Erziehung zum Sozialismus

[Göttinger Köpfe]: Jonas Rugenstein über Minna Specht

Im Jahr 1912 befindet sich Minna Specht in einer persönlichen Krise. Ihre Gefühlslage, die sie selbst als „hilflos und hoffnungslos“ beschreibt, manifestiert sich in einem physischen Leiden. Die damals 32-jährige Lehrerin scheint unter einer Sinnkrise zu leiden, die mit dem Eindruck der wissenschaftlichen Unzulänglichkeit und dem Wunsch nach persönlicher Vervollkommnung zusammenhängt. Trotz abgeschlossenen Studiums der Geschichte, Geographie und Philosophie wird sie immer noch von dem Gefühl getrieben, zu tiefergehender Erkenntnis kommen zu wollen, einen eigenen politischen Standpunkt zu entwickeln und eine exakte Wissenschaft zu erlernen. Dieser Wunsch führt Minna Specht ein zweites Mal – sie hatte auch ihr erstes Studium hier absolviert – nach Göttingen, um Mathematik zu studieren.

Der erneute Aufbruch nach Göttingen verweist auf einen wichtigen Wesenszug Minna Spechts: Stets ist sie getrieben von dem Wunsch, sich weiterzuentwickeln und besser zu werden. Diese ständige Suche ist verbunden mit Zielstrebigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Ohne diese besonderen Eigenschaften wäre sie vielleicht dem Weg ihrer Geschwister gefolgt und hätte ihr bürgerliches Leben weitergeführt. Ein Leben, wie sie es während ihrer unbeschwerten Kindheit in Reinbeck bei Hamburg, die lediglich vom frühen Unfalltod ihres Vaters überschattet wurde, kennengelernt hatte. So aber geht sie, die jüngste von sieben Töchtern, einen anderen Weg und wird Lehrerin. Mit der Enge und der formalen Art der staatlichen Erziehungseinrichtungen kann sie sich nie anfreunden. Nach dem Probeunterricht in einer Klosterschule in Hamburg, den sie als so unerträglich empfand, dass sie sich von ihm befreien lässt, steht für sie fest, dass sie nie an einer staatlichen Regelschule unterrichten will. Die Lust am Lehren entdeckt sie erst, als sie an einer privaten Töchterschule den Unterricht nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten darf.

Das Studium der Mathematik schließt Minna Specht 1914 mit „sehr gut“ ab und macht noch im selben Jahr die Bekanntschaft mit dem Philosophen und Privatdozenten Leonard Nelson, die ihren weiteren Lebensweg verändern sollte. Nelson verkörpert genau das, was Minna Specht gesucht hatte: den Anspruch auf exakte Wissenschaft und einen hiermit aufs engste verbundenen fundierten politischen Standpunkt. Zwischen beiden entwickelt sich in den folgenden Jahren eine enge Beziehung, die über das gemeinsame Arbeiten hinausging.

Nelson war Vertreter einer ethischen Variante des Sozialismus. In Abgrenzung zum klassischen Marxismus, aber auch zur Weimarer Demokratie, plädierte Nelson für einen Aufbau der Gesellschaft gemäß den objektiven und allgemeingültigen Regeln der Vernunft. Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit waren nach Nelson objektive Grundsätze für die menschliche Gemeinschaft, die für jeden Menschen einsichtig aus der Vernunft hervorgehen. So war Nelson der Ansicht, dass die Umsetzung des vernunftgeleiteten Sozialismus von einer kleinen, durch spezielle Erziehung zu Erkenntnis der objektiven Prinzipien befähigten Gruppe junger Menschen geschehen solle. Der Schlüssel zur gesellschaftlichen Veränderung war demnach die Erziehung.

Der Aufgabe, eben diese Elite vernunftgeleiteter, tüchtiger und revolutionärer junger Menschen auszubilden, verschreibt sich Minna Specht in den folgenden Jahren. Hierzu gründet sie 1917 zusammen mit Leonard Nelson den Internationalen Jugendbund (IJB), dessen engerem Führungskreis sie angehörte. Dieser Kreis wohnte und arbeitete gemeinsam in Nelsons Haus im Nikolausberger Weg 61. Die Mitglieder der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft unterlagen dabei den strengen Regeln ihres Vorsitzenden Nelson. Disziplin, Pünktlichkeit, Enthaltsamkeit gegenüber Fleisch, Alkohol und Nikotin ebenso wie die Einhaltung des Zölibats bildeten die von Nelson aus der Theorie abgeleiteten und konsequent in der Praxis angewandten Grundregeln des Zusammenlebens. Minna Specht fungiert dabei als ausgleichendes Gegengewicht zu Nelsons Disziplin.

Minna Specht war nicht nur eine der Hauptpersonen innerhalb des IJB, sondern gründete ebenfalls zusammen mit Nelson die Philosophisch-Politische Akademie, an der die theoretischen Überlegungen für die politische Tätigkeit weiter vertieft werden sollten. Minna Specht war in ihren Göttinger Jahren vielfältig engagiert. Sie arbeitete in der USPD mit, war Mitglied des sozialistisch-dissidentischen Lehrer-Kampfbundes und des Verbandes für Freidenkertum und Feuerbestattung. Wichtiger Schwerpunkt war neben ihrer Erziehungsarbeit für den Sozialismus das Engagement für die Jugendweihe und der Einsatz gegen den Einfluss der Kirche. Außerdem setzte sie sich für die Frauen- und Friedensbewegung ein. Als der IJB 1925 aus der SPD, an die er ursprünglich angebunden war, ausgeschlossen wird, wandelt sich der Jugendbund in eine eigenständige Partei, den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK). Neben Nelson, der als unangefochtener Vorsitzender der Partei fungiert, teilt sich Minna Specht zusammen mit dem späteren SPD-Vorstandsmitglied Willi Eichler und dem bulgarischen Philosophen Zeko Torbov den Vorstand. Als Nelson im Jahre 1927 im Alter von 45 Jahren stirbt, tritt Minna Specht seine Nachfolge als Leiterin der Philosophischen Akademie an und erhält hierdurch weitreichenden Einfluss auf den ISK.

Die Hauptwirkungsstätte von Minna Specht liegt jedoch ab 1924 nicht mehr in Göttingen, sondern in dem Landerziehungsheim Walkemühle bei Melsungen. In dieser kleinen reformpädagogischen, stark von der Landschulbewegung beeinflussten Einrichtung sollte der Nachwuchs für den ISK, die neuen Vernunftsozialisten, ausgebildet werden. Unter der Leitung von Minna Specht wurden, neben einer eigenen Abteilung für Grundschulkinder, ungefähr dreißig junge Erwachsene, die vornehmlich aus Arbeiterhaushalten stammten, in dreijährigen Kursen für die praktische politische Arbeit ausgebildet. Die Ausbildung verlief dabei nach den gleichen strengen Regeln wie das Zusammenleben in Göttingen und bestand aus einem breit gefächerten theoretischen Teil und aus praktischen, handwerklichen Aufgaben.

Als die Bedrohung durch den Nationalsozialismus wächst, wird die Erwachsenenabteilung der Schule 1931 geschlossen, um alle Kräfte auf die antifaschistische Arbeit zu konzentrieren. Minna Specht zieht nach Berlin, um an der ISK-Zeitung Der Funke mitzuwirken und für die Einheitsfront, ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Faschismus, zu werben. Erfolglos setzt sich Specht für den Erhalt der Walkemühle ein, die 1933 von der SA endgültig geschlossen wird. Anders als viele ihrer Genossinnen und Genossen geht Minna Specht nicht in den aktiven Widerstand, sondern setzt ihre pädagogische Arbeit ab 1933 im dänischen und ab 1938 im englischen Exil fort. Gestärkt von der politischen Beständigkeit und Disziplin der Zeit in Göttingen gelingt es ihr trotz widrigster Umstände, immer wieder als Erzieherin tätig zu werden. In Dänemark gründet sie ein kleines Landschulheim für Kinder deutscher Antifaschisten und Emigranten. In England setzt sie sich im German Educational Reconstruction Committee, einem Projekt verschiedener sozialistischer Organisationen, mit der Frage auseinander, wie die Erziehung der Kinder in Deutschland nach dem Nationalsozialismus ablaufen könnte. In dieser Zeit verfasst sie ihr wohl bedeutendstes Werk: Gesinnungswandel. Die Erziehung der deutschen Jugend nach dem Weltkrieg.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrt sie zurück nach Deutschland und engagiert sich im Wiederaufbau des durch den Nationalsozialismus zerstörten Landes. Die Charakterstärke und Tatkraft, die maßgeblich während ihrer Zeit in Göttingen geprägt worden waren, wirken dabei immer noch nach. Von der unbedingten Einhaltung disziplinierender Regeln, der asketischen Strenge und auch der konsequenten Kritik an der Kirche entfernt sie sich jedoch immer mehr. Ziel ihrer Arbeit wird die Erziehung einer weltoffenen und demokratischen Jugend, von 1946 bis 1951 als Leiterin der Odenwaldschule und ab 1952 bei der UNESCO.

Die letzten Jahre verbringt Minna Specht in der Nähe von Bremen. Auch dort bleiben die engen Verbindungen aus Göttingen lebendig. Die ehemalige ISK-Genossin Greta Hermann begleitet und pflegt Minna Specht bis zu ihrem Tod am 3. Februar 1961.

Jonas Rugenstein ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.