Der bessere Kandidat und der bessere Vorsitzende

[analysiert]: Sebastian Kohlmann über das Duo Steinmeier/Gabriel mit Blick auf das Wahljahr 2013.

Am Wahlabend der Bundestagswahl 2009 sah es so aus, als habe die politische Karriere von Frank-Walter Steinmeier ein jähes Ende gefunden. Nur 23 Prozentpunkte holte der damals 53-Jährige als Kanzlerkandidat für die SPD. Das schlechteste Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Zwar bekam er noch einen neuen Posten angetragen und wurde Bundesfraktionsvorsitzender, doch schien auch das nur der Anfang vom Ende eines langen Abschieds von der Macht zu sein. Olaf Scholz wurde bereits als Nachfolger gehandelt, Sigmar Gabriel als sozialdemokratischer Alleinunterhalter gesehen und das Nachrichtenmagazin Der Spiegel fragte: “Warum tut er sich das an?”

Ein Jahr später wird allein schon die Ankündigung seines Comebacks, das Steinmeier nun nach einem dreimonatigen Rückzug von seinen Ämtern aufgrund seiner Nierenspende zugunsten seiner Ehefrau begehen kann, in den Medien gefeiert und mit Spannung erwartet. Denn: In den Monaten von Steinmeiers politischer Abstinenz trat das ein, was Medien und Sozialdemokraten selbst befürchteten: Sigmar Gabriel als alleiniger Chef erwies sich häufig als zu sprunghaft; die beruhigende, seriöse, solide und für die sozialdemokratische Statik wichtige Säule neben ihm – in Form von Frank-Walter Steinmeier – fehlte hörbar. Dieser war nämlich tatsächlich weg, befand sich nach seiner Operation längere Zeit in einer Reha-Klinik, war aber in den Umfragen dennoch weiter nach oben gestiegen. Steinmeier ist mittlerweile zum heimlichen SPD-Liebling in der Öffentlichkeit avanciert. Auch nach fast zwölf Monaten im Amt erreicht der Parteivorsitzende Gabriel in der Öffentlichkeit bei weiten nicht die Zustimmungswerte von Fraktionschef Steinmeier, der bisweilen – so unlängst im ZDF-Politbarometer – auf Platz 2 der Politiker-Beliebtheitsskala liegt.

Was er kann und was nicht, das weiß Steinmeier dabei selbst. Dass er kein Parteipolitiker alten Schlages ist, braucht man ihm, der lange Zeit als “Maschinist der Macht” (Franz Walter) gearbeitet hat, nicht erklären. Zweimal hat er so den Parteivorsitz abgelehnt. 2008 wählte er bewusst die Ämterteilung zwischen Parteivorsitz und Kanzlerkandidat und holte sich an seine Seite den bereits im Ruhestand gewähnten Franz Müntefering zurück. Kanzler hingegen meinte er zu können und rief sich – mangels Personals – selbst zum Kandidaten aus. 2009 soll Steinmeier nach der Wahlniederlage abermals als Parteivorsitzender im Gespräch gewesen sein. Er lehnte jedoch erneut ab. Stattdessen wurde er diesmal Fraktionsvorsitzender und machte damit wieder das, was er am besten konnte: Er organisierte – organisierte Mehrheiten und sondierte Meinungen, führte die Fraktion mit vielen Gesprächen und überzeugte im Bundestag einmal mehr mit seinen seriösen, glaubhaften und für viele Journalisten rhetorisch überraschend guten Reden. Er überzeugte damit auch die Menschen im Land.

Nein, dieser Steinmeier, der 2009 noch weggeschrieben worden war, wollte nicht gehen. Auch Gabriel musste sich damit abfinden, dass ohne Steinmeier nicht mehr zu planen war, mehr noch: dass in ihm trotz seiner Niederlage ein zweiter Kandidat für das innerparteiliche und inoffizielle Amt des Kanzlerkandidaten erwachsen war.

Dabei: Tatsächlich ergänzen sich die beiden bei genauerem Hinsehen recht gut. Gabriel, der Parteipolitiker, der von der Pike auf für die Partei an vorderster Front gekämpft, wenngleich auch nur selten gewonnen hat, der Berufspolitiker, der sich gerne in den Vordergrund drängt, allzu häufig aber vorschnell dampfplaudernd loslegt, als dass seine Thesen in der kritischen Presse längerfristig Bestand haben könnten; gleichzeitig aber derjenige, der eben mit derlei rhetorischen Mitteln den Sozialdemokraten das Gefühl von Wärme, ja von einer eingeschworenen Gemeinschaft ein Stück weit zurückgegeben hat. Auf der anderen Seite Steinmeier, der Politiker, der sich nie darum gerissen hat, ein solcher zu sein, der im Hintergrund für Kanzler Schröder die Detailarbeit erledigte, der dann schnell vom als Schröders Nachlassverwalter Belächelten zum Bundesaußenminister mit internationalem Ansehen avancierte; der Mann, der immer nur dann spricht, wenn er etwas zu sagen hat, der aber fast immer sprechen kann, weil er in all seinen (Hintergrund-)Ämtern so viel Wissen angehäuft hat, dass er fast immer etwas längerfristig Gültiges, seriös Begründbares – und meist mehr als andere – zu sagen hat.

Gewiss, man mag einwenden, sei es drei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl noch etwas früh, über die sozialdemokratische Kanzlerkandidatenfrage zu richten, doch hat eben Gabriel die Debatte mit seiner Verkündung der Idee einer Kanzlerkandidatenvorwahl – eines mehr dieser Projekte, die genauso schnell wieder von der medialen Bildschirmoberfläche verschwunden sind, wie sie kamen – überhaupt erst angestoßen. Wollte er damit sich selbst in Stellung bringen, ist ihm das nur bedingt gelungen. Eine große Mehrheit der Deutschen würde bei einer Direktwahl des Kanzlers eher Angela Merkel als Sigmar Gabriel wählen, der ähnlich niedrige Werte wie der auf Bundesebene längst vergessene ehemalige Kanzlerkandidaten-Anwärter Kurt Beck erzielen würde. Steinmeier hingegen erfreut sich auch in seinen Abstinenzzeiten größter Beliebtheit und könnte für die SPD gleich aus mehreren Gründen der bessere Kandidat sein:

  • Steinmeiers Seriosität könnte ein entscheidendes Pfund darstellen und auch auf die SPD abstrahlen. So könnten sozialdemokratisch beliebte, vom politischen Gegner aber deformierte Ideen in der Öffentlichkeit das Antlitz der Finanzierbarkeit verliehen bekommen – alleine dadurch, dass sie ein Politiker wie Steinmeier mitträgt.
  • Die SPD würde mit einer Nominierung Steinmeiers Kontinuität beweisen. Das Gesicht von 2009 würde auch 2013 noch das Gesicht der SPD sein. Die SPD würde, zusammen mit dem Parteivorsitzenden Gabriel, wieder mit Köpfen verbunden werden und nicht – wie in den Jahren 2005 bis 2009 – mit personellen Querelen.
  • Fast niemand in der SPD hat heute so viel Erfahrung im Regierungsapparat wie Steinmeier. Das ist für einen guten Regierungsstart – und damit für die Außenwirkung – nicht zu unterschätzen und ist seinen Aussagen zu innen- und außenpolitischen Fragen immer wieder anzumerken. Sie zeugen von hohem Sachverstand. Nicht ohne Grund holte sich auch Bundespräsident Christian Wulff anlässlich der Vorbereitungen seiner Rede zum 3. Oktober unter anderem Rat bei Frank-Walter Steinmeier.
  • Seine nüchterne Art sorgt zudem für zusätzliche Authentizität, die in der Politik häufig vermisst wird.
  • Nicht zuletzt sei an dieser Stelle die Ernsthaftigkeit Steinmeiers genannt. Hat man bei Gabriel immer noch den Eindruck, er sehe die Politik mehr als ein Spiel denn als ernstzunehmende, gestalterische Aufgabe, steht bei Steinmeier zumindest scheinbar immer das Interesse an der Sache im Vordergrund – und nicht die Selbstprofilierung. Das ist etwas, das der Bürger schätzen dürfte.

Summa summarum würden Sigmar Gabriel als Parteichef und Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat eine ideale Ergänzung darstellen und die SPD womöglich zu einem neuen Wahlerfolg zurückführen können. Beide zusammen kompensieren sie die fehlenden Eigenschaften des anderen. Wenn man so möchte, ist der eine, Gabriel, der bessere Vorsitzende und der andere, Steinmeier, der bessere Kandidat.

Sebastian Kohlmann ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.