Die grünen Neuwähler und Neuwählerinnen in Sachsen

Die Grünen (1): Die Ergebnisse der Studie in Sachsen

[präsentiert]: Im Frühling fand die dritte der Erhebung im Rahmen der Studie über grüne Neuwähler und Neuwählerinnen in Sachsen statt. Christian von Eichborn und Michael Lühmann präsentieren einige Ergebnisse.

Der grüne (Umfragen-)Höhenflug scheint vorbei. Krönte noch im Frühjahr 2011 der Sieg Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg den grünen Aufschwung, der seit 2010 zu spüren war, verschlechterten sich spätestens seit der Berlin-Wahlim November 2011 wiederum die Machtperspektiven der Partei in den Ländern. Parallel hierzu stieg erst langsam, in den vergangenen Wochen dann schlagartig die Zustimmung zur Piratenpartei. Um den bisweilen hektischen demoskopischen Befunden eine tiefer gehende Analyse an die Seite zu stellen, hat im Frühjahr 2011– in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung – eine Forschungsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratieforschung begonnen,diesen Prozess über ein Jahr mit einer qualitativen Studie zu begleiten.Ziel dieser Studie war es, in drei Bundesländern – Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen – Einstellungsmuster und Werthaltungengrüner Neu- und zum Vergleich auch grünerStammwähler_innen zu explorieren. Die drei Teilstudien dienten dazu, die kurzfristigen Modeerscheinungen von möglichen langfristigen gesellschaftlichen Verschiebungen unterscheiden zu können. Handelt es sich also beim grünen Aufschwung um einen vorübergehenden Zeitgeisteffektoder ist dies darüber hinaus Ausdruck eines grünen Wertewandels –  im Sinne einer Verschiebung bzw. Umdeutung spezifischer gesellschaftlicher Werte?Und hält dieser im demoskopischen Abschwung dennoch an?

Die baden-württembergischen Erhebungen zeigten: Beides– temporäre wie dauerhafte – Gründe erklär(t)en das grüne Hoch. So stand einem kurzfristig erhofften Wechsel des Politikstils mithilfe der Grünen und einer starken Frontstellung gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Mappus zugleich der Befund einerdeutlich spürbaren Werteverschiebung gegenüber. Hinweise auf eine solche Verschiebung bei den neuen Grün-Wähler_innen fanden sich etwa im Rückgang der Leistungsbegeisterung, zudem in der Abwendung von der bundesrepublikanischen Leiterzählung des gesellschaftlichen Fortschritts durch ewiges (Wirtschafts-)Wachstum. Nicht zuletzt drückte sich auch in einer veränderten Wahrnehmung der Generationengerechtigkeit, die weniger als soziale Frage verhandelt wurde, sondern vielmehr in die Formel „Wir müssen die Erde für unsere Kinder und Enkel erhalten“ mündete, eine Verschiebung im Wertehaushalt aus. Gleichwohl handelte es sich eher um Indizien denn um handfeste Belege. Dies führte zum Schluss, dass ein Wertewandel, der den Grünen dauerhaft nutzen könnte, allenfalls gerade erst vor der Tür steht. Überdies zeigte die erste Untersuchungswelle, dass (noch) kein solides Wertefundament existiert, über das sich alte und neue Wähler verständigen können.

Die Ergebnisse aus Schleswig-Holstein bestätigten diese Ergebnisse auf der Ebene der Werte in weiten Teilen.Insbesondere die Skepsis gegenüber Leistung, Fortschritt und Wachstum fand deutliche Bestätigung, wohingegen die vielfach über die Nachhaltigkeit diskutierte Generationengerechtigkeit schwächer ausgeprägt war. Was sich indes in Schleswig-Holstein bereits andeutete, ist eine geringere Hoffnung in politische Regelungskompetenz. In Baden-Württemberg verband sich Hoffnung auf die Veränderung der Politik noch sehr viel stärker mit den Grünen, als dies in Schleswig-Holstein der Fall war. Zwar galten auch im Norden die Grünen weitgehend als die einzige Partei, die der Glaubwürdigkeitskrise der Politik etwas entgegenzusetzen vermochten, allerdings war die Hoffnung auf tatsächliche tiefgreifende Veränderungen – auch aus landesspezifischen Gründen – geringer. Deutlich wurde dort auch, dass das Thema Umweltpolitik mit größerem Abstand zu Fukushima an Relevanz verloren hatte. Dennoch wurden die Grünen auch hier bei den potentiellen Neuwähler_innen als hoffnungsvoller Akteur eines möglichen Wechsels wahrgenommen, wenn auch weit weniger euphorisch als in Baden-Württemberg. Gleichwohl war auf dem Fundament einer Wertverschiebung hin zu grün anmutenden Werthaushalten und auf der Basis eines Vertrauensvorsprungs vor den anderen Parteien eine deutlich verbreiterte Wählerschaft entstanden, die zwar nicht als Vorreiter, wohl aber als Unterstützer grüner Politik gelten konnte.

Aber sind diese Ergebnisse auch auf Sachsen übertragbar, einem Bundesland, welches seit 1990 von der CDU dominiert wird? Einem Land, in dem die Grünen 1999 gerade einmal 2,6 Prozent erzielten und sich ihre Parteiengeschichte so deutlich von der altbundesrepublikanischen unterscheidet? Und, darüber hinaus, lassen sich die Ergebnisse, angesichts eines rapiden demoskopischen Hinzugewinns der Piratenpartei bei gleichzeitigem Abschmelzen des Vorsprungs der Grünen, überhaupt übertragen? Die Vielfältigkeit der Fragen verweist bereits auf die Antwort: hauptsächlich Nein. Da im Folgenden nicht alle Punkte angesprochen werden können, werden hier exemplarisch drei Ergebnisse vorgestellt. Das erste betrifft die Werteebene, das andere die Sicht auf zentrale Politikfelder und das dritte die Sicht auf die Grünen. Desweiterenwird auch hier auszuloten sein, inwieweit sich eine Verschiebung in Werthaltungen feststellen lässt und ob sich hierauf Zustimmung zu den Bündnisgrünen begründen lässt.

Die Ungleichheit, die sie fühlen

Die Wertedebatten in Sachsen zirkulierten um den zentralen Begriff der Gerechtigkeit – dieser Wert erfuhr über alle Gruppen hinweg eine starke Präferenz für. Obwohl der Wert der Gerechtigkeit, so häufig er auch vorgetragen wurde, zwar normativ nahezu durchweg positiv besetzt ist, scheitert er, laut Diskussionsteilnehmer_innen, vielfach an der von ihnen wahrgenommenen Realität . Nicht das Positivbild einer – existierenden oder zu schaffenden – gerechten Gesellschaft bildet den Humus des Gerechtigkeitsdenkens, sondern eine in unterschiedlichen Facetten wahrgenommene Ungerechtigkeit. Darunter liegt vor allem eine immer wieder hervorgebrachte Kritik an der Wirtschaft. Gerechtigkeit und Ehrlichkeit können in einer Marktwirtschaft, auch in einer sozialen, nicht erwartet werden. Das Gegenteil ist der Fall. Ungleichheit und Unehrlichkeit sind für die materialistisch argumentierenden Neuwähler_innen die zu akzeptierenden Grundvoraussetzungen für das bundesdeutsche Wirtschaftssystem. Zwar stoßen die voranschreitende Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die damit einhergehende Zersetzung von Werten wie Ehrlichkeit oder Gerechtigkeit insbesondere bei den postmaterialistisch geprägten Neuwähler_innen auf Kritik, gegen Aussagen wie „Geld regiert die Welt“ haben diese jedoch, außer moralischen Einwänden, nicht viel entgegen zu setzen.

Gerechtigkeit ist mithin viel stärker aus einer Differenzerfahrung heraus ein nahezu utopischer Ort, der Wert ist die Antithese zur wahrgenommenen Ungerechtigkeit, die sich vor allem aus einer gefühlten wie realen Ungleichheit ergibt. Die ungleiche Bezahlung zwischen Ost und West, auch zwischen Männern und Frauen, die ungleichen Bedingungen in der Rechtsprechung, ebenso in der Verteilung von Reichtum und fehlende Chancengerechtigkeitlassen ein starkes Ungerechtigkeitsgefühl selbst in den wirtschaftlich besser situierten Gruppen deutlich hervortreten. Dahinter steht gleichwohl keine Idee einer nach Gleichheit strebenden Gesellschaft, wie die Abgrenzungsdebatten gegenüber Hartz-IV-Empfänger_innen zeigen. Vielmehr reduziert sich Gerechtigkeit – vor allem in den Neuwähler_innengruppen – auf den Wunsch nach monetärer Besserstellung und weniger auf das Ideal einer gerechten Gesellschaft, welches vom mehr oder weniger alltäglichen Ungleichheitsgefühl weitgehend überdeckt wird. Erst wenn diese Ungleichheiten ausgeräumt sind, wird zum Vorschein treten, was eine gerechte Gesellschaft mehr leisten kann, wie viel partizipatorisches Ideal und wie viel partikulares Interesse sich im Gerechtigkeitsbegriff der befragten Neuwähler_innen finden lässt. Bei den sächsischen Altwähler_innen wird Gerechtigkeit auf zweierlei Weise interpretiert. Zum einen in Verbindung mit Solidarität, als utopisches Ideal einer „gerechten Gesellschaft“, einer Gesellschaft von gleichen, die von solidarischem Miteinander geprägt ist. Zum anderen, etwas alltagsnäher, im Sinne einer vermissten Leistungsgerechtigkeit – im Berufsleben gehe es oftmals ungerecht  zu, da gleichwertige Leistung nicht gleich entlohnt werde. Trotzaller Skepsis, dass die bestehenden Ungleichheiten abgebaut werden, fällt in Sachsen, deutlicher als in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, die hohe Relevanz der Ausbildung auf, die als eine der wenigen Möglichkeiten gilt, der Zwei-Klassen-Gesellschaft zu entkommen.

Bildung statt Umwelt

Sensibilisiert durch den Rücktritt des sächsischen BildungsministersRoland Wöller, aber auch angeregt durch die neueste Studieüber ungleiche Bildungschancen, waren es die Schulen und Kitas, die im Mittelpunkt der inhaltlichen Debatten standen. Uneinigkeit herrscht über die Qualität des Schulsystems. Die Kontroverse, was gut und was schlecht im sächsischen Schulsystem ist, zieht sich quer durch die beobachteten Wählergruppen. Die Pisa-Studie wurde immer wieder als Referenz herangezogen, um die Qualität des sächsischen Schulsystems hervorzuheben. Durchgängig war aber auch die Kritikan der Unzulänglichkeit des Bildungssystems. Mangelnde Durchlässigkeit, wie sie jüngst dem sächsischen Bildungssystem bescheinigt wurde, kam deutlich zur Sprache. Die Kritik ging so weit, dass im Bildungssystem eine Gefahr für die Verschärfung des Unterschiedes zwischen Ost- und Westdeutschland gesehen wurde. Die Abwanderung der Hochqualifizierten, die den Selektionsprozess der Schulausbildung durchgestanden haben, führt zu einem Gefühl des „Zurückgelassen-Seins“. Die mangelnde Durchlässigkeit wird demnach mittelfristig als Standortnachteil des Bundeslandes empfunden. Der studentische Zuzug nach Dresden und Leipzig kann diese Zweifel nicht zerstreuen.

Diese Argumentation überträgt sich in den individuellen Lebensbereich. Bildung wird immer wichtiger und scheint die einzige Möglichkeit zu sein, dem eigenen drohenden sozialen Abstieg entgegenzuwirken. Gleichzeitig wird angezweifelt, wie ehrlich es ist, den eigenen Kindern zu versprechen, Anstrengung in der Schule führe – in Ostdeutschland – zum Erfolg. Die hohe Arbeitslosigkeit Leipzigs bildet hier den Hintergrund für die Zeichnung einer versagenden Bildungspolitik in Sachsen. Wohlsituierte Väter und Mütter – Ingenieure/Ingenieurinnen und Lehrer_innen – sehen, wie schwer es für die eigenen Kinder ist, Beruf und Familie zu koordinieren und gehen hart mit denjenigen ins Gericht, die dem liberalen Leistungsethos unreflektiert frönen, selbst wenn diese bereitwillige Wechselwähler sind. Bildungspolitik ist auch deshalb innerhalb der Wechselwählergruppen von so großer Relevanz, weil es als einziges Handlungsfeld erscheint, auf dem die Landespolitik wirken kann.

Die Neuwähler_innen, die in der Wertediskussion einem postmaterialistischen Argumentationsmustern gefolgt sind, neigen dazu, den Selbstzweck von Bildung hervorzuheben. Die Forderung nach höherer Finanzierung der Bildung – angemahnt werden hier 10 Prozent des BIP – ist häufig der Anknüpfungspunkt für materiell argumentierende Neuwähler_innen, die vor dem Hintergrund der Wettbewerbsfähigkeit und des Standortvorteils Deutschlands in der globalisierten Welt die gleichen Forderungen ausformulieren. Innerhalb der Fokusgruppengespräche hat sich allerdings keine nennenswerte Auseinandersetzung über den „Zweck“ von Bildung entwickelt – die allgemeine Forderung nach einem etatmäßigen Aufstockung des Bildungshaushaltes konnte die grundverschiedenen Positionen zu Bildung – Selbstzweck oder Zweckdienlich – überbrücken. Besonders innerhalb des wohlhabendenNeuwähler_innenklientels stehen die Grünen vor bildungspolitischen Integrationsproblemen, tritt der aufgedeckte Widerspruch hier doch besonders deutlich hervor.

Am deutlichsten wurde der große Druck innerhalb des Bildungssystems in den Altwähler_innengruppen problematisiert. Die Forderung nach der Möglichkeit, auch „Scheitern“ zu können, fand großen Zuspruch. In der Bildungspolitik liegen für die Grünen die größten Möglichkeiten, die dazugewonnenen Wähler_innen in Sachsen zu binden. Kein anderes Thema hat derart emotionalisiert, nicht die Umweltpolitik und auch nicht der Atomausstieg. Beide Themen wurden nur am Rande und teils sehr widersprüchlich diskutiert.

Piraten und Grüne

In allen drei beobachteten Wähler_innensegmenten waren die Piraten ein Thema. Ihnen wurde konsequent die ehemalige Rolle der Grünen zugesprochen. Sie stehen symbolisch für den Versuch eines Neuanfangs. Die grundsätzliche Wechselbereitschaft der Neuwähler_innen findet auch Ausdruck in ihrer Interpretation der neu aufgekommenen Partei. Die Piraten stehen für Protest, sind nicht etabliert und haben eine Chance verdient, sich zu beweisen. In den wohlhabenderen Neuwähler_innengruppen wird vermutet, dass die Piraten das Parteiensystem aufrütteln werden, die alten verkrusteten Parteien vor sich her treiben können. Argumentativ bilden sie den Gegenpol zum beanstandeten CDU-Filz; den Grünen wird diese Funktion – im Gegensatz zu Baden-Württemberg –in Sachsen nicht zugesprochen. Auch weil die in allen Gruppen präferierte rot-grüne Koalition ein aussichtsloses Szenario darstellt. Eine klare inhaltliche oder habituelle Abgrenzung zu den Piraten war in keiner der Gruppen zu beobachten.

Gleichwohl sind die Neuwähler_innen insgesamt skeptisch gegenüber der Zukunftsfähigkeiten des neuen Parteiprojektes. Protest und Inhaltsleere werden mit den Piraten genauso verbunden wie die Möglichkeit einer zukünftigen Regierungsbeteiligung. Der ironische Ton, mit dem über die Piraten diskutiert wird, soll ganz offensichtliche Sympathien unterdrücken, die man vor der Gesamtgruppe nicht in aller Deutlichkeit artikulieren möchte. Die Begeisterung des politischen Neuanfangs schwingt bei den Wechselwähler_innen mit, fasziniert und lässt unrealistische Projektionen entstehen. Mit den Piraten verbindet sich noch keine Enttäuschung und aufbauend auf der unscharfen Programmatik werden etliche unbegründete Heilserwartungen mit der Neupartei assoziiert. Vielleicht sind es ja sie, die für soziale Gerechtigkeit oder eine Rücksetzung des Renteneintrittsalters kämpfen werden. Die Piratenpartei bildet für die ungebundenen, thematisch nur teilweise mit den Grünen verknüpften Neuwähler_innen eine ernstzunehmende Alternative, auch wenn diese bisher nicht so klar ausformuliert wird.

Es ist der Erfolg der Grünen, der ihnen im Umgang mit den Piraten zum Verhängnis wird. Das Wirken grüner Themen in die gesamte Gesellschaft hat den Gedanken aufkeimen lassen, die Partei selbst würde nicht mehr gebraucht. Die Piraten stehen für ein neues Thema, das es zu etablieren gilt – wie genau es jedoch heißt, dieses Thema, wird in den Gruppen nicht genannt.

Zeitgeisteffekt oder Wertewandel?

Diese Unverbundenheit, wenn man so will, von Bewegung und Ziel, ist eine der deutlichsten Ergebnisse aus den sächsischen Erhebungen, die sich in der Rückschau möglicherweise schon in Schleswig-Holstein angedeutet haben. In Baden-Württemberg schien evident, dass die Bündnisgrünen von einem Zusammenspiel von Zeitgeisteffekt und Wertewandel hatten profitieren können. Auch in Schleswig-Holstein galt dies, mit leicht abnehmender Tendenz in beiden Bereichen. In beiden Ländern ließ sich eine Werteverschiebung feststellen, die eine darauf aufbauende Zustimmung zu den Grünen auch auf längere Sicht möglich erscheinen ließ. Diese Verbindung wurde bestärkt durch eine die Grünen tragende positive Grundstimmung, die der Partei vor allem einen Vorschuss an Vertrauen und an Kompetenz in aktuell wichtigen Politikfeldern – allen voran der Umweltpolitik – zubilligte.

In Sachsen hingegen fällt die Antwort weitaus ambivalenter aus. Zum ersten zeigte sich, dass der grüne Vertrauensvorschuss, wie im vorangegangenen Abschnitt bereits beschrieben, weitgehend verschwunden scheint. Gleichwohl können auch landesspezifische und parteispezifische Grundannahmen der Befragten hier eine verstärkende Rolle spielen.

Relativ unstrittig ist hingegen, dass sich auch in Sachsen, und über die Altwähler_innen hinaus, Versatzstücke einer Werteverschiebung konstatieren lassen, wie sie auch schon in den anderen Bundesländern zu beobachten war. Allerdings ist die Leistungskritik weit weniger ausgeprägt und besitzt auch eine andere Stoßrichtung, wie sie in der Bildungsdebatte bereits angedeutet worden ist. Aber auch Fortschritt und Wachstum werden durchaus kritisch diskutiert, wobei Nachhaltigkeit und Eigenverantwortung als Lösungsstrategie eine geringere Rolle spielen. Insbesondere fiel dieser Unterschied im Bereich des verantwortlichen Konsumverhaltens als Lösungsstrategie der Vielen auf. Diese in den anderen untersuchten Bundesländern dominierende Lösungsstrategie kam in Sachsen nur sehr selten vor. Andererseits ist die eigene Verantwortung, etwa bezüglich des Umgangs mit Krisen durchaus ein, wenn auch diffuser, Anspruch an sich selbst. Auch weil der Politik nicht automatisch eine Zuständigkeit  zugesprochen wird und Beschränkungen politischer Regelungsfähigkeit angenommen werden.

Interessant hingegen erschien im Rahmen der Erhebung der Umstand, dass zwischen den Altwähler_innen in Sachsen und den Altwähler_innen in den untersuchten westdeutschen Bundesländern in vielen Bereichen nicht sehr weit auseinanderliegen. Die sächsischen Altwähler_innen vertreten größtenteils „urgrüne Werte“ und Ansichten – wenngleich in sehr gemäßigtem Duktus. Auffällig – und in gewissem Maße unterschiedlich zu den westdeutschen Altwähler_innen –  sind lediglich zwei Punkte. Erstens scheint hier weniger die Ökologie als vielmehr das Ideal einer freien, solidarischen und gerechten Gesellschaft das einigende Band zu sein; zweitens finden sich vergleichsweise häufig der Rekurs auf christliche Werte – was die spezifisch ostdeutschen Ursprünge von Bündnis 90 in der protestantischen Bürgerrechtsbewegung noch einmal deutlich vor Augen führt.Zudem – auch das eint diese Gruppen in allen betrachteten Ländern – zeichnensich die Altwähler_innen in den Gesprächsrunden durch große Harmonie aus. Sie alle sind sich erstens in relevanten politischen Fragen weitestgehend einig; und zweitens stimmen sie alle darin überein, dass die Grünen eben doch die „beste“ Partei sind, äußern durchweg hohe Zufriedenheit mit „ihrer“ Partei. In Anbetracht des Abschmelzens der Stammwählerschaften bei nahezu allen anderen Parteien ist diese ein für die Partei recht positiver Befund.

Ein ähnlicher Befund lässt sich für die untersuchten Neuwähler_innen indes nicht bestätigen. Wenngleich Einigkeit über die Notwendigkeit einer gerechteren Gesellschaft besteht, gibt es kaum eine einigende Klammer, die Wege dorthin verbindend und verbindlich erscheinen lassen würde. Ebenso fehlt vielfach, anders als bei den Altwähler_innen, der Glaube an die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Situation. Die Politik allgemein und auch die Grünen im Besonderen weisen da kaum einen Ausweg. Letztlich zeigt in diesem Umstand zugleich, dass potentielle, zu den Grünen tendierende Wechselwähler_innen untereinander, aber auch im Vergleich zu den Altwähler_innen,in ihren Ansichten sowie in der Wahrnehmung der Bündnisgrünen weit voneinander entfernt sind. Eine positive Besetzung von Begriffen und Politiken ist in Sachsen zudem weit weniger mit den Grünen verbunden als in den anderen Ländern – erklärbar mutmaßlich auch aus der zeitlichen Entfernung zur nächsten Wahl.

Insgesamt lässt sich die Frage nach Zeitgeisteffekt oder Wertewandel über den Verlaufszeitraum der gesamten Studie mit einem doppelten Ja beantworten. Erstens ist der grüne Höhenflug,  von einem den Grünen zugeneigten Wertewandel unterfüttert, der auch im Abschwung anhält. Und zweitens wurde dieser Höhenflug in großen Teilen getragen von einem grünen Zeitgeist, der aber nicht automatisch zu einer elektoralen Bestätigungder Partei führen muss. Die Finanzkrise, der vermeintliche Rückgang der Bedrohung der Ökologie und der Höhenflug der Piraten scheinen derzeit einen verbindlichen Konnex zwischen Wertverschiebung und Partei zu verhindern. Dennoch sollte die Bedeutung der – in den Untersuchungen explorierten und weitgehend bestätigten – Verschiebungen auf der Ebene der Werte nicht unterschätzt werden. Bieten doch Veränderungen von Mentalitätsströmen, wenn sie denn politisch wie lebensweltlich aufgegriffen werden, Möglichkeiten einer langfristigen Erweiterung des Wähler_innenpotentials.

Christian von Eichborn und Michael Lühmann arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Den vollständigen Bericht zur dritten Erhebung sowie zu den ersten beiden Wellen finden Sie hier. Weitere Informationen zum Forschungsprojekt „‚Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel?‘ Die neuen grünen Wähler_innen gibt es hier.