[präsentiert]: Matthias Micus erläutert die Geschichte und Zukunft von Lagern, Säulen und Milieus, mit welchen sich eine Arbeitsgruppe am Göttinger Institut im Rahmen des Projektes „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“ beschäftigt.
Die Ära der geschlossenen gesellschaftlichen Lager ist abgelaufen, die Zeit organisatorisch verdichteter, auf weltanschaulichen Grundlagen basierender Subkulturen ist vorbei. Diese Ansicht dürfte von Parteienforschern und Sozialhistorikern nahezu einstimmig geteilt werden. Dasselbe gilt für ähnliche Phänomene anderen Namens, etwa Milieus oder Säulen. Doch was ist das eigentlich, ein Lager, eine Säule oder ein Milieu?
Üblicherweise werden diese Phänomene bestimmten Ländern zugeschrieben. Demnach gibt oder besser gab es in Deutschland Milieus, in den Niederlanden Säulen und in Österreich Lager. In zahlreichen Darstellungen werden die Begriffe aber auch synonym verwendet, wird der gleiche Gegenstand einmal als Lager, dann wieder als Säule und Milieu bezeichnet. In der Tat bestehen zwischen ihnen zahlreiche Parallelen. Sowohl Lager als auch Säulen und Milieus basieren auf der Selbstabschottung und Selbstausgrenzung ihrer Mitglieder aus der Mehrheitsgesellschaft. Ihre Mitglieder bleiben weitestgehend unter ihresgleichen, zu Außenstehenden werden scharfe Trennlinien gezogen. Der interne Zusammenhalt wird gestärkt durch ein dichtes Organisationsnetz und vielfältige Begegnungsmöglichkeiten, gemeinschaftlich begangene Rituale verleihen dem Alltag der Milieu-, Lager- und Säulenangehörigen eine charakteristische Struktur. Den Wurzelgrund jeder dieser Separatkulturen bilden eine gemeinsame Weltanschauung, eine einheitliche Deutung der Gegenwartprobleme und kollektiv geteilte Zukunftserwartungen, als ihr öffentliches Sprachrohr fungieren politische Parteien.
Dennoch gibt es auch etliche Differenzen zwischen Säulen, Lagern und Milieus. Die österreichischen Katholiken und Sozialdemokraten – der dem Militärischen entlehnte Lagerbegriff zeugt davon – pflegten in der Blütephase der Lagerkultur in den Jahren 1918 bis 1934 eine besonders schroffe Abgrenzung gegeneinander, die Militanz entlud sich schließlich in einem kurzen, blutigen Bürgerkrieg. Dagegen suchten die niederländischen Säuleneliten frühzeitig Ausgleich, Kompromiss, Verständigung, elementare Streitfragen wurden bereits im Jahr 1917 auf dem Verhandlungswege einvernehmlich gelöst. Während sich der niederländische Säulenpragmatismus unter anderem dem gesellschaftlichen Pluralismus verdankte, d.h. der strukturellen Unfähigkeit jeder einzelnen Säule zur Majorisierung der anderen, standen sich in Österreich zwei feindliche Machtblöcke gegenüber, die realistisch auf eine eigene Mehrheit spekulieren und daher nicht den Ausgleich, sondern die eigenen Ideen zu verwirklichen und den politischen Gegner in die Knie zu zwingen suchten.
Die deutschen Milieus standen irgendwo zwischen den Säulen und Lagern. Mit den Säulen gemeinsam war ihnen, dass das deutsche Parteiensystem zersplittert war und weder katholisches Zentrum noch Sozialdemokratie realistisch mit einer absoluten Stimmenmehrheit rechnen konnten. Eher den Lagern ähnlich war die eingeschränkte Kompromissbereitschaft zwischen den Milieus. Dies war ein Erbe des politischen Systems des Kaiserreiches, welches das Parlament von der Regierung strikt trennte und die Parteien von der Regierungsbildung ausschloss – mit der Folge, dass die deutschen Parteien und Milieus zu Konsensfindungen, Formelkompromissen und Bündnisstrategien nicht gezwungen waren und sich auf die Kultivierung von Grundsatzdebatten und die Formulierung ideologischer Maximalpositionen zurückziehen konnten.
Die österreichischen Lager nun waren untereinander auch deshalb so stark polarisiert, weil sich in dem Alpenland zwischen Katholiken und Sozialdemokraten eine besonders tiefe Kluft auftat, in der sich gleich mehrere soziale Konfliktlinien überlappten, sie also nicht nur fundamentale konfessionelle Unterschiede voneinander trennten. Auch der Stadt-Land-Gegensatz und insbesondere der Klassenantagonismus unterfütterten die Kämpfe der bürgerlich-agrarischen Christlichsozialen mit den urbanen Sozialisten der SDAP. In den Niederlanden dagegen spielte der sozioökonomische Klassenkonflikt kaum eine Rolle, die protestantische wie auch die katholische Säule besaßen einen starken Anhang auch unter Arbeitern, die am dichtesten organisierten Säulen – die Katholiken und orthodoxen Protestanten – hatten ihren sozialstrukturellen Schwerpunkt zudem gleichermaßen im Kleinbürgertum.
Erstaunlich vor dem Hintergrund der Erosion der Milieus, Säulen und Lager seit den 1960er Jahren und ihres forcierten Niederganges im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre ist nun, dass die politischen Kulturen Deutschlands, Österreichs und der Niederlande von diesen überlebten Strukturen offenkundig bis in die Gegenwart hinein affiziert sind. In Österreich stehen sich auch heute noch – und trotz jahrzehntelanger gemeinsamer Regierungskoalitionen – die Anhänger und im Besonderen die Eliten der christdemokratischen ÖVP auf der einen, der sozialdemokratischen SPÖ auf der anderen Seite unverhohlen misstrauisch gegenüber. Bei Wahlkämpfen warnt die ÖVP selbst im 21. Jahrhundert bisweilen vor der roten Gefahr, die nach Moskau (!) führe, die Episode der schwarz-blauen Regierungszusammenarbeit der ÖVP mit der rechtspopulistischen FPÖ in den Jahren 2000 bis 2006 zeigte, wie schnell sich die Fronten zwischen beiden Seiten abermals verhärten können und wie sehr Große Koalitionen auch gegenwärtig noch Korsette sind, die missliebige Partner unwillig zusammenzwingen. Immer noch sind in Österreich die Feindbilder intakt, Elemente der Lagerkultur werden tradiert, weit über den Zusammenbruch der dazugehörigen Struktur hinaus. Viel länger als in Deutschland oder gar den Niederlanden war in Österreich die Mitgliedschaft von Sozialdemokraten in bürgerlichen Sportvereinen unerwünscht, die Ausübung von Funktionen sogar durch die Statuten der SPÖ untersagt. Und während allerorten die Wege von Gewerkschaften und Sozialdemokratien auseinanderlaufen, ist ihre wechselseitige Durchdringung in Österreich unverändert stark, bis hin zu der für andere Länder nur mehr kurios anmutenden Diagnose, beide Organisationen verhielten sich zueinander wie „siamesische Zwillinge“.
Ganz anders die Niederlande: In dem Polderland ging es in den vergangenen sechs Jahrzehnten selten einmal ideologisch zu, nahezu jede Partei ist im niederländischen Vielparteienparlament mit den anderen bündnisfähig – und bei Bedarf dann auch koalitionswillig. Während in Österreich Jörg Haiders Rechtspopulisten zwei Jahrzehnte lang nur mit spitzen Fingern angefasst und zu isolieren versucht wurden, werden in den Niederlanden die Rechtsaußen ohne großes Zögern in die Regierungsbildung einbezogen – das war schon 2002 bei der Lijst Pim Fortuyn so und wird sich mutmaßlich 2010 bei Geert Wilders nicht viel anders verhalten. Jedes dieser Details verweist zurück auf die Tradition von Lagern und Säulen und ihre fortwährende Einwirkung auf die landestypischen Mentalitäten: Die säulengestützten Niederlande sind seit jeher eine Konkordanzdemokratie, das lagerzerklüftete Österreich ist unter der Oberfläche von Verfassungen, Statuten und Koalitionen noch heute allenfalls eine mindestens unterschwellig unfreiwillige und insofern defekte Konsensrepublik.
Die Stabilität der alten Lager in Österreich erscheint nun zunächst als Vorteil, sind doch die Verlustausschläge der niederländischen Schwesterparteien bei Wahlen erheblich höher. Allerdings zeigt sich seit den 1990er Jahren deutlich das Problem, dass Stabilität, Beharrungswille und das störrische Trotzen widriger Umstände stets umzuschlagen drohen in Reformunfähigkeit und pure Problemignoranz. Apodiktisch hält etwa die ÖVP an ihren Bünden fest, obwohl diese die Berufsstruktur der österreichischen Gesellschaft zunehmend weniger spiegeln und das Gros der österreichischen Arbeitnehmer mittlerweile von den Bünden gar nicht mehr erfasst wird. Und: Trotz aller Bindungen an die Gewerkschaften schrumpft seit zwei Jahrzehnten auch der Wählerzuspruch der österreichischen Sozialdemokratie unter Arbeitern rapide dahin, eben weil – von der Partei unbemerkt – längst auch Gewerkschaftsmitglieder an der Wahlurne „unzuverlässiger“ und „unberechenbarer“ geworden sind.
Dennoch: Die Flexibilität, weitgehende Offenheit und Anpassungsfähigkeit der niederländischen Parteien erscheint als eher noch schlechtere Alternative. In keinem westeuropäischen Land nahm die Kirchenbindung seit den 1960er Jahren so rapide ab wie in den Niederlanden, in dem einstmals hochreligiösen Land ist mittlerweile die Mehrheit der Bevölkerung atheistisch. Das Wahlverhalten allenfalls eines Fünftels der Niederländer wird gegenwärtig durch die alten Determinanten Religion und Klasse bestimmt. Die alten Großparteien organisieren im besten Fall noch ein Prozent der Wahlberechtigten, auch bei Wahlen unterbieten sie die ebenfalls nicht gerade kraftstrotzenden Volksparteien in Deutschland und Österreich.
Aber wer weiß: Vielleicht ist gerade die Strukturschwäche der niederländischen Parteien ein Vorteil, wenn es darum geht, moderne Lagerstrategien einzuschlagen. Es könnte nämlich durchaus eine Renaissance der politischen Lager bevorstehen. Nicht der alten, überkommenen, in der Tat wohl irreversibel entschwundenen Lager. Aber vielleicht doch von Lagern als dauerhaften politischen Bündnissen zweier oder mehrerer Parteien. Es spricht schließlich einiges dafür, dass die Auflösung der alten Lager wie der mit ihnen korrespondierenden naturwüchsigen Lagerzugehörigkeit nicht gleichzeitig zu einer Auflösung jeglicher Lagerbindung, schon gar des Bedürfnisses nach Einbettung, Gemeinschaft, auch: Verlässlichkeit und Eindeutigkeit führt.
Vielmehr: Je fragmentierter Gesellschaften sind, desto größer dürfte der Bedarf nach Integration durch Lagerbildung werden. Und als Bündnisprojekt mehrerer Parteien wären Lager gleichermaßen eine zeitgemäße Antwort auf die fortschreitende gesellschaftliche Individualisierung und Pluralisierung, erlauben sie doch im Unterschied zur engeren Parteibindung Nähe und Distanz zugleich. So kann man zwischen den Parteien eines Lagers wechseln, auch einmal gar nicht wählen, ohne gleich das Lager verlassen zu müssen; man weiß, wohin man gehört und ist doch kein Parteigänger.
Freilich: Solche Lager basieren nicht mehr auf Organisationsnetzen und Weltanschauungen im engeren Sinne, stattdessen auf lockereren Grundwerten und Grundüberzeugungen, sie würden eher auf der normativen und moralischen Ebene bestehen, würden in den Köpfen stärker zu Hause sein als auf der Straße und in Versammlungslokalen. Dennoch könnten sie die bergenden, schützenden, beheimatenden Funktionen der alten Lager erfüllen – und gleichzeitig den individuellen Freiheitsbedürfnissen entgegenkommen. In modernen Vielparteiensystemen, die absolute Mehrheiten einer einzigen Partei nahezu ausschließen, wird die Lagerbildung, werden Lager im Kampf um die Regierungsmacht zudem immer wichtiger.
Dr. Matthias Micus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“.