[gastbeitrag]: Saskia Richter ordnet die Studie zu den Grünen NeuwählerInnen in Sachsen ein.
Die Grünen (3): Die Ergebnisse der Studie in Sachsen
Der grüne Höhenflug, angetrieben durch die Atomkatastrophe von Fukushima und dem Öldesaster im Golf von Mexiko, scheint seit den jüngsten Erfolgen der Piratenpartei vorüber. Auch in Sachsen war er ein Thema, obwohl die Grünen dort traditionell eher schwach sind. Erst seit 2004 sind sie wieder im Parlament vertreten, 2009 erreichten sie 6,4 Prozent, neun Mandate und knapp vier Prozent weniger als die FDP. 1.300 Mitglieder zählte der Landesverband im Jahr 2011, der allerdings überraschenderweise weniger Mitglieder verliert als die Landesverbände anderer Parteien.[1] Deshalb fühlen sich die Grünen in Sachsen derzeit „so stark wie nie“, sagt die Landesvorsitzende Claudia Maicher.[2] „Zeitgeisteffekt oder grüner Wertewandel?“, fragen deshalb auch die Göttinger Demokratieforscher und haben – nach den Untersuchungen für Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein – den dritten Teil ihrer Studie über Wählerinnen und Wähler von Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen vorgelegt. Ihr Ergebnis: Sachsen ist anders als die relativ arbeitsmarktstarken Bundesländer im Westen: Zwar werden die Grünen auch in Sachsen in Städten und von Leistungsträgern gewählt. Doch diejenigen, die überdurchschnittlich gut verdienen, grenzen sich gegenüber einem sozialen „Unten“ anders als in anderen Bundesländern nicht ab. Thematisch dominieren weniger die Umwelt- als die ökonomischen Krisen.
Nicht erst seit der Energiewende besetzen auch Sozialdemokraten und Union die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit. Um das Bewahren der Umwelt hat sich sogar ein eigener Wirtschaftszweig gebildet, während halb Deutschland mittlerweile die Vorgärten bepflanzt. Umweltbewusst zu leben – wie es die Grünen AltwählerInnen auch in Sachsen präferieren (S. 68) – ist nicht mehr der gesellschaftlichen Entwicklung voraus, sondern mitten drin. Ökologie ist neben der Digitalisierung das Thema des 21. Jahrhunderts. Anders in Sachsen: Bei NeuwählerInnen spielt der Wert der Nachhaltigkeit eine untergeordnete Rolle (S. 20), dieser Wert hat sich bei den WählerInnen der Grünen generell von der Ökologie entkoppelt (S. 41). Gleichzeitig ist der Wert Eigenverantwortung eher eine Haltung in Abgrenzung zur politischen Realität der DDR als eine Ermöglichungsstrategie – anders als in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg (S. 18 + 19). Sachsen scheint noch etwas anders zu funktionieren als der Rest der Republik.
Den NeuwählerInnen der Grünen sind zudem nicht die Umweltkrisen präsent, die die Alt-WählerInnen zur Wahl mobilisieren, sondern die ökonomischen Krisen des Euro-Raumes (S. 87). Die offenen Grenzen nach Tschechien und Polen werden von vielen NeuwählerInnen als Bedrohung empfunden, während AltwählerInnen die Öffnung als kulturellen Gewinn wahrnehmen (S. 14). Multikulti ist nicht mehr ein gemeinschaftliches Ziel, sondern löst bei der wirtschaftlich angespannten Lage Unbehagen aus. Einig sind sich Neu- und AltwählerInnen in der Ablehnung des CDU-Filzes in Sachsen, der in den 1990er Jahren unter den Regierungen Kurt Biedenkopf und Georg Milbradt entstanden ist. Mittlerweile wird auch nicht mehr vor einer Kritik an den politischen Landes-Institutionen halt gemacht (S. 88): Die politische Kultur hat sich durch den Sachsensumpf verändert. Mit den Piraten, so hoffen deren NeuwählerInnen, soll nun ein neuer Wind ins Land kommen, der vom Einsatz direktdemokratischer Instrumente angefacht wird. Die Grünen könnten hier ansetzen und Instrumente der digitalen Demokratie verstärkt einsetzen[3] und so das Zeitgeist-Thema und Ökologie mit dem Megatrend der Digitalisierung und dem Tool Internet verbinden.
Die Göttinger Studie stellt die sichtbare Diskrepanz zwischen AltwählerInnen und NeuwählerInnen dar, zu deren Überbrückung eine Klammer fehlt. „Ein grüner Wachstums-, Fortschritts- und Leistungsbegriff hätte durchaus die Chance, einigen der Orientierung suchenden WechselwählerInnen eine neue politische Heimat zu bieten.“ (S. 92) Doch der Begriff des Green New Deal sei noch nicht einmal bei den AltwählerInnen präsent (S. 92). In der politischen Kommunikation der Partei scheint etwas schief gelaufen zu sein. Und die NeuwählerInnen seien keineswegs als Avantgarde eines Wertewandels zu bezeichnen (S. 93), sondern eher die Nachzügler, die sich für grüne Themen engagieren, die heute alle etwas angehen. In Sachsen haben sich grüne Bewegung und Ziel voneinander entkoppelt (S. 89 ff). Zudem haben die Grünen den Alleinanspruch auf die Umweltthematik verloren (S. 92).
Neben einer pointierten Darstellung der Ergebnisse zu Beginn der Studie wünscht sich der Leser auch in diesem Zwischenbericht mehr Einbindung in die Forschungsliteratur, beginnend bei der Einordnung des Parteiensystems in Sachsen über laufende Dokumentationen zu qualitativen Wähleranalysen hin zur Erwähnung der Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ (S. 37).[4] Vorteile und Vorzüge qualitativer Erhebungen werden im vorliegenden Bericht voll ausgeschöpft, gleichzeitig hätte die Zusammensetzung der Fokusgruppen, die in der Studie über Baden-Württemberg beschrieben ist, auch hier erwähnt werden können. Undeutlich bleibt zudem, wie beispielsweise die Einstellung von NeuwählerInnen der Grünen im ländlichen Raum jenseits von Leipzig und Dresden, im Erzgebirge, ist (S. 10, S. 12). Und auch wenn der Begriff des Wertewandels zunächst als „hypothetischer Arbeitsrahmen“ beschrieben wird, der Einstellungsmuster, Orientierungen oder Deutungen meint, bleibt etwas unklar, welche Elemente der Aussagen als Wert oder Einstellung gedeutet werden und welche nicht; auch wissen wir nicht, was die ProbandInnen unter den genannten Werten verstehen und was nicht (S. 12, S. 15), wie ihr eigener Deutungsrahmen ist. Dies ist aber in der Tat ein Problem jeglicher Art qualitativer Forschung und sollte an dieser Stelle nicht überbewertet werden.
Die Grünen haben sich 1980 wenn auch nicht ausschließlich, dennoch mit massiver Stützung auf dem Thema Ökologie gebildet. Dies ist ihr Gründungsimpuls, der zur Parteimarke wurde und zur Parteierzählung im Westen taugt. Der Organisation muss es nun gelingen, den Konkurrenzparteien das Thema in solch intelligenter Weise abzunehmen, dass sie auch im Osten, wo das Gründungsmilieu aus ehemaligen Bürgerrechtlern besteht, für breite Wählerschichten wählbar werden. Dazu sollten sie die Handwerkszeuge der Digitalisierung ernsthaft nutzen und innovative Formen der Partizipation ermöglichen, um so Wechsel- und Nicht-Wähler zu mobilisieren (S. 88). Die Grünen haben ihren Status als politische Avantgarde des 20. Jahrhunderts verloren. Aber sie sind thematisch im Mainstream des 21. Jahrhunderts angekommen. Und das ist – auch in Sachsen – ihre Chance.
[1] Vgl. Tilmann Steffen: Der fragile Ost-Erfolg der Grünen, in: Zeit-online, 05.09.2011 und Gunnar Saft: Parteien verlieren Mitglieder – nur die Grünen legen zu, in: Sächsische Zeitung, 06.01.2012. Ich danke Gunnar Saft zudem für ein informatives Gespräch über die Grünen in Sachsen am 21.06.2012.
[2] Zitiert nach Saft, ebd.
[3] Zum Dachbegriff digitale Demokratie und den Differenzierungen vgl. Marianne Kneuer: Demokratischer durch das Internet? Potenzial und Grenzen des Internets für die Stärkung der Demokratie, in: Politische Bildung 1/2012, S. 28-53, hier S. 34.
[4] Vgl. Uwe Jun, Melanie Haas, Oskar Niedermayer (Hg.): Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden 2008; Eckhard Jesse: Die Landtagswahl in Sachsen vom 19. September 1999: Triumphale Bestätigung der CDU, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1/2000, S. 69-85; Volker Kronenberg, Christoph Weckenbrock (Hg.): Schwarz-Grün. Die Debatte, Wiesbaden 2011 und Denis Meadows: Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972.