[analysiert]: Thorsten Hasche über die Parlamentswahlen in der Türkei
Vergangenen Sonntag kam es bei den türkischen Parlamentswahlen, dreizehn Jahre nach dem ersten Wahlsieg der AKP, zu einem kleinen politischen Erdbeben: Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung verlor erstmalig ihre absolute Parlamentsmehrheit. Trotz der massiven medialen Dauerpräzens der AKP und ihres Führungsduos, Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, konnte die pro-kurdische HDP (Demokratische Partei der Völker) die 10-Prozent-Hürde überspringen. Zusammen mit der dezimierten CHP (Republikanische Volkspartei) und der rechten MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) ziehen nun insgesamt vier Parteien in die Große Nationalversammlung der Türkei ein. Somit ist die erfolgsverwöhnte und stets dominant-aggressiv auftretende AKP auf einen Koalitionspartner angewiesen und muss sich wohl gänzlich von ihrem Projekt einer Verfassungsänderung zugunsten eines – gerade von Erdoğan stets bevorzugten – Präsidialsystems verabschieden.
Doch genau wie sich Anno 2002 die Hoffnungen auf einen demokratischen Umbruch in der Türkei unter der AKP als verfrüht herausstellten, sind die in der deutschen Medienlandschaft artikulierten Erwartungen an ein Ende der AKP-Dominanz[1] mit Skepsis zu betrachten. Der wahre Lackmustest einer reifenden Demokratie, nämlich die friedliche Abwahl einer Regierung, kommt erst jetzt langsam zum Einsatz, da die AKP das erste Mal auf Kooperation – und eben nicht auf die für sie so typische und bisher erfolgreiche Politik der Konfrontation – angewiesen ist. Doch zeigen sich unter der Oberfläche des durchaus überraschenden Wahlergebnisses erstens problematische Tiefenstrukturen des AKP-Regierungsstils. Zweitens befindet sich die Türkei sowohl innen- als auch außenpolitisch in einem schwierigen Fahrwasser. Daher ist es offen, ob der von der AKP nach dem Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen 2007 eingeschlagene, durchaus als autoritär zu bezeichnende Kurs wandlungsfähig genug ist, um die differenzierte und vielfältige türkische Gesellschaft dauerhaft und ertragreich politisch einzubinden.
Die größte innenpolitische Schwäche der AKP stellt ihr extremes demokratisches Majoritätsverständnis dar. Nachdem sie sich 2002 als politisch höchst erfolgreiches Segment des türkischen Islamismus mit einem Erdrutschsieg gegen das bürokratische, militärische und säkulare Establishment durchsetzen konnte, verkamen Wahlen ob ihres Erfolges mehr und mehr zu einem Akklamationsinstrument. Weder die jugendlich-zivilen Proteste des Gezi-Parks und Taksim-Platzes im Sommer 2013, noch die Frage nach dem Genozid an den Armeniern oder das Ringen der Kurden in der Türkei und den umkämpften Gebieten im Irak und Syrien um eine eigene Staatlichkeit werden vom AKP-Establishment wirklich ernstgenommen. So verkündete die AKP auf ihrer englisch-sprachigen Homepage noch jüngst:
“Turkey’s Davutoglu and President Recep Tayyip Erdogan have accused opposition parties of forming a „dirty alliance“ and being hands in gloves with the „parallel structure“ allegedly steered by U.S.-based cleric Fetullah Gulen, the terrorist organization PKK, and Armenian diaspora in their alleged attempts to divide Turkey.”[2]
Opposition, parlamentarisch wie außerparlamentarisch, hat nach dieser Sicht kein Recht auf eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung der Türkei, sondern wird als Störung, gar als auswärtige Verschwörung gegen die türkischen Einheit betrachtet. In Verbindung mit dem Ausbau der Befugnisse der Sicherheitskräfte, der stetigen Drangsalierung von nicht-staatlichen Medienkonzernen und Journalisten sowie den nie überparteilich untersuchten Korruptionsvorwürfen gegenüber der Regierung schwanden die Demokratisierungsgewinne der Regierungsphase 2002-2007 merklich. Die AKP-Zauberformel von staatlich gelenkter Modernisierung, wirtschaftlichem Wachstum und moderater Islamisierung in Neo-Osmanischem Gewand wird demnach weiter unter Druck geraten und ist erst jetzt einem wirklichen Stresstest ausgesetzt.
Diese kritische Perspektive soll nicht grundsätzlich in Frage stellen, dass die AKP weiterhin eine überaus große, landesweite und sogar transnationale politische Unterstützung erfährt. In Deutschland wahlberechtigte TürkInnen, immerhin 1,4 Mio. Personen, wählten mit über 53 % die AKP.[3] Doch die Türkei der Gegenwart benötigt mehr als eine sukzessiv selbstherrlich gewordene Regierungspartei. Nach ihrem Erfolg im Kampf gegen die „alten“ türkischen Eliten der Bürokratie, der Justiz und des Militärs muss die AKP ihre politische Paranoia vor einem feindlichen Parallelstaat überwinden und sich dem nie abgeschlossenen Nationalisierungsprozess der Türkei offener denn je stellen. Die Synthese aus türkischen Nationalismus und sunnitischem Sendungsbewusstsein ist in eine erste Krise geraten. Die Gründe dafür sind vielschichtig, jedoch wohl bekannt.
Im Ringen mit dem Iran, Saudi-Arabien und Ägypten um die regionale Führungsrolle in der arabisch-islamischen Welt ist die Türkei in die innerkonfessionelle Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten geraten, von der der „Islamische Staat“ lediglich die „dunkle“ Seite der Medaille darstellt. Eine überkonfessionelle und neutrale Position verliert die Türkei trotz der zunehmenden Gewalt an ihren Außengrenzen zusehends. Die Frage nach der Inklusion der kurdischen Selbstbestimmungsansprüche wächst dadurch nur, ignorieren kann Ankara diese durch den Parlamentseintritt der HDP nicht mehr. Zusätzlich streben große Teile der jungen und ehrgeizigen Bevölkerung der Türkei kulturpolitisch nach mehr als einem „von oben“ verordneten sunnitischen Neo-Osmanismus. So könnte der für Erdoğan neu gebaute und vielfach kritisierte Präsidentenpalast (genannt „Weißer Palast“) zum Sinnbild des gegenwärtigen Lackmustests der türkischen Demokratie werden: Schafft es die AKP, die nach ihren Vorstellungen umgestaltete Republik in die Form einer gereiften Demokratie, also mitsamt politischer Inklusion der Opposition und Achtung der Minderheiten und der Presse, zu überführen? Ausreichend Zimmer böte der neue Präsidentenpalast dafür allemal.
Dr. Thorsten Hasche arbeitet am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. In seinem jüngsten Buch „Quo vadis, politischer Islam“ (Bielefeld: transcript 2015) setzt er sich intensiv mit der Genese und Entwicklung des sunnitischen Islamismus am Beispiel der AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft auseinander.
[1] Vgl. Szymanski, Maik: Erdoğan hat ausgeherrscht, in: Sueddeutsche Zeitung Online, 07.06.2015 (http://www.sueddeutsche.de/politik/wahl-in-der-tuerkei-kampf-um-jede-stimme-1.2509510).
[2] Homepage der AKP vom 06.06.2015 (https://www.akparti.org.tr/english/haberler/turkey-pm-opposition-sees-polls-as-last-ditch/75743#1).
[3] Vgl. Meldung der Rheinischen Post vom 08.06.2015 (http://www.rp-online.de/politik/ausland/parlamentswahl-in-der-tuerkei-akp-schneidet-bei-tuerken-in-deutschland-gut-ab-aid-1.5148081).