Die umfassenden Corona-Beschränkungen bestimmen nun seit einigen Monaten unser aller Leben entscheidend mit. Als besonders einschneidend gilt der Wegfall von sozialen Kontakten, welcher flächendeckend Vereinsamung mit sich bringt. Auch Gotteshäuser, die vielen, sonst sozial isolierten Menschen ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln, mussten bis vor kurzem noch ihre Türen geschlossen halten. Eine digitale Variante religiöser Partizipation, wie sie in vielen Glaubensgemeinschaften über die letzten Wochen und Monate erprobt wurde, kann dies nur bedingt ersetzen. Ausgerechnet im April ballten sich die Feiertage, an denen viele gläubige Menschen sich für gewöhnlich versammeln: Jüd*innen begingen das Pessach-Fest, Christ*innen feierten Ostern – dieses Jahr alles auf Distanz.
Mit der Sichtung der neuen Mondsichel begann am 23. April unter Ausnahmebedingungen auch der Fastenmonat Ramadan, der für Muslim*innen weltweit eine Zeit der (Rück‑)Besinnung auf ihren Glauben bedeutet. Doch dieses Jahr blieben auch die Moscheen zum Ramadan-Beginn aufgrund der staatlichen Verbote geschlossen. „Schulter an Schulter“ in Gemeinschaft zu beten, wie es eine Überlieferung des Propheten Mohammed fordert[1], war undenkbar. Im April begann in den Bundesländern erst eine vorsichtige Diskussion zu Lockerungen, in deren Zuge auch die Gotteshäuser der verschiedenen Religionen wieder öffnen sollten. Einem niedersächsischen muslimischen Verein ging das jedoch nicht schnell genug. Er zog deswegen bis vor das Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe bekam der Verein am 29. April Recht: Niedersachsen dürfe zumindest nicht pauschal alle Gottesdienste und religiösen Zusammenkünfte verbieten – in Ausnahmefällen müssten sie genehmigungsfähig sein.[2]
Doch wer konkret hatte überhaupt geklagt? Das blieb in den Medien, die umgehend über die Entscheidung berichteten,[3] meist unerwähnt: Es war die „Föderale Islamische Union“ (FIU) in Hannover, die durch ihren Vorsitzenden Marcel Krass vertreten wird. Dieser war bisher als führender Kopf der salafistischen Szene in Niedersachsen bekannt geworden, der in zahlreichen Publikationen der Verfassungsschutzbehörden Erwähnung fand.[4] War nun ein Vertreter des radikalen Islams zum Vorkämpfer für Religionsfreiheit geworden?
Noch vor kurzem tauchte Krass in ganz anderen Schlagzeilen auf. 2019 durchsuchte die Polizei von ihm genutzte Wohnungen wegen des Verdachts, für die Vereine Ansaar International und WorldWideResistance-Help gesammelte Spenden seien der palästinensischen Hamas zugutegekommen.[5] Die Stadt Hannover untersagte ihm kurz darauf die Aufstellung von Kuchenständen in der Fußgängerzone, um zu verhindern, dass Spendengelder zu mutmaßlich verfassungsfeindlichen Zwecken gesammelt und islamistische Inhalte verbreitet würden.[6] Nun führte ausgerechnet die Klage von Krass’ Verein dazu, dass nicht nur Moscheen, sondern auch Kirchen und Synagogen vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts profitierten. Doch wie passen mutmaßliche Verfassungsfeindlichkeit und Verfassungsklage zur Wahrung der Religionsfreiheit zusammen?
Tatsächlich ist nicht davon auszugehen, dass für Krass oder die FIU die Religionsfreiheit nicht-muslimischer Gemeinschaften von besonderer Relevanz war – der Erfolg der Klage führte angesichts des im Grundgesetz verankerten Verbots religiöser Diskriminierung zwangsläufig zu Lockerungen für alle Religionen. Doch es steht fest, dass Krass und die FIU mit ihrer legalistischen Strategie[7] weitgehend ein Alleinstellungsmerkmal in der salafistischen Szene beanspruchen können, während andere prominente salafistische Akteure, wie etwa Ahmad Armih (besser bekannt als Abul Baraa), die Institutionen des deutschen Staates pauschal verdammen und daher versuchen, den Kontakt mit den Behörden auf ein Minimum zu reduzieren.[8]
Krass und die FIU hingegen setzen bei verschiedenen Angelegenheiten darauf, die Rechtsordnung der Bundesrepublik zu nutzen, um muslimische Interessen vor Gericht oder in der Politik durchzusetzen. Dabei unterstützt der Verein Personen, die dem salafistischen Milieu zuzuordnen sein dürften – wie etwa Frauen, die eine Vollverschleierung (Niqab) tragen. Aber auch Anliegen, die weit über salafistische Kreis hinaus auf Zuspruch stoßen, werden unterstützt: So initiierte Krass eine Bundestagspetition für die Schaffung eines „Bundesbeauftragten zum Schutz der Muslime und des muslimischen Lebens in Deutschland“[9] und sammelte innerhalb von vier Wochen über 60.000 Unterschriften. Auch über die Interessenvertretung hinaus engagiert sich die FIU, so etwa durch eine Corona-Soforthilfe in Form einer Spendensammlung für verbandsunabhängige Moscheegemeinden (von denen freilich nicht wenige salafistisch geprägt sein dürften) oder durch die Herausgabe einer Übersetzung des Sahih al-Bukhari ins Deutsche (die wichtigste Sammlung von Hadithen (Überlieferungen) des Propheten Mohammed, die neben dem Koran die Hauptquelle des Islam darstellt). Die Folgen des Karlsruher Urteils waren allerdings bei weitem nicht so gravierend, wie Krass sie darstellte, da die Bundesländer zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung ohnehin bereits Lockerungen auch für Gottesdienste geplant hatten. Doch werbewirksam war die Aktion allemal: wenn man den eigenen Angaben der FIU trauen kann, hat der Verein seit April rund 500 neue Mitglieder gewonnen.[10]
Neben der Bereitschaft, die Rechtsordnung der Bundesrepublik für muslimische Interessen zu nutzen, fällt eine weitere Besonderheit ins Auge: Während viele andere salafistische Akteur*innen nicht selten Menschen, die sich selbst als Muslim*innen verstehen, angesichts ihrer schlechten Taten die Zugehörigkeit zum Islam aberkennen[11] und den „Takfīr”[12] über sie aussprechen, agiert Krass inklusiver: So erklärt er in seinem Video zu seiner Spendensammelaktion für Corona-bedingt finanziell angeschlagene Moscheen, dass er nicht prüfen wolle, ob die Moscheegemeinden dasselbe Verständnis des islamischen Bekenntnisses hätten wie er. Durch die Aktion sollten für alle Menschen, die sich als Muslim*innen verstünden, die Moscheen gerettet werden.[13] Allerdings bleibt unklar, wie weit Krass’ Toleranz hier tatsächlich geht und ob er etwa auch explizit liberale Moscheegemeinden unterstützen würde. Da sich aber derartige Gruppen ihrerseits wohl nicht um Gelder von einem Verein bemühen würden, der als salafistisch geprägt gilt, bleibt die Frage hypothetischer Natur.
Trotz der faktischen Akzeptanz der deutschen Rechtsordnung und der toleranten Haltung zumindest in Bezug auf unterschiedliche Auslegungen des Islam bleibt fraglich, inwieweit Krass tatsächlich eine pluralistische, demokratische Gesellschaftsordnung befürwortet. Noch 2014 hatte er in dem Video „Was ist Scharia?”[14] betont, dass Gerechtigkeit niemals durch menschengemachte Gesetze hergestellt werden könne, sondern nur dann herrschen könne, wenn sich der Mensch vollständig den Regeln der Scharia unterwerfe. Krass erklärte, dass die Muslim*innen weltweit daher anstreben sollten, sich künftig alle in einem einzigen, wahrhaft islamischen Staat zu vereinigen.[15] Sofern Krass diese utopische politische Vision, die die Legitimität demokratischen Gestaltens negiert, mittlerweile aufgegeben hat, so hat er zumindest nicht erläutert, warum das demokratische System der Bundesrepublik nach seiner heutigen Auffassung mit dem Islam kompatibel ist.
Krass’ Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt außerdem, dass er sowohl die Muslim*innen, die Politik und Verwaltung in Deutschland Vertrauen entgegenbringen, ansprechen und für sich gewinnen will, als auch jene, die geheime Verschwörungen durch Regierende und Medien für möglich halten. Zwar erklärt Krass, bei Gebeten alle Hygieneauflagen der Behörden beachten zu wollen und hält auch andere Moscheen hierzu an. Die Begründung zur Einhaltung der Maßnahmen ist jedoch, dass Verstöße gegen sie von behördlicher Seite bestraft würden. Es sei daher irrelevant, ob die Pandemie real oder doch eine Erfindung der Medien sei.[16] Mit dieser geschickt ausweichenden Antwort gibt er den Verschwörungstheorien Raum, die sich um das neue Coronavirus ranken und die momentan in der deutschen Gesellschaft – und somit auch unter Muslim*innen – zirkulieren.[17] Krass’ Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ist somit genauso ambivalent wie sein Verhältnis zur Demokratie.
Die Tatsache jedoch, dass Krass versucht, konstruktiv mit dem deutschen Rechtsstaat umzugehen, zeigt, dass der Salafismus in Deutschland eben kein monolithischer Block ist: Akteure wie Abul Baraa setzen auf Abschottung frommer Muslim*innen, die sich von allen Nicht-Muslim*innen genauso fernhalten sollen wie von denjenigen Anhänger*innen des Islam, die die Religion vermeintlich nicht ernst genug nehmen. Nach diesem Islamverständnis sollten sich Sozialkontakte außerhalb des eigenen Milieus auf den Zweck der Daʿwa (die islamische Mission) beschränken. Krass und die FIU hingegen setzen auf vorsichtige Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft. Politik und Gesellschaft sind gut beraten, diese partielle Offenheit nicht ausschließlich als bloße Propaganda und Täuschung abzutun, sondern konstruktiv mit ihr umzugehen. Die feindliche bis ambivalente Haltung gegenüber der Demokratie, die auch im offeneren Teil des salafistischen Spektrums vertreten wird, sollte dabei aber nicht aus dem Blick geraten.
Lino Klevesath und Annemieke Munderloh arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung und erforschen das Spektrum des politischen Islam.
[1] Sahih al-Bukhari, Buch 10, Hadith 119 (https://sunnah.com/bukhari/10/119).
[2] Vgl. Bundesverfassungsgericht (Hrsg.): Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020 – 1 BvQ 44/20 -, Rn. (1–19), in: bundesverfassungsgericht.de, 29.04.2020, URL: http://www.bverfg.de/e/qk20200429_1bvq004420.html [eingesehen am 14.05.2020].
[3] Exemplarisch: O. V.: Bundesverfassungsgericht: Ausnahmen vom Gottesdienst-Verbot müssen möglich sein, in: SPIEGEL, 29.04.2020, URL: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/bundesverfassungsgericht-ausnahmen-vom-gottesdienst-verbot-muessen-moeglich-sein-a-a7526dbf-2294-4178-9dc8-0b4383a8d8fa [eingesehen am 23.05.2020]; Deppe, Gigi: Bundesverfassungsgericht: Gottesdienste in Ausnahmen möglich, in: tagesschau.de, 29.04.2020, URL: https://www.tagesschau.de/inland/gottesdienste-verfassungsgericht-corona-101.html [eingesehen am 23.05.2020].
[4]Vgl. bspw. o.V. Verfassungsschutzbericht 2015 [Bayern], Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz, 22.04.2016, URL: https://www.verfassungsschutz.bayern.de/mam/anlagen/vsb_2015_druckfassung.pdf [eingesehen am 23.05.2020], S. 30; o.V. „BAKKAH-Reisen“: Salafistische Reiseveranstalter und ihre Netzwerke, Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, 01.03.2019, URL: https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde_DE/Startseite/Arbeitsfelder/_BAKKAH-Reisen_+Salafistische+Reiseveranstalter+und+ihre+Netzwerke?QUERYSTRING=marcel+krass [eingesehen am 23.05.2020].
[5]O. V.: „Ansaar International“: Razzia beim Salafisten-Prediger in Hannover, in: Neue Presse, 10.04.2019, URL: https://www.neuepresse.de/Hannover/Meine-Stadt/Razzia-beim-Salafisten-Prediger-in-Hannover [eingesehen am 23.05.2020].
[6]O. V.: Neues Gesetz: Hannover verbietet Islamisten-Stand in der City, in: HAZ, 16.05.2019, URL: https://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Extremismus-Hannover-untersagt-erstmals-Islamisten-Stand-in-der-City [eingesehen am 23.05.2020].
[7]Vgl. hierzu auch Siefert, Volker: Klage gegen Gottesdienstverbot: Salafist siegt vor Verfassungsgericht, in: tagesschau.de, 08.05.2020, URL: https://www.tagesschau.de/investigativ/hr/salafisten-143.html [eingesehen am 24.05.2020].
[8]Vgl. hierzu Abul Baraas Video: „Stellungnahme zu den Vorwürfen vom ZDF_Sind die Bibel und die Thorah [sic] mit dem Grundgesetz vereinbar?”, 16.11.2018, URL: https://www.youtube.com/watch?v=0vDn–JvHGA [eingesehen am 21.08.2019].
[9]O.V.: Ernennung eines Bundesbeauftragten zum Schutz der Muslime und des muslimischen Lebens in Deutschland, in: openpetition.de, 24.02.2020, URL: https://www.openpetition.de/petition/online/ernennung-eines-bundesbeauftragten-zum-schutz-der-muslime-und-des-muslimischen-lebens-in-deutschland [eingesehen am 30.05.2020].
[10]Vgl. Angaben zur Mitgliederzahl auf der Website der Föderalen Islamischen Union (URL: https://islamische-union.de/ [eingesehen am 26.05.2020]) sowie Angaben zur Mitgliederzahl in Bundesverfassungsgericht (Hrsg.): Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 29. April 2020.
[11]Vgl. hierzu Wagemakers, Joas: The transformation of a radical concept: al-wala’ wa-l-bara’ in the ideology of Abu Muhammad al-Maqdisi, in: Global Salafism : Islam’s new religious movement, London 2013, S.81–106, hier insbesondere S. 95–101.
[12]Das arabische Verbalnomen „Takfīr“ bedeutet „Für-Ungläubig-Erklären“.
[13]Vgl. Krass’ Video-Stellungnahme zum Sieg vor dem Bundesverfassungsgericht, 30.04.2020, URL: https://www.facebook.com/MarcelKrass/videos/2666827386927661 [eingesehen am 15.05.2020].
[14]Marcel Krass – Was ist Scharia?, 30.10.2014, URL: https://www.youtube.com/watch?v=VcVMIqxhbSE [eingesehen am 24.05.2020].
[15]Vgl. Klevesath, Lino et al.: Scharia als Weg zur Gerechtigkeit? Eine Analyse der Rezeption eines salafistischen Online-Videos durch junge Muslim*innen, Göttingen 2019, abrufbar unter https://www.fodex-online.de/fodex-data/akten/pdf/2019/fodex-studie-3-2019-scharia-als-weg-zur-gerechtigkeit.pdf [eingesehen am 24.05.2020].
[16]Vgl. bspw.: Fragen und Antworten zum Rettungsfond für die Moscheen, 10.04.2020, 04:10, URL: https://www.youtube.com/watch?v=W5_gpD8cuHM [eingesehen am 25.05.2020].
[17]Dazu gehört unter anderem das Gerücht, dass Gläubigen der Prophet Mohammed im Traum erschienen sein soll und erklärt habe, dass wer zwischen den Seiten der zweiten Sure des Korans ein Haar finde, dieses in Wasser legen solle. Wer nun dieses Wasser trinke, werde immun gegen Corona (und erhalte Schutz vor anderem Übel). Abul Baraa weist diese Vorstellung als „Lüge“ zurück und erklärt, Muslim*innen dürften ihr Urteil nicht auf Träume gründen. Vgl.: Was hat es mit dem Haar im Quran auf sich welches vor dem Coronavirus heilen soll?, 01.04.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=lNeLXfZWV4I [eingesehen am 25.05.2020].Furkan bin Abdullah von Im Auftrag des Islam macht über die Medienplattform Werbung für Schwarzkümmelöl, welches die die Heilung für „alles außer den Tod“ sei. Vgl.: Der Schutz vor dem Coronavirus – Furkan bin Abdullah, 02.03.2020, URL: https://www.facebook.com/1809199596066635/videos/650435382397117 [eingesehen am 25.05.2020]).