Erzähler der grauschattierten Geschichte

[Göttinger Köpfe]: Oliver D‘Antonio über den Historiker Thomas Nipperdey

Im Juli 1944 ging im Konzentrationslager Majdanek bei Lublin für die Überlebenden die Hölle zu Ende. Majdanek wurde als erstes Lager von sowjetischen Truppen befreit. Wenige Wochen später zerstörte ein Feuersturm, entfacht durch alliierte Phosphorbomben, die Innenstadt von Königsberg. Und von der Bretagne her rückten amerikanische und britische Truppen langsam nach Süden und Osten vor. Das ist die eine, die bekannte Geschichte. Eine andere lautet in etwa so: Der damals sechzehnjährige Thomas Nipperdey durchlebte „in den Nischen von Krieg und Politik“ einen „schönen Sommer 1944“, er wanderte im Urlaub durch Mecklenburg, Masuren war leider nicht mehr möglich. Überhaupt hatten die letzten Kriegsjahre für den Sohn eines Kölner Professors fast etwas Befreiendes. In der Rückschau ortet Nipperdey in seiner Zeit bei der Flak „anarchistische Tendenzen“: Die HJ-Armbänder legten die Jungen ab, hörten – bisweilen sogar mit ihren Unteroffizieren – britische Radiosender und Jazz, die verpönte „Negermusik“.[1]

Es waren gewiss auch diese Lebenserfahrungen, die den späten Historiker Nipperdey zu der Erkenntnis kommen ließen, die sich in seinem berühmten Zitat manifestierte, Geschichte ließe sich nicht nach Gut und Böse, nach Schwarz und Weiß scheiden, ihre Grundfarbe sei vielmehr „grau, in unendlichen Schattierungen“. Das Erzählen der unendlichen Zahl von Geschichten in der Geschichte, das Darstellen des Facettenreichtums in der Realität der Vergangenheit waren das große Anliegen Nipperdeys. Seine autobiographische Jugendgeschichte unterstreicht dies: Während um ihn herum Wirtschaftskrise, Diktatur und Weltkrieg tobten, schien er eine recht behütete Kindheit verbracht zu haben.

Thomas Nipperdey wurde 1927 als Sohn einer traditionsreichen bildungsbürgerlichen Familie in Köln geboren. Sein Vater wurde 1925 als Professor für Bürgerliches Recht an die Universität Köln berufen. Dort wuchs Nipperdey mit seinen vier Geschwistern, darunter die spätere streitbare Theologin Dorothee Sölle, im Villenviertel Marienburg auf. Bürgerlicher Habitus, kulturelle Bildung, puritanisch bescheidene Lebensführung trotz durchaus auskömmlicher finanzieller Lage, ein „mehr sein als scheinen“ und der Stolz darauf bestimmten den Familienalltag. Den Vater beschreiben die Kinder keineswegs als Mitläufer, jedoch arrangierte er sich mit den nationalsozialistischen Regenten. Er war selbst „Vierteljude“, – ein vor dem Nachwuchs wohl gehütetes Familiengeheimnis. In den letzten Kriegsmonaten versteckte die Familie unter dem Dach ihres Hauses eine jüdische Mutter und ihren Sohn. Die Systemdistanz sei im Hause immer spürbar gewesen. So verhinderte die Mutter zum Unmut der Kinder deren Fahrt ins HJ-Ferienlager. Dennoch bestand für den jungen Nipperdey zwischen Tagträumen und dem Schreiben von Gedichten auch die Gefahr, eine gewisse Affinität zur bildungsbürgerlich versetzten NS-Ideologie und deren Heroismus zu entwickeln.[2]

Nipperdey, der schon im Teenageralter Heidegger las, empfand den Beruf des Vaters als „zu praktisch, zu geldbezogen“ und suchte nach schöngeistigen Alternativen. Nach Kriegsende studierte er Philosophie und Geschichte in Köln, Göttingen und Cambridge. Der Philosophie blieb er bis zu seiner Dissertation über Hegels Jugendschriften treu, ehe ihn der Historiker Theodor Schieder, den er vom gemeinsamen Cello-Spielen im Elternhaus kannte, mittels eines Stipendiums in die Geschichtswissenschaft lockte. Ende der 1950er Jahre kam Nipperdey erneut nach Göttingen, wo er sich 1961 am renommierten Max-Planck-Institut für Geschichte mit einer Arbeit über die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 habilitierte. Fortan zog er für ein Jahrzehnt durch die Republik – Gießen, Karlsruhe und die Freie Universität Berlin waren seine universitären Stationen.

In den 1970er Jahren begann Nipperdeys intensivste Schaffensphase. In seinem Werk wollte er stets mehr verwirklichen als die Arbeit eines reinen Historikers, geschweige denn eines Chronisten. Gewiss, er war ein akribischer Arbeiter und scharfsinniger Analyst der Geschichte. Er verbiss sich leidenschaftlich in immer neue Themen und durchforstete dazugehörige Quellen. Doch Nipperdey forschte nicht nur zur Geschichte, sondern sinnierte auch über die Geschichtswissenschaft in ihrer existenziellsten Form: Was ist Geschichte? Wem hat wissenschaftliche Geschichtsschreibung zu welchem Zweck zu dienen? Kann sie objektiv sein oder vielmehr: wie subjektiv darf sie sein?[3] Nipperdeys Geschichtsschreibung abstrahierte immer auch vom konkreten Gegenstand, er wollte Maßstäbe für historische Forschung setzen und dachte dabei universeller und raumgreifender als viele andere Vertreter seines Fachs. Seine Historiographie war hingegen eher konservativ.

Dass einer wie Nipperdey in dieser Dekade aneckte, scheint nicht verwunderlich. In der Ära der Hochschulreformen und des kritisch-linken Zeitgeistes wurden Hochschulen für einen eher elitären Bildungsbürger wie Nipperdey zu einem schwierigen Pflaster. In Berlin geriet er rasch in Konflikt mit der revoltierenden Studierendenschaft, in der Nipperdey als Reaktionär galt. 1970 gehörte er zu den Gründern des konservativen Verbandes „Bund Freiheit der Wissenschaft“, der sich gegen die linksideologische Vereinnahmung von Studium und Lehre aussprach. 1971 übersiedelte der Sozialdemokrat Nipperdey an die Ludwig-Maximilians-Universität in München und trat weiterhin als freiheitlich-konservativer Vertreter seiner Zunft und Lobbyist der „reinen Wissenschaft“ auf. Bekannt wurde vor allem sein Gutachten im Auftrag des Hessischen Elternvereins, welches Nipperdey gemeinsam mit dem konservativen Philosophieprofessor Hermann Lübbe 1973 vorlegte.[4] Durch diesen Einsatz trug er Anteil daran, die Umsetzung der „Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre“ zu verhindern, mittels derer die klassischen Schulfächer Geschichte und Deutsch durch eine kritisch-diskursanalytische Gesellschaftslehre ersetzt werden sollte.

Seine leidenschaftlichste wissenschaftliche Auseinandersetzung führte er jedoch mit der „Bielefelder Schule“, der so genannten historischen Sozialwissenschaft, und deren Begründer Hans-Ulrich Wehler. Dessen betont normativ-moralisierende Ausrichtung, die methodische Anlehnung an die Sozialwissenschaft und die dominanter werdende Tendenz, eine stringente Linie von der Malaise des deutschen Bürgertums zum Nationalsozialismus zu ziehen, waren Nipperdey ein Dorn im Auge. In seinem Geschichtsverständnis sollte jeder Vergangenheit ihr eigenes Recht zukommen, eine – zumal besserwisserische – Beurteilung aus der ex-post-Perspektive lehnte Nipperdey hingegen ab. Gerade in Bezug auf den Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus plädierte er dafür, den Großvätern im Urteil Gerechtigkeit zukommenzulassen. Geschichte sei ein offener Prozess, immer habe es mehrere Alternativen und eine unendliche Zahl an parallel verlaufenden Kontinuitäten gegeben.[5] Einen geradlinigen Weg in den Untergang zu zeichnen, sei wissenschaftlich unredlich.

Nipperdey wollte Geschichte trocken analysieren, er wollte sie auch erzählen, sprach immer wieder von der „Kunst“ der Geschichtsschreibung. Er publizierte öffentlichkeitswirksam und lehnte komplexe Wissenschaftskategorien und Begriffskonstruktionen ab. Nipperdey blieb ein Schöngeist, ein Philosoph der Geschichtswissenschaft, der andere mitnehmen und in das Reich der Geschichte entführen wollte – gerade in dieser geschichtsarmen Zeit, wie Nipperdey seine Gegenwart deutete. Die strengen Maßstäbe seiner objektivitätsorientierten Wissenschaft legte er dabei auch an sein eigenes Werk an: In seinen Schriften windet er sich, ringt um Erfüllung seiner selbstgesetzten Ansprüche, immer die grauschattierte Realität seiner eigenen Lebensgeschichte vor Augen. In seinem monumentalen dreibändigen Werk über die „Deutsche Geschichte“ des 19. Jahrhunderts wollte Nipperdey all diese Kontinuitäten erfassen, eine Totalgeschichte schreiben, keine Facette und Perspektive unbeleuchtet lassen. Dies gelingt, wie Wolfgang J. Mommsen urteilt, nur um den Preis, dass Nipperdeys grau-bunt schattierte Geschichte den Leser recht orientierungslos zurücklässt, der sich mehr Deutung von einem klugen Kopf wie Nipperdey erhoffen würde.[6] Fast ein Viertel seiner Lebenszeit arbeitete Thomas Nipperdey an diesem 2700 Seiten umfassenden Lebenswerk. Die Zeit hatte ihm gerade noch ausgereicht. Im Frühjahr 1992 vollendete er den dritten und letzten Band der „Deutschen Geschichte“. Wenig später verlor er seinen jahrelangen Kampf gegen den Krebs.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. Thomas Nipperdey: Eine bürgerliche Jugend (1927-1945), München 1998, S. 17.

[2] Vgl. ebd., S. 16 f.

[3] Vgl. Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein?, in: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1991, S. 264 ff.

[4] Vgl. o. V.: Vernichtendes Urteil über Hessens Rahmenrichtlinien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.06.1973.

[5] Vgl. Wolfgang Hardtwig: Forschung und Synthese – das Werk des Historikers, in: Wulf Steinmann et al.: In Memoriam Thomas Nipperdey, München 1994, S. 24 f.

[6] Vgl. Wolfgang J. Mommesen: Die vielen Gesichter der Clio. Zum Tode Thomas Nipperdeys, in: Geschichte und Gesellschaft, H. 3, 1993, S. 421.