Die TINA in uns – über den insgeheimen Wunsch nach alternativlosen Lösungen

[analysiert]: Johanna Klatt über Vor- und Nachteile des vermeintlich Alternativlosen.

Es war an einem Samstagabend im Mai 2011, als der Literaturwissenschaftler und bekennende Sportfreund Hans Ulrich Gumbrecht auf dem heimischen Sofa das ZDF-Sportstudio verfolgte und dabei so vor sich hin sinnierte.[1] Ein Interview mit dem Fußballtrainer und damaligen Sportdirektor des 1. FC Köln Volker Finke öffnete ihm dann die Augen. Wie Finke dort saß, auf einem Barhocker, wegen medial erzeugter Vorwürfe eines internen Intrigenspiels wie ein „Angeklagter vor einem Gericht“, wie er sich in einem „moralischen Prozess“ vor der deutschen Sport-Nation verteidigen musste, die sich in Vertretung des Moderators gleichsam zum Staatsanwalt aufgeschwungen habe – für den FAZ-Kolumnist war das alles sinnbildlich für die hiesige politische Kultur, genauer: für den moralischen Zeigefinger der Medien, für die sittenstrenge Argumentation aus einer ethisch erhabenen Position heraus. Und vor allem für die allzu oft bemühte Logik des vermeintlich „Alternativlosen“.

Wie „TINA“ ins Spiel kommt

Hans Ulrich Gumbrecht nutzte das persönliche TV-Erlebnis als Beispiel, um auf ein gesamtgesellschaftliches Phänomen hinzuweisen. Sein abstrakter Faden soll an dieser Stelle aufgenommen und weitergesponnen werden. Mit dem Beispiel des „Gewissens der Nation“ und der kultivierten „moralischen Perspektive“ beobachtete er das Argumentieren mit einem (vermeintlich) „korrekt“ geführten moralischen Zeigefinger, der – noch dazu im Kollektiv – eine gewisse Sehnsucht nach überparteilich einmütigen und fraglos richtigen Antworten auf gesellschaftliche Fragen bedient – nach einem gewissen „TINA“, also einem „there is no alternative“-Denken in uns allen.

„TINA“ – vom politischen Feuilleton bis hin zur Fachliteratur[2] wird dieser Begriff meist herangezogen, um eine als „alternativlos“[3] dargestellte policy oder einen Regierungsstil zu beschreiben.[4] Ähnlich Gumbrechts Grundeinstieg in die Thematik soll er hier weniger im Sinne von top-down als von bottom-up verstanden werden, um einen Blick auf die Nachfrageseite der Bevölkerung zu werfen: Besteht hier nicht sogar ein Bedürfnis nach Antworten im TINA-Stil?

Wenn, dann vermutlich nicht von der weitgehend unpopulären PolitikerInnengarde der Gegenwart. Doch diese Tatsache darf uns nicht vorschnell beruhigen. Denn es erscheint nur allzu logisch, dass „die vernünftigen“ und richtigen policies einer nur gering geschätzten Berufsgruppe kaum zugetraut werden. Nur weil sie von den „falschen“ PolitikerInnen vorgetragen werden, mag dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie nicht grundsätzlich goutiert werden: die TINA-Antworten auf gesellschaftliche Fragen.

Mit dieser These bewegen wir uns, dies sei zuvor eingewandt, in einem Graubereich der Wissenschaft, denn sie diskutiert gesellschaftliche Tendenzen, die sich nicht in gezielter, vielleicht sogar nicht einmal in bewusster Weise äußern. So würden wohl die wenigsten Bürgerinnen und Bürger bei einer Umfrage der Frage: „Möchten Sie mehr TINA-Politik?“, explizit zustimmen. Es gehört zu einem der grundsätzlichen Probleme der politischen Kulturforschung, dass sich unterschwellige, gleichwohl bedeutende Gesellschaftsströmungen nun mal schwierig, zum Teil gar nicht messen lassen. Nutzen wir an dieser Stelle, wie Gumbrecht, also einmal die Freiheiten eines Blogs, Gedanken anzuregen und Thesen aufzuwerfen.

Und drehen wir einmal den Spieß um und kritisieren weniger Merkel und Co. für ihre viel gescholtene „TINA“-Argumentation, sondern betrachten den Demos. Die Kritik an Parteien, an ihrem Mangel an Unterscheidbarkeit, ist gerade von Seiten der Politikwissenschaft vielfach beklagt worden. Was ist jedoch, wenn es „der Demos“ in einer abstrahierten Idealvorstellung gemeinschaftlichen Zusammenlebens gar nicht anders will? Wenn gar nicht unbedingt mehr Differenz und mehr Unterscheidbarkeit gewünscht werden, da sie meist mit mehr Uneinigkeit, mehr Streit und Konflikt und damit Ineffizienz einhergehen?

Foto: Gerald Altmann / pixelio.de

Mit der „TINA in uns allen“ sind öffentliche Diskussionen gemeint, die sich an der Vorstellung orientieren, dass richtige Politikvorstellungen existieren. Sie birgt damit Gefahren für das pluralistische Zusammenleben, ja für den Kern einer Demokratie. Denn werden „TINA“-Argumente herangezogen, ersticken sie den politischen Diskurs. Etwa indem von einem hohen moralischen Standpunkt aus argumentiert wird, der anderslautende Meinungen automatisch der Amoral bezichtigt, sie nicht als ebenbürtige Beiträge erachtet und jedwede politische Diskussion abrupt beendet.

Für gesellschaftliche Strömungen mit einem Wunsch nach TINA lassen sich zumindest Indizien finden. In Fokusgruppen erlebt man sie zum Beispiel immer wieder,[5] die Ungeduld mit der Politik. Das Unverständnis gegenüber der Tatsache, dass die (gemeint ist eine in meist mit abwertenden Adjektiven beschriebene) „Politiker-Kaste“ unfähig und unwillig sei, die eine richtige, scheinbar nahe liegende Lösung für ein Problemendlich anzupacken; dass „die“ nicht mal vernünftig, sachlich und effizient Entscheidungen treffen könnten.[6] Im Kontext des Moralbegriffes beobachtete Gumbrecht, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Göttinger Institut für Demokratieforschung in einer Reihe von Studien mithilfe von Fokusgruppenanalysen ganz ähnlich zu sehen bekamen: eine tiefe Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Parteiendemokratie, der Wunschvorstellungen zugrunde liegen, die sich an zweierlei orientieren:

  1. an von marktrationalem Denken durchdrungenen Handlungsmotiven sowie
  2. an einem überhöhten Anspruch an Demokratie und politischen Entscheidungsprozessen.
Vorteile von TINA

Gewiss gibt es Aspekte und Wege, die gegenwärtig „zweifellos richtig“ sind beziehungsweise erscheinen. Nehmen wir beispielsweise den langfristigen Ausstieg aus der Atomenergie oder die allgemeine Einsicht, das Kapital unseres Landes seien die Köpfe der Menschen und die damit zusammenhängende Schlussfolgerung, man müsse kräftig in Bildung investieren. Es mag den ein oder anderen größeren gemeinsamen Nenner geben, dem die AnhängerInnen verschiedener politischer Interessengruppen parteiübergreifend zustimmen können.

Aber unterhalb dieses gemeinsamen Nenners schlummern nicht ohne Grund die unterschiedlichsten Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Herausforderungen (von der Energiefrage bis hin zur Bildungspolitik). Den Wert ihrer Vielfalt für Bürgerinnen und Bürger bewusst zu machen und für gegenseitige Anerkennung zu werben, gehört zu den aktuellsten der gegenwärtigen Herausforderungen für die politische Bildung. Gemeint ist damit nicht der mindestens ebenso notwendige Ruf nach mehr Diversität im Sinne von soziostrukturellen Merkmalen, unterschiedlichen Altersgruppen oder Herkunftsorten von Menschen. Auch nicht die abstrakte Akzeptanz von Andersartigkeit und unterschiedlichen Lebensformen in einer multikulturellen Gesellschaft. Gemeint ist an dieser Stelle die Diversität von Meinungen und damit auch Interessen, wie sie klassisch konflikttheoretisch in der Politik- und Demokratiewissenschaft bereits seit Jahrzehnten diskutiert wird.

Schließlich ist es unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten und vor dem Hintergrund des Ideals einer pluralistischen Gesellschaft und Demokratie weniger die Verschiedenheit und Vielfalt von Lösungen als deren Einheitlichkeit, die Besorgnis erregt. Und damit einhergehend: der große Wunsch nach Einheitlichkeit. Gerade die Verschiedenheit von Parteien und Interessen sowie der Wettbewerb um die besten Ideen zeichnen eine lebendige politische Kultur aus. Der Wechsel zwischen Parteien, Koalitionen und Regierungen – und damit zwischen Positionen – ist von hohem Wert für Demokratie und Demos gleichermaßen.

Es geht also darum, den Wert von Pluralität zu vermitteln, die Akzeptanz der Andersartigkeit von Meinungen und die Legitimität von Minderheitsmeinungen zu schärfen. Das mag bereits bei Diskussionen um die Leistung von Fußballtrainern beginnen und darf nicht vor moralischen Grundsatzdebatten enden. Nach Beispielen für die zeitlose Relevanz dieses Wertes – und von den Folgen seiner Missachtung – muss man in der deutschen Geschichte nicht lange suchen.

Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. hier und im Folgenden Gumbrecht, Hans Ulrich: Moralisiertes Sportstudio, in: FAZ-Blogs, Digital/Pausen, 20.05.2011, URL: http://blogs.faz.net/digital/2011/05/20/moralisiertes-sportstudio-4/ [25.02.2013].

[2] Vgl. ebenso aktuell wie zutreffend: Claus Offe: Europa in der Falle, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2013, Seite 67-80.

[3] Dieser Begriff wurde zum „Unwort des Jahres“ 2010 gewählt. Vgl. O.V.: Sprachkritik: „Alternativlos“ ist das Unwort des Jahres, in: Spiegel Online vom 18.01.2011, online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,740096,00.html [21.02.2013].

[4] Von Margaret Thatcher bis gegenwärtig Angela Merkel, vgl. beispielhaft: Heribert Prantl: Für ‚Angie‘ kommt ‚TINA‘, in: Süddeutsche Zeitung Online vom 20.05.2010, online verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/fuehrung-fall-merkel-fuer-angie-kommt-tina-1.944947 [21.02.2013].

[5] Zuletzt im Rahmen der aktuellen Gesellschaftsstudie des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Es wachse „der Unmut über die Langsamkeit, die Unschärfe, das Kompromisshandwerk demokratisch-parlamentarischer Politik (…). Und autoritäre Lösungen mögen im Fortgang mehr und mehr Zuspruch finden. Die Hoffnungen richten sich in einem solchen Fall auf den großen, energischen, über den Einzelinteressen erhabenen Entscheidungsdezisionisten mit unzweifelhafter Kompetenz und Autorität.“ Franz Walter: Bürgerlichkeit und Protest in der Misstrauensgesellschaft, in: Stine Marg, Lars Geiges, Felix Butzlaff, Franz Walter (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert Protestbewegungen? Hamburg 2013, S. 301-343, hier S. 332.

[6] Auf derlei Ansichten stößt man/frau übrigens milieuübergreifend.