In der deutschen Medienöffentlichkeit spielten Intellektuelle zuletzt kaum eine Rolle. Anders ist es in Frankreich, wo sich Intellektuelle seit mehreren Monaten häufig zu unterschiedlichen Themen zu Wort melden. Zum einen wollen sie damit auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen. Zum anderen geht es ihnen darum, die Politik von Staatspräsident Emmanuel Macron und der Regierung unter Premierminister Edouard Philippe zu kritisieren.
Ein prägnantes Beispiel hierfür sind mehrere Stellungnahmen von Intellektuellen im Magazin L’Obs vom 11. Januar 2018. Während Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio dort eine „unerträgliche Negierung von Menschlichkeit“[1] in der Flüchtlingspolitik des Staatspräsidenten ausmachte, warf der Historiker Patrick Boucheron der Regierung diesbezüglich eine „Verachtung der Menschenrechte“[2] vor. Untermauert wurde ihre Kritik von der Titelseite des L’Obs: Es zeigte Emmanuel Macron hinter Stacheldraht. Darunter war auf Französisch zu lesen: „Migranten: Willkommen im Land der Menschenrechte …“.[3]
In den nachfolgenden Wochen reihten sich derartige Stellungnahmen dicht aneinander. So sprachen sich beispielsweise in der Le Monde-Ausgabe vom 16. Januar 2018 auf Initiative der Soziologin Irène Théry über hundert Persönlichkeiten dafür aus, dass Frankreich die aus einer rechtmäßig im Ausland erfolgten Leihmutterschaft hervorgegangenen Kinder offiziell anerkennt. Unter den Unterzeichnern befanden sich z.B. die Philosophin und Feministin Elisabeth Badinter, der Historiker Pierre Rosanvallon und die Schriftstellerin Annie Ernaux.[4]
Zuletzt war es das „Manifest ‚gegen den neuen Antisemitismusʻ“, welches nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern für Aufmerksamkeit gesorgt hat: Die Autoren des neuen Sammelbandes „Le Nouvel Antisémitisme en France“ – darunter der frühere Chefredakteur von Charlie Hebdo, Philippe Val, der Schriftsteller Pascal Bruckner sowie der Philosoph und frühere Bildungsminister Luc Ferry – wandten sich in ihrem Aufruf gegen den in Frankreich grassierenden Judenhass, der u.a. in elf Morden jüdischer Mitbürger seit 2006 zum Ausdruck komme. Die Petition, am 22. April 2018 in der Tageszeitung Le Parisien veröffentlicht, wurde von über 250 Intellektuellen, Politikern, Schauspielern, Sängern etc. unterzeichnet, etwa von den Künstlern Charles Aznavour und Gérard Depardieu, dem Philosophen und Politologen Pierre-André Taguieff, der Soziologin Dominique Schnapper, dem früheren Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und dem letzten Premierminister, dem Sozialisten Bernard Cazeneuve.[5]
Doch was erklärt dieses große Engagement der Intellektuellen? Sie haben, so lautet die Antwort, vor allem eine Lücke für sich genutzt, die durch die Schwäche der Oppositionsparteien entstanden ist. Diese sind seit den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2017 in der öffentlichen Debatte kaum hörbar, da sie vor allem mit sich selbst beschäftigt sind. Das gilt sowohl für die Sozialistische Partei (Parti socialiste), die Kommunistische Partei Frankreichs (Parti communiste français) und die Bewegung La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon auf der linken Seite des Parteienspektrums als auch für die Republikaner und die Front National als rechte Oppositionsparteien.
Die Tageszeitung Le Monde schrieb daher sogar, dass man den Eindruck gewinnen könne, einige Intellektuelle seien die Hauptopponenten von Macron und der Regierung. Auch erscheine es so, dass es weniger die Debatten im Parlament als vielmehr die in den Medien geführten Diskussionen seien, die politische Folgewirkungen hätten. Mit anderen Worten: Politisches Leben erfindet sich außerhalb der traditionellen Mauern neu, was auch in der Zunahme neuer Zeitschriften oder Internetseiten zum Ausdruck kommt, in denen es um Analysen und Debatten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen geht. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u.a. die ultrakonservative Monatsschrift L’Incorrect, das christlich-ökologische Magazin Limite und die antikapitalistische Website lundimatin.
Daneben kommt den Intellektuellen in der gegenwärtigen Situation zugute, dass umstrittene Themen zur Genüge vorhanden sind, von der Bioethik bis zur Laizität. Denn während die Regierung in ökonomischen und sozialen Fragen entschlossen handelt, zeigt sie sich auf gesellschaftspolitischer Ebene unbestimmt, ja z.T. zerstritten. In einer Zeit der politischen und ideologischen Neuzusammensetzung sind die Intellektuellen infolgedessen ein gefragter Kompass.
Auch wenn es gerade in Frankreich in der Vergangenheit immer wieder Interventionen von Intellektuellen in die politischen und gesellschaftlichen Debatten gab, so ist gegenwärtig doch etwas Neues festzustellen: Die Stellungnahmen werden in der Regel nicht von Personen unterschrieben, die allesamt einer schon bestehenden Denkschule angehören. Vielmehr handelt es sich um „dem Anlass entsprechende Allianzen, bei denen man sich gegenseitig anruft, um zu sagen, dass es super wäre, die Unterstützung von dem und dem zu haben“, so kürzlich einer der prominenten Intellektuellen Frankreichs, Bernard-Henri Lévy.[6] Zuletzt zeigte das „Manifest ‚gegen den neuen Antisemitismus‘“ dies eindrücklich: Die Unterzeichner gehörten unterschiedlichen politischen Lagern bzw. Denkrichtungen an oder ließen sich nicht einordnen.
Offiziell haben der Staatspräsident und die Regierung mit diesen vielfältigen, sie z.T. scharf kritisierenden Wortmeldungen kein Problem, im Gegenteil: Das gegenwärtige Engagement der Intellektuellen, so die Unterstützer von Emmanuel Macron, sei der Preis, der für den durch ihn bewirkten Umsturz der politischen Landschaft gezahlt werden müsse. „Dieses bürgerschaftliche und intellektuelle ‚Empowermentʻ […] ist in gewisser Weise die Konsequenz von dem, was wir im Präsidentschaftswahlkampf angestoßen haben, als Emmanuel Macron die Gesellschaft dazu aufgerufen hat, die Macht zu übernehmen über das übliche politische Spiel. Wir müssen das positiv sehen, auch wenn wir nicht immer einverstanden sind mit der und der Stellungnahme“, so in diesem Zusammenhang Stanislas Guerini, der für Macrons Partei La République en Marche (LRM) in der Nationalversammlung sitzt und ein Vertrauter des Staatspräsidenten ist.[7] In Wirklichkeit soll sich dieser aber über einige Interventionen sehr geärgert haben.
Diese Reaktion überrascht nicht, hatte sich Macron doch schon während seines Präsidentschaftswahlkampfes sehr negativ gegenüber Frankreichs „Starintellektuellen“ wie Alain Finkielkraut, Michel Onfray oder Emmanuel Todd geäußert, während er „echte Denker“[8] wie Jürgen Habermas gelobt hatte. Man darf also gespannt sein, wie sensibel Macron in der nächsten Zeit auf kritische Worte aus der intellektuellen Öffentlichkeit reagiert und ob bald von einem „Wiederaufleben der politischen Macht der Intellektuellen“[9] in Frankreich gesprochen werden kann.
Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Zit. nach Bonnefous, Bastien/Royer, Solenn de/Truong, Nicolas: Macron sous l’œil des intellectuels, in: Le Monde, 04./05.02.2018.
[2] Zit. nach ebd.
[3] Die Titelseite des LʼObs vom 11. Januar 2018 ist anzusehen unter URL: https://www.nouvelobs.com/monde/migrants/20180109.OBS0364/le-clezio-le-tri-des-migrants-un-deni-d-humanite-insupportable.html [eingesehen am 29.04.2018].
[4] Vgl. André, Michèle et al.: „On ne peut plus ignorer les enfants nés par GPA“, in: Le Monde, 16.01.2018.
[5] Vgl. Abécassis, Eliette et al.: Manifeste „contre le nouvel antisémitisme“, in: LeParisien.fr, 21.04.2018, URL: http://www.leparisien.fr/societe/manifeste-contre-le-nouvel-antisemitisme-21-04-2018-7676787.php [eingesehen am 29.04.2018].
[6] Zit. nach Bonnefous/Royer/Truong: Macron sous l’œil des intellectuels.
[7] Zit. nach ebd.
[8] Zit. nach ebd.
[9] So der Politikwissenschaftler und Soziologe Laurent Jeanpierre. Zit. nach Truong, Nicolas: „L’intellectuel ne retrouvera pas seul sa gloire passée“, in: Le Monde, 04./05.02.2018.