Der langsame Abschied vom schwedischen „Volksheim“

[analysiert:] Jens Gmeiner analysiert Aufstieg und Ende des schwedischen Modells

Fragt man den deutschen Beobachter, was er mit Schweden in Verbindung bringe, so werden mit großer Wahrscheinlichkeit folgende Assoziationen genannt: Abba, Mankells Wallander, Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga (der im Schwedischen eigentlich Emil heißt) sowie ein vorbildlicher, ausgebauter Sozialstaat. Im Grunde genommen verbindet man mit Schweden ein Land, das Sicherheit, Wohlstand und Modernität verspricht, eine gewisse Idylle am Rande Europas, oftmals auch das moralische Gewissen der westlichen Welt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sah dies noch ganz anders aus. Schweden verkörperte das Armenhaus Europas, die Industrialisierung setzte erst relativ spät ein, dann aber mit einer Geschwindigkeit, die viele Menschen entwurzelte und in den Alkohol trieb. Zwischen 1850 und 1930 verließen 1,3 Millionen Schweden ihre Heimat in Richtung Amerika, meist aufgrund religiöser Verfolgung, Perspektivlosigkeit und Hungersnöten. Das großflächige Schweden am Rande Europas war schlichtweg ein ökonomisches uns soziales Entwicklungsland.

Der Gründungsmythos des modernen Schweden begann erst zu Beginn der 30er Jahre, als es den schwedischen Sozialdemokraten nach jahrelangen Debatten mit den Konservativen gelang den Begriff des „Volksheims“ als semantisches Kampfmittel für den politischen Modernisierungsprozess zu instrumentalisieren. Das „Volksheim“ wurde zur stilprägenden Metapher eines Politik- und Gesellschaftsmodells, das auf Zusammenarbeit, Hilfsbereitschaft und einen starken Wohlfahrtsstaat setzte. Damit avancierte die Sozialdemokratie in Schweden zur Volkspartei, weil sie auf Basis dieses Konzepts nicht den Klassenkampf, sondern die Verständigung zwischen den Klassen erreichten wollte.

Zudem wurde mit dem Abkommen von Saltsjöbaden eine der wichtigsten sozialpartnerschaftlichen Kooperationen der schwedischen Geschichte geschlossen. Generell galt diese Vereinbarung  als Ursprung des „schwedischen Modells“. In diesem Abkommen vereinbarten der schwedische Gewerkschaftsbund zusammen mit den schwedischen Arbeitgeberverbänden, dass die Interessen von „Arbeit“ und „Kapital“ gleichwertig seien und das jegliche Tarif- und Arbeitsmarktfragen in eigener Verantwortung geregelt werden sollten

Während fast ganz Europa in den Dunstwolken des 2. Weltkrieges versank, blieb Schweden zumindest offiziell neutral und baute das konsensuale Fundament des Wohlfahrtsstaates. Im Zuge der 50er und 60er Jahre erreichte Schweden unter der Ära des sozialdemokratischen Landesvaters Tage Erlander den viel zitierten Modellcharakter. Wohnungsbaumaßnahmen wurden eingeleitet sowie Lohnersatzzahlungen eingeführt, die zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards beitragen sollten. Der Staat erweiterte die Aufgaben der sozialen und karitativen Fürsorge und schuf eine Fülle an öffentlichen Institutionen. Spätestens seit dem Ende der sechziger Jahre initiierte die sozialdemokratische Regierung gesetzliche Reformen, die es auch Frauen ermöglichten, in den Arbeitsprozess einzutreten. Dadurch dass der Staat fast alle sozialpolitischen Aufgaben übernahm, expandierte der öffentliche Sektor speziell während den 60er und 70er Jahren in starkem Ausmaß.

Mit dem weitmaschigen Ausbau des Wohlfahrtstaates begann zugleich der Niedergang des „Volksheims“. Immer höhere Steuern verschlang der zentralistische Staatsapparat und die sozialen Wohltaten. Und auch der Ton zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern wurde aggressiver. Die endgültige Erosion des sozialpartnerschaftlichen Grundkonsenses, welche sich schon 1976 durch das von der SAP verabschiedete Mitbestimmungsgesetz andeutete, erfolgte dann mit der Einführung der Arbeitnehmerfonds des LO- Ökonomen Rudolf  Meidner. Dabei sollten die Gewinne der privaten Unternehmen abgeschöpft und in regionale Fonds unter Verwaltung der Gewerkschaften eingespeist werden. Hans Magnus Enzensberger schrieb dazu einmal pointiert: „Die Kapitalisten sollen den Strick bezahlen, mit dem die Gewerkschaften sie erwürgen wollen.“

Weitaus symbolträchtiger führte wohl Astrid Lindgren die aberwitzigen Entwicklungen des Wohlfahrtsstaates vor Augen und sprach damit einem Großteil der Schweden aus der Seele. Angeblich sollte sie 100 Prozent Steuern zahlen, da durch ihre Buchverkäufe eine Einstufung erfolgte, die solch eine hohe Steuerlast legitimierte. Obwohl Astrid Lindgren ihr ganzes Leben lang den Sozialdemokraten verbunden war, schreib sie im Jahre 1976 in der Zeitung „Expressen“ die Erzählung „Pomperipossa in Monismanien“, mit der sie die Allmacht der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften scharf angriff. Im gleichen Jahr fand sich die Sozialdemokratie auf der Oppositionsbank wieder. Erstmals seit 44 Jahren.

Obwohl die Sozialdemokraten 1982 wieder in die Regierung zurückkehrten, hatte sich der Wind allmählich gewendet. Und zwar nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in den eigenen Reihen. Mit dem Aufstieg des Ökonomen Kjell-Olof-Feldt in das Finanzministerium vollzog sich nicht nur ein Personenwechsel, sondern auch eine politische Wende. Der Akademiker und Neuling Feldt ersetzte das sozialdemokratische Urgestein Gunnar Sträng, der sich über die Ochsentour in der Arbeiterbewegung nach oben gekämpft hatte. Im November 1985 wurde dann das Kreditwesen in Schweden dereguliert. Die Vollbeschäftigungspolitik wich der Inflationsbekämpfung. Der Markt avancierte seitdem stärker als je zuvor zum primären Beurteilungskriterium der sozialen Sicherungssysteme.

Symbolisch für die Transformation des schwedischen Wohlfahrtsstaates und des „dritten Weges“ der Sozialdemokratie wurde der Mord des Ministerpräsidenten Olof Palme in der Stockholmer Innenstadt im Jahre 1986. Schweden hatte durch die Ermordung des Regierungschefs den Normalzustand europäischer Politik erreicht.

Auch die viel beschworene Neutralität, für die Schweden international so bewundert wurde, ist nicht erst mit dem Beitritt zur EU im Jahre 1995 und mit dem Afghanistan Einsatz nach dem 11. September zu Grabe getragen worden. Tatsächlich war Schweden seit 1813 in keinen Krieg mehr verwickelt, aber Partei und Stellung haben Politiker immer bezogen. Olof Palme ist hierbei das positive Beispiel, als er gegen den Vietnamkrieg demonstrierte, das negative Beispiel stellt die ambivalente Haltung der damaligen schwedischen Regierung zu Nazideutschland dar.

Seit den 90er Jahren begann sich dann auch der Blick auf das Innenleben des „Volksheims“ weiter zu verdunkeln. In historischen Forschungsarbeiten, die in Schweden Furore machten, wurden Zwangssterilisierungen von Menschen bis in die Mitte der 70er Jahre offenkundig, die nicht in die Planung der Sozialingenieure passten. Dabei wurden an die 60 000 Menschen in Schweden sterilisiert, darunter vor allem Frauen. Wer Kinder nicht unter einigermaßen guten Voraussetzungen aufziehen könne, so die Logik der Sozialreformer, dürfe dann eben keine Kinder bekommen. Darunter fielen unter anderem Sinti und Roma, Alkoholiker und Prostituierte.

Wenn man heute durch Schweden geht, wird man nicht mehr viel vom einstigen „Volksheim“ erkennen. Öffentlicher Alkoholkonsum ist gesellschaftsfähig geworden, triste Vorstädte mit hoher Arbeitslosigkeit gibt es zuhauf am Rande der Metropolen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Schweden bei 20 Prozent. Die Schere zwischen arm und reich hat auch hier speziell während des Börsenbooms seit der Deregulierung der Finanzmärkte stark zugenommen. Die Wirtschaftskrise am Anfang der 90er, als Schweden kurz vor dem Bankrott stand, hat bis heute ihre Spuren im sozialen Netz hinterlassen.Wer in Schweden zum Arzt geht, darf mit relativ hohen  finanziellen Selbstbeteiligungen rechnen. Wer sich operieren lassen will, sollte einen langen Atem mitbringen, denn die Wartelisten sind lang. Man sieht, dass Schweden und sein berühmtes „Volksheim“ sich langsam von seinem Modellcharakter verabschiedet haben, auch wenn der Begriff des „schwedischen Modells“ nicht im Inland, sondern im Ausland geprägt wurde.

Und dennoch: Schweden ist gegenwärtig noch immer eines der egalitärsten und sozial sowie wirtschaftlich fortschrittlichsten Länder. Bei Bildungsausgaben, Kinderbetreuung und geschlechtlicher Gleichstellung nimmt das Land internationale Spitzenpositionen ein. Solidarität und Unterstützung für Entwicklungsländer sowie der Einsatz für weltweiten Frieden gehören zum schwedischen Selbst- und Moralverständnis. Die Gleichheitsutopie in einem Land wie Schweden ist ein hohes soziales Gut, das nicht unterschätzt werden darf.

Der Historiker Göran Hägg notierte dazu:

„Nichts macht Schweden heute noch einzigartig. Außer, dass es diese Utopie hier gegeben hat. So lange Menschen immer auf das neue versuchen werden, gemeinsam das eigene Leben und das des anderen zu verbessern, kann die Utopie des schwedischen Wohlfahrtsstaates als ein denkwürdiges Beispiel gesehen werden – das bisher denkwürdigste – mit seinen erfolgreichen Seiten und den Fehlgriffen, die trotzdem gemacht wurden.“