nie verspäten und jede umstrittene Position als Ballast umstandslos über Bord werfen.[14]

Doch ist Merkels Alternativlosigkeitsrhetorik andererseits nicht gefahrlos, so angemessen sie angesichts der Euro-Krise erscheinen mag und so sehr sie von der Wählermehrheit geschätzt wird. Schließlich beinhaltet die Behauptung von Naturgesetzen politischen Handelns und Unterlassens auch das Eingeständnis, dass politisch nichts mehr zu bewirken ist. Und die Kehrseite dieser offiziellen Rede von der Alternativlosigkeit sind dann eben eine grassierende Sehnsucht nach neuer Lebendigkeit, Wärme, Frische an den Rändern des Parteienspektrums und der trotzige Ruf nach nicht-etablierter Spontaneität und antielitärer Naivität, der allen früh erkennbaren Defiziten zum Trotz zuletzt die Piratenpartei eine Zeitlang getragen hat.

Dr. Matthias Micus arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zuletzt erschien von ihm: „Von Beruf: Politiker“ (gemeinsam mit Robert Lorenz).


[1] Jakob Augstein, Die kleine Kanzlerin, in: Spiegel online, 22.07.2013, online einsehbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/augstein-kolumne-zu-merkel-in-der-nsa-affaere-die-kleine-kanzlerin-a-912339.html (zuletzt eingesehen am 30.07.2013).

[2] Nikolaus Blome, Angela Merkel. Die Zauder-Künstlerin, München 2013, S. 9.

[3] Vgl. hierzu und im Folgenden Cora Stephan, Angela Merkel. Ein Irrtum, Tb-Ausgabe, München 2012, S.70 ff.

[4] Gertrud Höhler, Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut, Zürich 2012, S.19ff.

[5] Nikolaus Blome, Angela Merkel, a.a.O., S.103.

[6] Ebd., S.148.

[7] Jacqueline Boysen, Angela Merkel. Eine deutsch-deutsche Biographie, München 2001, S.228.

[8] Cora Stephan, Angela Merkel, a.a.O., S.39.

[9] Nikolaus Blome, Angela Merkel, a.a.O., S.109.

[10] Evelyn Roll, Die Kanzlerin. Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin 2009, S.363.

[11] Cora Stephan, Angela Merkel, a.a.O., S. 9.

[12] Vgl. Stefan Kornelius, Angela Merkel. Die Kanzlerin und ihre Welt, Hamburg 2013, S.10 ff.

[13] Gertrud Höhler, Die Patin, a.a.O., S. 19.

[14] Vgl. ebd., S.39.