Die „Enkel“ – ein Rückblick

[analysiert]: Matthias Micus über die sozialdemokratische Generation der „Enkel Willy Brandts“

Vor zwanzig Jahren wurde mit Rudolf Scharping der letzte der berühmten „Enkel Willy Brandts“ zum Ministerpräsidenten gewählt. Sukzessive haben sie sich in den letzten Jahren aus den Spitzenpositionen in der SPD zurückgezogen – auch Oskar Lafontaine, der dann im Jahr 2005 eine zweite Karriere in der Linkspartei begann. Doch wäre die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in den achtziger und neunziger Jahren und bis in die jüngste Vergangenheit hinein ohne die „Enkel“ anders verlaufen. Grund genug, ihre Werdegänge und Eigenschaftsprofile noch einmal Revue passieren zu lassen.
Als die „Enkel Willy Brandts“ werden in der SPD – und darüber hinaus – gemeinhin jene Sozialdemokraten tituliert, die in den 1940er Jahren geboren wurden und im Verlauf der 1960er Jahre in die Partei eintraten. Im zeitlichen Umfeld der deutschen Wiedervereinigung schlossen sie den Generationswechsel an der SPD-Spitze ab und zogen in mehreren Bundesländern in die Staatskanzleien ein – Oskar Lafontaine machte 1985 im Saarland den Anfang, auf ihn folgten 1988 Björn Engholm in Schleswig-Holstein, 1990 Gerhard Schröder in Niedersachsen und schließlich besagter Rudolf Scharping, der 1991 in Rheinland-Pfalz die Regierungsgeschäfte übernahm. Im Jahr 1998 schließlich gelang dem „Enkel“-Tandem Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine der Machtwechsel im Bund und die Ablösung Helmut Kohls durch eine rot-grüne Bundesregierung.

Die Koalition mit den Grünen war für die „Enkel“ dabei zumindest in ihren Anfängen keine bloße Zweckgemeinschaft, sondern logischer Ausdruck eines langfristigen Projektes. Mit der Vision des Ökosozialismus, der Versöhnung von Ökologie und Produktion, Umwelt und Arbeit, zogen sie in den 1980er Jahren die Konsequenz aus den „Grenzen des Wachstums“. Als sozialdemokratische Verbindungsglieder zu den außerparlamentarischen Bewegungen und postmaterialistischen Lebenswelten konnten sie im Jahrzehnt vor dem Mauerfall auf die Rückendeckung und Sympathien Willy Brandts bauen. In wissenschaftlichen und journalistischen Darstellungen wurden ihnen die verschiedensten Etiketten angesteckt, wobei in den Jahren ihres politischen Aufstieges die positiven Deutungen überwogen. Die „Enkel“ waren die Profiteure der Bildungsexpansion, in ihren Familien waren sie zumeist die Ersten, die das Abitur machten und studierten.

Mit den „Enkeln“ verband sich im Rückblick das goldene Zeitalter der westdeutschen SPD. Verglichen mit den Kriegsgenerationen, die sich nach dem Untergang des Dritten Reiches in das Privatleben zurückzogen, waren sie stark politisiert. Massenhaft traten ihre Altersgenossen in die Parteien ein, vornehmlich die Sozialdemokratie, die infolge dieses Zustroms bei den Mitgliederzahlen ein ständiges Wachstum verzeichnete. Durch den Beitritt der Abiturienten und Studenten akademisierte, verbürgerlichte und verjüngte sich die Anhängerschaft, die alte Arbeiterpartei mauserte sich durch die „Enkel“ zur modernen Volkspartei.

Zum Kern der 68er zählten sie zwar nicht, zu sehr empfanden sie das Studium als Privileg, als dass sie zur ausgiebigen Teilnahme an Diskussionen und Vollversammlungen Zeit gehabt hätten. Dennoch waren die „Enkel“ durch die Studentenbewegung geprägt. Dem Zeitgeist entsprechend waren sie autoritätskritisch, bedingt nicht zuletzt auch durch den Zwang zu früher Selbstständigkeit in der jungen Bundesrepublik. Ebenso wie die revoltierenden Bürgerkinder gaben sie sich links und gebärdeten sich ideologisch. Und: 68er und „Enkel“ waren gleichermaßen mit dem Aufstieg des Fernsehens zu einem Massenmedium groß geworden. Sie waren, wenn man so will, die erste Generation der TV-Gesellschaft, frühzeitig lernten sie, wie man sich vor Kameras in Szene setzt und die Medien eigene Zwecke einspannt. Die Medien goutieren das Überraschende, Unkonventionelle, Dramatische, die „Enkel“ bedienten die Erwartungen mit Tabubrüchen und Provokationen und wurden dafür als kritisch, originell sowie unabhängig gelobt.

Seit ihrem Aufstieg an die Spitze von Partei und Politik mischte sich den lobenden Urteilen freilich zunehmend auch Kritik bei. Das hing nicht zuletzt mit der Haltung der „Enkel“ zur deutschen Wiedervereinigung zusammen, der sie – die nie etwas anderes als das geteilte Deutschland kennengelernt hatten – gänzlich uneuphorisch gegenüberstanden. Wohl galten sie auch in der Folgezeit – gerade im Vergleich zu den viel zahlenschwächeren und farbloseren Nachfolgejahrgängen – als gewiefte Politiker, trainiert, veredelt und gestählt in harten Ausscheidungskämpfen mit Gleichaltrigen (bei den Jungsozialisten) wie Altvorderen (in den Parteigremien). Auch blieb ihr Ruf als Medienprofis erhalten, als fintenreiche, unberechenbare, telegene Instinktpolitiker, die in Wahlkämpfen ihren Konkurrenten aus den Unionsparteien allemal das Wasser reichen konnten.

Doch galten sie seit der Bundestagswahl 1990, als der „Enkel“ Oskar Lafontaine den Sprung in das Kanzleramt verpasste, als „verhinderte“ oder – nach 1998 – „verspätete“ Kohorte. Zunehmend schalt man sie nun ebenfalls der Prinzipienlosigkeit, zu beliebig und begründungslos erschien ihr Wandel von den linken Ideologen zu neumittigen Advokaten des Machbaren. Auch an ihrem sprunghaften Changieren zwischen schwer zu vereinbarenden Positionen rieben sich Öffentlichkeit und nicht zuletzt auch die Medien, ebenso an ihrer offenkundig defizitären Bereitschaft zu Unterordnung und Parteidisziplin. Jetzt wurde der Blick frei für die Probleme, die mit der langjährigen, unangefochtenen Dominanz einer einzigen Politikergeneration verbunden sind: verbissene Führungskämpfe, erratische Wechsel an der Parteispitze und die Blockade des Aufstieges nachrückender Generationen.

Dabei bezog sich der Hader der veröffentlichten Meinung auf dieselben Charaktermerkmale, die zuvor beklatscht worden waren: Das kritisierte Sesselkleben der Angekommenen spiegelte das rempelige Erfolgsstreben zu Beginn ihrer Karrieren; die kopfschüttelnd kommentierte Unberechenbarkeit war die Kehrseite der souveränen Tele­genität. Und die ultrapragmatische Abkehr von sozialdemokratischen Traditionen, wie sie im Schröder-Blair-Papier oder der Agenda 2010 zum Ausdruck kam, hatte sich vage bereits ein halbes Jahrhundert zuvor im verschlungenen, wenig geradlinigen Weg der „Enkel“ in die SPD abgezeichnet, der beispielsweise Björn Engholm zunächst zur FDP-Jugend und Gerhard Schröder auf Veranstaltungen der rechten „Deutschen Reichspartei“ führte.

Sei es drum: Aus den Hoffnungsträgern waren 2009 die Totengräber der SPD geworden. Doch zeichnet sich eine weitere Neubewertung aktuell schon ab, gelten doch die Agenda-Reformen mittlerweile als einer der Gründe dafür, dass Deutschland die Wirtschaftskrise vergleichsweise gut überstanden hat, die Konjunktur schon wieder anzieht und die Arbeitslosenzahlen – Stand: Oktober 2010 – unter die Drei-Millionen-Marke gesunken sind.

Dr. Matthias Micus ist akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung.