[analysiert]: Robert Lorenz und Matthias Micus über „Politische Seiteneinsteiger“
Kürzlich feierte Angela Merkel zwei bemerkenswerte Jubiläen. Seit einer vollen Dekade steht die Seiteneinsteigerin als Vorsitzende an der Spitze der mitgliederstärksten Partei, der CDU. Auch das Land regiert sie immerhin schon seit fünf Jahren. Als völlig unangefochten galt sie dabei zuletzt zwar nicht mehr. Interessanterweise wurden als ihre heißesten Nachfolgekandidaten aber regelmäßig zwei Personen genannt, die entweder selbst quer in die Politik eingestiegen sind – wie Ursula von der Leyen –, oder die sich – wie Karl-Theodor zu Guttenberg – zumindest mit Verve als Exoten des professionellen Politikbetriebes und rituellen Parteilebens inszenieren.
Und das in der Bundesrepublik Deutschland, die gemeinhin als Parteiendemokratie beschrieben wird, gekennzeichnet durch staatsverflochtene Parteien, welche die politische Willensbildung monopolisieren und deren Patronagemacht sich weit über den engen politischen Bereich hinaus auf die Besetzung etwa von Richterämtern, Lehrerstellen und Verwaltungsposten erstreckt. Ganz neu ist das Phänomen des politischen Seiteneinstieges freilich nicht mehr. In der Bundesrepublik tummeln sich Seiteneinsteiger bereits seit etwa zehn Jahren auffallend zahlreich.
Die Gründe hierfür sind offensichtlich: Das Vertrauen in „die“ Politiker ist auf Allzeit-Tiefststände gesackt, die Parteien stehen im Verdacht, bloße Selbstbedienungsläden zu sein, grundlegende Reformen traut die Mehrheit der Bundesbürger aktuell keiner von ihnen zu. Umso lauter ertönt seit einiger Zeit der Ruf nach schlauen, originellen, jedenfalls irgendwie profilierten Persönlichkeiten „von außen“. Durch einen jahrzehntelangen Parteidienst nicht verdorben, umhüllt sie die Aura des „wirklichen Lebens“. Da sie ihre Prägungen jenseits des autistischen Binnenraums der Politik erfuhren, gelten sie pauschal als innovativ, kompetent und glaubwürdig.
Das Renommee von Seiteneinsteigern verdankt sich mithin dem geringen Prestige der etablierten Politiker und Parteien und auch in den für sie ermittelten Kompetenzwerten artikuliert sich der Zorn auf die bestehenden politischen Eliten. Strahlen, heißt das, lässt Seiteneinsteiger erst der schlechte Leumund ihrer Kontrastfolie. Ihre Eignung – auch die Begeisterung der Medien – speist sich zunächst vor allem aus dem negativen Gegenbild und weniger aus positiven eigenen Fähigkeiten.
Insofern wenig überraschend, erweisen sich politische Seiteneinsteiger im Stahlbad des professionellen Politikbetriebs später regelmäßig als notorische Versager. Zumindest in der bundespolitischen Beletage – an der Spitze von Ministerien oder auf den Stühlen des Bundestags – sind ihnen für gewöhnlich keine ausgedehnten
Karrieren beschieden. Seiteneinstiege sind in der Mehrheit eher Stippvisiten als Daueraufenthalte.
Die quereingestiegenen Galionsfiguren, Sympathieträger und Wählermagneten besitzen eine kurze Halbwertszeit. Obzwar sogar die Protagonisten des Politikermilieus von Berlin Mitte den Begriff „Karrierepolitiker“ zur Selbstcharakterisierung peinlich meiden, ist es gerade dieser Politiker-Typus, den der Alltag des professionellen politischen Business voraussetzt. Denn entgegen einem gepflegten Klischee kann den Job eines Abgeordneten oder Ministers eben nicht jeder X-Beliebige umstandslos erledigen. Wider alle Berufspolitikerschelte erfordert Politik im Gegenteil spezifische Fähigkeiten und Kompetenzen.
Politiker gelangen in ihre Mandate und Ämter letztlich nicht durch Elitenentscheidungen, sondern durch Basisvoten, d.h. durch die Stimmen entweder der Wähler oder einfacher Parteimitglieder. Wirkung entfalten können sie in ihren Positionen nur, wenn es ihnen gelingt, von der Kommune bis zur Europäischen Union alle beteiligten Ebenen zusammenzubinden, die Unterstützung intervenierender Verbände zu gewinnen, kritische Parteiflügel zu überzeugen, kurz: Mehrheiten zu organisieren. Erfahrene Politiker wissen, dass sie sich den Eindruck von Bodenhaftung bewahren müssen, dass vor allem Kooperationsfähigkeit und Verhandlungstalent, die Kunst, Bündnisse zu schmieden und Verbindlichkeit auszustrahlen, gefordert sind.
Ausgewiesene Experten sind Spitzenpolitiker dagegen zumeist nicht, sie sind vielmehr in aller Regel nur rudimentär informiert. Ihre genuine Kunstfertigkeit liegt stattdessen im aufmerksamen Zuhören und in der schnellen Umsetzung des Gehörten in angemessene Entscheidungen. Im Angesicht der gnadenlosen Terminhatz und der ungeheuren thematischen Breite, mit denen sie konfrontiert sind, bleibt keine Zeit für Muße, kontemplatives Nachdenken, gar theoretische Reflexion.
Allzu großes Vorwissen erweist sich in der Politik sogar eher als Malus denn als Bonus, die zunächst als Zertifikat besonderer Tauglichkeit gewerteten Qualifikationen vorpolitischer Berufserfahrung erschweren Seiteneinsteigern oftmals die in der Politik unabdingbare Offenheit und Flexibilität. Politik ist die Kunst zum Zuhören, zur Aneignung und Umsetzung des Gehörten in angemessene Entscheidungen. Umfangreiche Vorkenntnisse, also „Vor-Urteile“, beeinträchtigen die Fähigkeit zum Zuhören, immunisieren gegen neue Information und vernebeln das Gespür für Veränderungen.
Die unter Laien verbreiteten Fehlurteile über politische Erfordernisse dürften sich parallel zum Prestigeverlust der Parteien und Politiker noch verschärfen. Denn je tiefer das Ansehen der politischen Elite, desto geringer wird die Neigung erfolgreicher Amateure ausfallen, den tradierten Verhaltensanforderungen zu genügen, desto verführerischer auch die Illusion, die bestehenden Routinen durchbrechen und die Verhältnisse radikal umgestalten zu können. Willy Brandts Aura vermochte dereinst ambitionierte Seiteneinsteiger wie Horst Ehmke und Egon Bahr zu binden und disziplinieren – aber die blasse Angela Merkel oder ihr habitueller Zwilling Frank-Walter Steinmeier?
Freilich: Selbst wenn sich Seiteneinsteiger selbstkritisch, lernbereit und offen für die Tipps der Alteingesessenen zeigen, ermangelt ihnen unverändert die politische Lehre, die „Ochsentour“, der sukzessive Aufstieg durch die Rekrutierungskanäle der Parteien. Die Ochsentour ist eben nicht reduziert auf den Aufenthalt an bierseligen Kneipenstammtischen und innerstädtischen Wahlkampfständen, die jeden „High Potential“ sofort in die Flucht schlagen würden. Durch sie eignet man sich Verständnis für die spezifische Logik des politischen Geschäfts an, erlangt wertvolles Erfahrungswissen, trainiert den Umgang mit den spezifischen Rationalitäten wie Irrationalitäten des politischen Feldes.
Kurzum: Wollen Seiteneinsteiger den Widrigkeiten des politischen Sektors standhalten, müssen sie Abschied nehmen von gewohnten Denkweisen, liebgewonnenen Konzept-Blaupausen und solitären Gestalter-Illusionen, sprich: zahlreichen Gewohnheiten ihres ursprünglichen Berufes. Merkel und von der Leyen haben das beherzigt. „Erfolg hat keiner“, formulierte kürzlich die Arbeits- und Sozialministerin gegenüber der Zeit, „der nicht mit großer Geschwindigkeit das Regierungshandwerk lernt.“ Verführerische Exoten sind sie dann freilich nicht mehr.
Dr. Matthias Micus und Robert Lorenz sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie sind Herausgeber des Sammelbandes Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie. VS-Verlag: Wiesbaden 2009 .