Vier Tage lang kamen über tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu dem alle drei Jahre stattfindenden Kongress der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) zusammen. Dieser widmete sich den „Grenzen der Demokratie“. Ein Thema, dessen Aktualität nicht von der Hand zu weisen ist: Ob die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz oder die antidemokratischen Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Türkei – die liberale Demokratie steht gegenwärtig in vielen Ländern vor Herausforderungen, sodass vielfach gar von einer „globale[n] Krise der Demokratie“[1] die Rede ist.
Mehr als 160 Panels und Podiumsdiskussionen griffen die Frage nach den „Grenzen der Demokratie“ aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf. So waren auf dem Campus Westend der Frankfurter Goethe-Universität etwa Veranstaltungen vertreten, die der Politischen Theorie, der Vergleichenden Politikwissenschaft und den Internationalen Beziehungen zuzuordnen waren. Aber auch z.B. die Perspektiven der Politischen Ökonomie und der Verwaltungswissenschaft kamen nicht zu kurz.
Zwei Veranstaltungen sollen an dieser Stelle kurz vorgestellt werden. Unter dem Stichwort „Erinnerungspolitik in Zeiten von zunehmendem Rechtspopulismus“ ging es u.a. um die Folgen des Aufstiegs der AfD für die Erinnerungs- und Geschichtspolitik sowie um einen Vergleich des Umgangs mit Geschichte durch rechtsextreme Parteien früher (NPD, DVU…) und durch die AfD sowie rechtspopulistische Bewegungen wie Pegida heute. Interessant war auch der Bericht von Christoph Kühberger (Universität Salzburg), der anhand zahlreicher aktueller Beispiele einen Einblick in die Aneignung der Geschichte durch österreichische Parteien und Bewegungen gab.
Ein weiteres Panel stand unter dem Thema „Grenzen der Demokratie: Populismus als Korrektiv vs. Populismus als Gefahr“. Hier wurden vier verschiedene Studien vorgestellt, die sich mit politischen Einstellungen beschäftigten. So ging beispielsweise Bernd Schlipphak (Universität Münster) der Frage nach, ob Bedrohungswahrnehmungen zu politischem Vertrauen oder Misstrauen führen, während Marcus Spittler (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) seine Forschung zu jungen Erwachsenen als Unterstützer populistischer Parteien präsentierte.
Mit Spannung war die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erwartet worden – es war die erste Rede eines Bundespräsidenten bei einem Kongress der 1951 gegründeten DVPW überhaupt.[2] Mit seinem Einstieg – Steinmeier, der das Staatsoberhaupt als Forschungsobjekt in den Mittelpunkt stellte, distanzierte sich vom „Grüßaugust“ und „monarchische[n] Artefakt“ – hatte er die Lacher auf seiner Seite. Doch der Bundespräsident wurde rasch ernst: Er sprach von der „neue[n] Faszination des Autoritären“ – auch in Europa –, die „Anlass zu größter Sorge“ sei, und kritisierte die „Verächtlichmachung unserer politischen Ordnung“, die gegenwärtig beobachtet werden könne. Gleichzeitig warnte Steinmeier aber vor „Hysterie und Alarmismus“: Man könne die Demokratie auch krank reden.
Der Bundespräsident, der zwischen populistischer und technokratischer Kritik unterschied, betonte, dass es nicht ausreiche „Werte hochzuhalten und ‚Weiter so!ʻ zu rufen“, wenn man die repräsentative Demokratie verteidigen wolle. Steinmeier nahm in diesem Zusammenhang die Parteien in die Pflicht: Sie müssten sich der Kritik stellen und bürgernäher werden. Gegenüber der Einführung von direktdemokratischen Elementen zeigte sich der Bundespräsident vor den versammelten Politikwissenschaftlern/-innen hingegen skeptisch.
Besonders interessant wurde seine Rede dann zum Ende hin, denn Steinmeier hob hervor, dass die Politikwissenschaft angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen „mehr denn je“ benötigt werde. Sie solle sich in öffentliche Diskussionen „noch mehr einmischen“ und „Stellung nehmen zu den großen Fragen der Zeit“. Der Bundespräsident sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, die Forschungsergebnisse in eine allgemeinverständliche Sprache zu „übersetzen“. Dass diese Vermittlungsfunktion zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit für die Karriere von Nachwuchswissenschaftlern/-innen nicht unbedingt förderlich ist, war Steinmeier bewusst. Dennoch appellierte er noch einmal, dass gerade in Zeiten, in denen die Demokratie Anfechtungen ausgesetzt sei, eine Politikwissenschaft gebraucht werde, die aus dem „Elfenbeinturm“ heraustrete und eine „starke Stimme“ in der Öffentlichkeit sei.
An diese wichtigen Anregungen konnte zwei Tage später die Podiumsdiskussion „Vom Elfenbeinturm zum Think Tank – Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Praxis“ anknüpfen. Unter der Leitung von Anja Jetschke (Universität Göttingen) diskutierten Thorsten Benner (Global Public Policy Institute), Sabine Fandrych (Friedrich-Ebert-Stiftung), Lisa Herzog (Hochschule für Politik München), Günther Maihold (Stiftung Wissenschaft und Politik) sowie Constantin Ruhe (Universität Frankfurt). Jetschke führte in das Thema ein und betonte in diesem Zusammenhang u.a. die sehr starke Ausdifferenzierung der Politikwissenschaft, mit der eine spezifischere, differenziertere Sprache einhergegangen sei. Nicht nur aus der Öffentlichkeit, sondern auch aus dem eigenen Fach komme daher der Vorwurf, Politikwissenschaft sei nicht mehr verständlich und habe die Fragen des „großen Ganzen“ aus dem Blick verloren, womit ein gesellschaftlicher Relevanzverlust verbunden sei.
In der nachfolgenden Diskussion wurden viele wichtige Aspekte des Themas zumindest angesprochen, etwa dass bereits Studierende Wissenschaftskommunikation lernen müssten. Doch ein zentraler Aspekt, den Herzog leider nur als „Vorbemerkung“ ihrem Eingangsstatement voranstellte, griff keiner der Podiumsteilnehmer/-innen auf: Das Wissenschaftssystem ist mit seinen prekären Beschäftigungsverhältnissen so gestaltet, dass Doktoranden/-innen und Postdoktoranden/-innen weder ausreichende Ressourcen für das Erklären komplexer politischer Prozesse und die Vermittlung von Forschungsergebnissen in die Öffentlichkeit noch für Kreativität und die „großen“ Praxisfragen haben.
Denn was bei Berufungsverfahren vor allem zählt, sind neben „hoher internationaler Sichtbarkeit“ zahlreiche Artikel, die im sogenannten Peer-Review-Verfahren veröffentlicht wurden. Dies zeigte sich auch beim Panel „Inside peer review – worauf es Herausgeber*innen ankommt“, das unter der Leitung von Jens Steffek (TU Darmstadt) Reinhard Blomert (Leviathan), Beate Jahn (ehemals European Journal of International Relations), Michèle Knodt (Politische Vierteljahresschrift) und Thomas König (American Political Science Review) versammelte.
König wies auf die Bedeutung von Peer-Review-Publikationen hin, die in Berufungskommissionen „Einstellungskriterium“ seien. Deren Mitglieder zählten häufig die Veröffentlichungen, ohne sie zu lesen. Die Konsequenz sei ein Publikationsdruck, der es mit sich bringe, dass Forschungsergebnisse nur leicht verändert in unterschiedlichen Fachzeitschriften erschienen. An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, wenn Steffek als Panelleiter Königs Kritik aufgegriffen hätte. Denn die von ihm beschriebene Entwicklung ist es, die dazu führt, dass die Politikwissenschaft dann doch wieder im Elfenbeinturm verbleibt.
Und so überrascht es auch kaum, dass Michèle Knodt, geschäftsführende Redakteurin der DVPW-„Hauszeitschrift“ PVS, die Frage aus dem Publikum, ob in ihrem Redaktionsteam über alternative Begutachtungsformate nachgedacht worden sei, verneinte und diesem Nein hinterherschob, dass sie auch nicht wisse, ob eine Debatte darüber komme.
So bleibt von den vier Tagen DVPW-Kongress ein gemischtes Fazit: Auf dem beeindruckenden Campus Westend wurden viele interessante Diskussionen geführt, wichtige Fragen aufgeworfen, neue Ideen für Projekte entwickelt und gerade dem „Nachwuchs“ hilfreiche Anregungen für die eigene Forschung gegeben. Gleichzeitig scheint der Wille vieler etablierter Politikwissenschaftler/-innen, den Elfenbeinturm zu verlassen und einen Mittelweg bzw. eine Kombination zwischen den „Fliegenbeinzählern“ auf der einen Seite und den „Märchenonkeln“ auf der anderen zu finden,[3] gering zu sein. Der Appell von Frank-Walter Steinmeier könnte leider verhallen.
Nachdenklich stimmt aber auch, dass die Politik und die Medien gerade in Zeiten wie diesen gern die Expertise von Sozial- und Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in Anspruch nehmen, aber der Wille der Politik gering ist, die gesellschaftliche Relevanz der Sozial- und Geisteswissenschaften in mehr entfristeten Stellen an den Universitäten zu spiegeln. Wie relevant die Gesellschaftswissenschaften sind, hat das Kongressthema „Grenzen der Demokratie“ an allen vier Tagen gezeigt; nun ist die Politik gefordert, die Grenzen, an die insbesondere jüngere Wissenschaftler/-innen im Universitätsbetrieb stoßen, zu lockern.
[1] Müller, Jan-Werner: Beschädigte Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.2018.
[2] Die Rede ist nachzulesen unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2018/09/180926-DVPW-Frankfurt.pdf?__blob=publicationFile [eingesehen am 30.09.2018].
[3] So Klaus von Beyme 2016. Zit. nach Rahlf, Katharina/Mannewitz, Tom: Von Fliegenbeinzählern und Märchenonkeln. Ein Gespräch zwischen Klaus von Beyme und Eckhard Jesse über Trends in der deutschen Politikwissenschaft, alternative Karrierewege und den Wert der Habilitation, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 5 (2016), H. 3, S. 124–137, hier S. 127.