Der Steigbügelhalter des amerikanischen Populismus

[kommentiert]: Vielen gilt John McCain als letzter Aufrechter in der Republikanischen Partei und Vertreter einer besseren Zeit  dabei hat gerade er die Trumpisierung der Partei mit in die Wege geleitet. Torben Lütjen über den jüngst verstorbenen US-Senator.

Man soll nichts Schlechtes sagen über die Toten, schon gar nicht, wenn es sich bei Ihnen um Helden handelt, die für ihr Land geblutet haben. Doch darf man dieser Tage vielleicht darauf hinweisen, dass die Geschichte einmal mehr ihren Sinn für Ironie gezeigt hat: John McCain gilt nun als der letzte Aufrechte in einer ansonsten moralisch bankrotten republikanischen Partei, als unbeugsamer Gegenspieler Donald Trumps, der ihm selbst noch auf dem Sterbebett mit seinen Tweets und Stellungnahmen die Stirn geboten hat, ja selbst posthum noch durch die Nicht-Einladung zu seiner Trauerfeier ein Zeichen gesetzt hat.

Die Ironie – man könnte vielleicht auch sagen: die Tragik – liegt natürlich darin, dass McCain in Wahrheit die Trumpisierung der Partei miteingeleitet hat. Er war der Mann, der jenen Geist aus der Flasche ließ, der seitdem erst die Partei und dann das ganz Land neurotisiert hat. Die Dschinnie kam aus Alaska und ihr Name war Sarah Palin. Bei seinem Kampf ums Weiße Haus 2008 hatte McCain sie in einer schwierigen Lage zu seiner Vize-Präsidentschaftskandidatin ernannt – obgleich ein einziges ernsthaftes Gespräch ihm wohl hätte verraten können, dass Palin nicht wusste, dass es sich bei Nordkorea und Südkorea um zwei verschiedene Länder handelte.

Für einen Kandidaten, der mit dem Motto „Country First“ angetreten war, war es eine ausgesprochen zynische Kalkulation. McCain versuchte damals, einen Teil der schon damals radikalisierten rechten Parteibasis mit seiner Kandidatur zu versöhnen. Denn Palin, die Gouverneurin ihres Heimatstaates, erfüllte in dieser Hinsicht alle weltanschaulichen Kriterien; sie war die Tea Party (die sich erst 2009 formierte) avant la lettre: christlich, libertär, für eine strengere Einwanderungspolitik, auch wenn letzteres 2008 bei weitem noch nicht die Bedeutung hatte wie heute. Doch wenn es nur das gewesen wäre, wenn Palin einfach nur eine rechte Ideologin gewesen wäre – dann hätte sich McCains Entscheidung lediglich in die üblichen Logiken eingefügt, nach der Präsidentschaftskandidaten versuchen müssen, heterogene Parteien zu einen. In Wahrheit stand Palin nicht primär für die programmatische Dogmatisierung der Partei, sondern für den Aufstieg einer anderen Geisteshaltung: Anti-Intellektualismus.

Natürlich: Damit hatten konservative Politiker seit den 1960er Jahren immer wieder geflirtet. Und es wäre auch verkürzt, unter Anti-Intellektualismus einfach nur eine dumpfe Ablehnung der Vernunft zu verstehen oder gar die bloße Anbetung der Dummheit. Vielmehr geht es darum, den Alltagsverstand des mündigen Bürgers gegen die weltfremden Anmaßungen einer abgehobenen Elite in Stellung zu bringen. Der konservative Philosoph Michael Oakeshott sprach einmal vom „praktischen“, durch Erfahrung und persönliche Anschauung gewonnenen Wissen, dass jedem aus Abstraktion gewonnenen „theoretischen“ Wissen stets weit überlegen sei. In den USA hat dieses Denken eine lange Tradition. Schon der religiöse Egalitarismus der Puritaner hatte den Anti-Intellektualismus in die DNA des Landes eingeschrieben: zunächst nur als Ablehnung religiöser Hierarchien zu Gunsten eines persönlichen Gottesverhältnisses, dann schließlich als grundsätzliche Skepsis gegenüber zentraler Autorität. Hinter dem amerikanischen Anti-Intellektualismus steckte daher eine durchaus emanzipatorische Idee – die sich allerdings schon immer auch in jedwede populistisch-autoritäre Erzählung mühelos einfügen ließ.

Letzteres war dann wohl auch der Grund, warum ein kleiner Zirkel konservativer Intellektueller McCain und seinen Beratern einflüsterte, Palin zu seiner „Running Mate“ zu machen. Sie waren geschockt von der präzedenzlosen Mobilisierung, die Barack Obama mit seiner Kandidatur 2008 ausgelöst hatte. In Palin sahen sie die perfekte Antwort: eine Frau, die sich – wie ja auch Obama – den Kampf gegen das Establishment auf die Fahnen geschrieben hatte, dazu jedoch einen uramerikanischen Mythos verkörperte: jenen der „Pionierfrau“, die an der äußersten „Frontier“ – der westlichen Grenze – des Landes ihren Posten hielt, dabei tougher und rauer war als all die verweichlichten Männer. Wenn Obama wie eine Lichtgestalt über den Dingen zu schweben schien und 2008 als globaler Rockstar eine Million Menschen an die Berliner Siegessäule lockte, dann war es vielleicht die einzige Antwort, jemanden zu nominieren, der so fest wie nur irgendwie möglich auf dem Boden des amerikanischen „Heartland“ stand, um auf diese Weise irgendwie die Dynamik des Wahlkampfs umzukehren.

Nur: Sarah „Barracuda“ verkörperte eben sehr viel mehr als „nur“ Anti-Intellektualismus. Zum einen hatte sie tatsächlich keine Ahnung, weder von Wirtschafts- und Sozialpolitik noch von Außenpolitik. Und es schien ihr nicht mal peinlich, vielmehr zelebrierte sie noch lustvoll ihre Ahnungslosigkeit. Es gab keine Frage, die Palin nicht glaubte mit ihrem gesunden Menschenverstand beantworten zu können. Rückfragen beantworte sie aggressiv und bald schon verkündete sie, dass es ohnehin keinen Sinn mache mit den voreingenommenen Mainstreammedien zu reden. Mit Palin bekam die bizarre Parallelwelt des amerikanischen Konservativismus, kunstvoll geformt von Fox News und anderen konservativen Medien, zum ersten Mal ein Gesicht.

Wahrscheinlich hatte McCain gedacht, dass Palin ihm einfach nur die Gefolgschaft des rechten Flügels sichern würde, er ansonsten aber natürlich die Hauptrolle in diesem Wahlkampf spielen würde. Darin aber hatte er sich sehr gründlich getäuscht. Nicht nur die Demokraten hatten Palin nämlich als nützliche Zielscheibe entdeckt, um die eigene Basis zu mobilisieren. Auch die Medien interessierten sich bald mehr für Palins Fehltritte in alle Fettnäpfchen als für McCains passable aber doch recht konventionelle Wahlkampfauftritte.

Vor allem aber hatte Palin ihren eigentlichen Auftrag bald übererfüllt und die rechte Parteibasis nicht bloß in die Kampagne integriert, sondern in Ekstase versetzt. Wenn sie bei ihren Wahlauftritten auf dem platten Land sprach und meinte, sie sei froh, nun endlich wieder in „Real America“ zu sein um dort vor „Real Americans“ zu sprechen, dann klang das in den Ohren der einen Hälfte des Landes nur nach banaler Wähler-Anschmeiße; die andere Hälfte aber verstand sofort, wovon Palin sprach und goutierte die auch rassistischen Untertöne ihrer Reden. Vor allem aber teilten sie Palins Gefühl der kulturellen Belagerung durch einen progressiven Zeitgeist. Und je mehr sie verspottet wurde, desto überzeugter waren ihre Anhänger, dass sie nur das Exempel war, an der die sogenannten „liberalen Eliten“ des Landes ihre allgemeine Verachtung für alles zeigten, wofür Middle America stand. So machte die Ablehnung, der Spott und Hohn den sie erntete, sie in den Augen ihrer Anhänger nur noch glaubwürdiger; Palins Kränkungen waren auch ihre Kränkungen. Der Sommer und Herbst 2008 war – im Rückblick betrachtet – die Zeit, in der ein primitiver Urinstinkt im limbischen System der Partei aktiviert wurde und eine nationalistische, entzivilisierende und paranoide Welle ihren Anfang nahm, die bald die gesamte Partei verschlucken und am Ende Donald Trump wieder ausspucken würde.

Palin also wurde zur wahren Nemesis Obamas, was für McCain natürlich eine Katastrophe war. Es war schon erstaunlich, in welch unterschiedlicher Weise Menschen zum Träger von Charismata werden können. Obamas Charisma speiste sich primär aus seiner Außeralltäglichkeit, auch aus der Distanz, die die Menschen trotz aller glühenden Bewunderung bei ihm spürten, schließlich aus einer Biographie, die in jeder Weise singulär war und kaum Anlass zur Identifikation bot – dafür aber den Glauben nährte, man diene einer Sache, die größer war als man selbst. Bei Palin war es das Gegenteil: Ihr Populismus löschte alle Unterschiede zwischen ihr und ihren Anhängern aus und schuf eine vollkommen egalitäre Gemeinschaft, in der Sprecherin und Zuhörer miteinander verschmolzen – bis hin zu der nur vordergründig drolligen Beobachtung der vielen „Palin-Imitate“, die sich auf ihren Veranstaltungen tummelten und die alle glaubten, sie würden „Sarah“ so gut wie sich selbst kennen

Irgendwann, schon ziemlich am Ende dieses Wahlkampfes, muss McCain wohl endgültig geschwant haben, wen er da aufs Schild gehoben hatte; in seinen im Mai erschienen Memoiren ließ er jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Nominierung der Frau aus Wasilla einer der schwersten Fehler seiner Kampagne gewesen war. Es war kein schwieriges Eingeständnis mehr, nachdem seine riskante, und eben auch ziemlich zynische Wette auf Palin nicht aufgegangen war. Doch immerhin: Als er in jenem Jahr bei Auftritten in intimen Town Hall Meetings Fragen der Zuhörer bekam, die direkt aus dem mittlerweile reich gefüllten Giftschrank der paranoiden amerikanischen Rechten stammten („Obama ist ein Araber“, „er ist kein Amerikaner“ usw.), da hat er seinen eigenen Wählern widersprochen und Nonsens zu Nonsens erklärt. In anderen Zeiten hätte man das vielleicht für selbstverständlich halten können. Schon 2008 war der Mann aus Arizona damit eher die Ausnahme; aus der Perspektive des Jahres 2018 scheint es ihn nachgerade zu einer Insel der Vernunft im Meer des Postfaktischen zu machen. Es war noch nie so leicht, zum Helden zu werden. Aber dass es überhaupt so weit kommen konnte – daran trägt McCain eine gehörige Mitschuld.

Dr. Torben Lütjen lehrt Politikwissenschaft an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Von 2015 bis 2016 war er, in Vertretung von Franz Walter, Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.