Ein neuer Mai 1968?

[analysiert]: Teresa Nentwig über die Jugend in Frankreich.

In den letzten Wochen gingen in Frankreich Hunderttausende auf die Straße, um gegen die geplante (und nun beschlossene) Rentenreform zu protestieren, darunter auch zahlreiche Schüler und Studenten. In Lyon kam es gar zu gewaltsamen Zusammenstößen von Jugendlichen und Polizisten. Geschäfte wurden geplündert, ein Lieferwagen in Flammen gesetzt. Meist jedoch blieben auch in der drittgrößten Stadt Frankreichs die Proteste friedlich. Studenten zogen durch die Straßen und sangen Bella ciao, das Lied der italienischen Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg.

Dass sich Schüler und Studenten oft in vorderster Reihe an den Massendemonstrationen gegen die Rentenpolitik der Regierung beteiligten, wurde in Frankreich zum Anlass genommen, ein Zustandsbild der Jugend zu entwerfen. Wie steht es um sie? Was drücken die Jugendlichen mit ihren Protesten aus? Wie wird es weitergehen? Der Soziologe Michel Fize, der seit vielen Jahren zum Thema Jugend forscht, gab der Tageszeitung „Le Parisien“ ein Interview, in dem er eine kühne These aufstellte: „Es kann sein, dass wir einen neuen Mai 68 bekommen. Damals haben sich wütende Studenten und junge Arbeiter zusammengeschlossen, während ein Teil des Landes nur an den Benzinmangel gedacht hat. Die aktuelle Situation ähnelt dem! Eine große soziale Bewegung ist womöglich gerade im Entstehen begriffen.“ Kann man wirklich so weit gehen? Sicher, es gab im letzten Monat Szenen, wo Jugendliche die Arbeiter in den Raffinerien unterstützten, wo Jung und Alt in den Demonstrationszügen Seite an Seite marschierten. Doch die jetzige Situation unterscheidet sich in einem gewichtigen Punkt vom Mai 1968: Die aufgebrachten Studenten und Arbeiter, die sich damals solidarisierten, kämpften für den Aufbruch in eine andere, bessere Gesellschaft. Sie waren vereint in dem Glauben an das kollektive Glück. Heute dagegen ist das Gegenteil der Fall. Was die Jugendlichen in Frankreich auf die Straße treibt, ist keine Vision, sondern schlichtweg Perspektivlosigkeit und Angst.

In der Tat: Es gibt viele Anzeichen, dass sich Frankreichs Jugend in einer Krise befindet. Da wäre erstens die enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit. Im August 2010 betrug sie 24,4 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland waren im gleichen Monat nur 8,8 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Erschreckend ist in Frankreich außerdem die horrende Langzeitarbeitslosenquote bei Jugendlichen unter 25 Jahren: Innerhalb von zwei Jahren ist diese um ganze 72 Prozent gestiegen, so dass bereits von der génération perdue (‚verlorene Generation‘) und der génération sacrifiée (‚aufgegebene Generation‘) die Rede ist. Diese für viele aussichtslose Lage trägt zu einer kollektiven Angst bei, dass „die Alten“ bald „den Jungen“ die Arbeit wegnehmen. Denn im Zuge der Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 auf 62 Jahre würden erstere länger arbeiten und somit später Platz machen für letztere. Anders: Mehr Jugendliche müssten für längere Zeit in Arbeitslosigkeit verharren. Vielleicht liegt hier ein Teil des „generationellen Sprengstoffes“, der die derzeitige französische Gesellschaft laut Bruno Laforestrie, Internetpionier und Chef des in den Pariser Vorstädten einflussreichen Radiosenders Générations 88.2, kennzeichnet. Der Sprengstoff werde in den nächsten Jahren explodieren, wenn es nicht gelinge, den Generationenkonflikt zu mildern. Selbst die von Nicolas Sarkozy eingesetzte „Kommission zur Freisetzung des französischen Wirtschaftswachstums“ warnt bereits vor einer Aufkündigung der intergenerationalen Solidarität.

Zweitens: Die Krise der französischen Jugend zeigt sich auch in einer tiefer gehenden Angst – der Angst vor sozialer Deklassierung, die schichtenübergreifend festzustellen ist. Die Jugendlichen nehmen den Ausbildungs- bzw. Studienabschluss als entscheidend für den Rest des Lebens wahr, haben aber zugleich den Eindruck, dass sich ihre Berufsausbildung nicht mehr bezahlt macht, dass die Gesellschaft ihnen nur noch einen mittelmäßigen Platz in der Gesellschaft zuweist. Dies machen sie u. a. daran fest, dass auch junge Akademiker immer länger warten müssen, bis sie ihren ersten Job antreten können. Zudem sind die Jugendlichen überzeugt, mehr leisten zu müssen als ihre Eltern, ohne jedoch das gleiche Lebensniveau wie diese zu erreichen. Der Eindruck der Deklassierung ist besonders groß, da sie mit den Baby-Boomern eine Generation vor sich haben, die extrem begünstigt ist.

Angesichts dieser Gefühlslage verwundert es nicht, dass im September 2010 eine Umfrage bestätigt hat, dass die französischen Jugendlichen immer ängstlicher werden. Bereits auf dem Collège, das von 11- bis 14-Jährigen besucht wird, weisen zahlreiche Schülerinnen und Schüler z. T. schwere psychische Störungen auf, die mit der Angst, in der Schule zu versagen, verknüpft sind. Zugleich zeigen Untersuchungen, dass die Jugendlichen aufgrund ihrer Chancenlosigkeit immer wütender werden und sich ihr Radikalitätspotenzial erhöht. Auch deshalb lässt sich zweifelsohne von einer Krise der französischen Jugend sprechen.

Drittens entzündete sich der Protest der Jugendlichen nicht nur an der Rentenreform, sondern auch an der Person des Staatspräsidenten. Sarko, t’es foutu. La jeunesse est dans la rue! – ‚Sarko, Du bist erledigt. Die Jugend ist auf der Straße‘ skandierten sie mit eindrucksvoller Lautstärke.* Insbesondere bei den Jugendlichen steht Sarkozy für Kungelei mit den Reichen, für einen protzigen Lebensstil, für eine Politik, die allein der Elite zugutekommt. Mit nur noch 26 Prozent Zustimmung ist „Präsident Bling-Bling“ in der Tat der unbeliebteste Staatspräsident der 1958 gegründeten V. Republik. Bei der letzten Präsidentschaftswahl ist die Mobilisierung der Jugendlichen gerade in den problembelasteten Vorstädten hoch gewesen, da die Wahl als Richtungswahl verstanden wurde. Werden die linken Parteien bei der kommenden Präsidentschaftswahl erneut von einer solchen Mobilisierung profitieren? Oder werden sich die Jugendlichen von der Politik und den Präsidentschaftskandidaten distanzieren, indem sie sich ihrer Stimme enthalten?

Schließlich waren die Kundgebungen der Jugendlichen dort, wo zu Gewalt gegriffen wurde, Ausdruck der Krise der Vorstädte, deren Ghettoisierung trotz milliardenschwerer Umbauprogramme weiter voranschreitet. In Lyon etwa kamen die Jugendlichen, die häufig minderjährig waren, aus den Banlieues in das Stadtzentrum, „um Krieg zu führen“, wie sie selbst sagten. Lust auf Gewalt und Gewaltrausch als Motive – Reminiszenzen an die Vorstadtunruhen im Herbst 2005 werden hierbei wach.

Zusammenfassend: Der Begriff „Generation Krise“, mit dem die Zeit im April 2009 die Jugendlichen in Deutschland charakterisierte, scheint perfekt den derzeitigen Zustand der französischen Jugend zu benennen. Ihre Mobilisierung im letzten Monat steht demnach nur oberflächlich in Zusammenhang mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sie hat tiefer gehende, viel ernstere Ursachen und enthüllt eine zutiefst verunsicherte Jugend, die mit ihren Protesten darauf aufmerksam machen möchte, dass ihre Zukunft nicht rosig aussieht. Eine Art Hilfeschrei also.

Wie geht es weiter? Folgt man den – rechten wie linken – Politikern, soll das Thema „Die Zukunft der Jugendlichen“ eine zentrale Rolle im Präsidentschaftswahlkampf 2012 spielen. Die Sozialistin Ségolène Royal beispielsweise, die bei der Präsidentschaftswahl 2007 Sarkozy unterlegen war, aber eventuell erneut antreten wird, kündigte bereits für 2012 einen „nationalen Vertrauenspakt“ an, um mehr Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen. Ob die Politiker ihren Worten dann aber auch Taten folgen lassen, ob sich also die Situation der Jugendlichen tatsächlich verbessert und sie wieder mit Optimismus in die Zukunft blicken können, bleibt abzuwarten. Nahezu gewiss ist nur, dass irgendwann ihre Unzufriedenheit wiederkehren und in Protestbewegungen umschlagen wird. Denn das Unbehagen an der Gesellschaft der Gegenwart scheint der Mentalität der Franzosen inhärent zu sein. Bereits im Jahr 1875 stellte der französische Historiker und Philosoph Hippolyte Taine im ersten Band seines Werkes Die Entstehung des modernen Frankreich fest, „daß die Franzosen mit ihrem [politischen] Hause niemals zufrieden sind“. Regelmäßig demolierten sie es und bauten es wieder auf, „um stets von neuem zu finden, daß sie nicht das Richtige getroffen“.

* Ein Video, das Jugendliche bei den Massenprotesten gegen die Rentenreform zeigt, ist abrufbar unter: http://www.dailymotion.com/video/xf6czw_sarko-t-es-foutu-la-jeunesse-est-d_news [Stand: 29.10.2010].

Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Politische Führung im deutschen Föderalismus.