[kommentiert]: Oliver D’Antonio kommentiert die Fusion der Eisenbahngewerkschaften.
Vom Zauber eines Neubeginns hatte es wenig, als sich Anfang Dezember 2010 in Fulda die neue Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, kurz EVG, durch eine Fusion von Transnet und der Gewerkschaft deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA) gründete. Anders als zehn Jahre zuvor, als das Projekt der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) in großer Euphorie aus der Taufe gehoben wurde, erscheint der Zusammenschluss der Bahngewerkschaften eher als ein verzweifelter Schritt, das eigene Überleben zu sichern. Schließlich erlebte man mit Schrecken, wie ver.di in ihren ersten acht Jahren rund 700.000 Mitglieder verlor. Das Ansinnen der EVG scheint somit weit defensiver und bescheidener.
Die Vereinigung ist Ausdruck der eigenen schwerwiegenden gewerkschaftlichen Defizite im Schienenverkehr und de facto eine Notgeburt. Denn die Zahl der Beschäftigten im Eisenbahnsektor sinkt seit Jahrzehnten, jüngere Arbeitnehmer lassen sich kaum mehr organisieren. Die Zahl der Kolleginnen und Kollegen in Transnet fiel in der vergangenen Dekade um 100.000, was gut einem Drittel der Mitgliedschaft entspricht. Doch implizit steht dieser Zusammenschluss auch für ein Novum in der deutschen Gewerkschaftslandschaft. Denn der Feind, gegen den die EVG die Kräfte bündelt, sitzt nicht allein auf der Arbeitgeberseite des Verhandlungstisches. Der größte Problemfall für Transnet und GDBA entstammt dem gewerkschaftlichen Lager selbst und firmiert unter dem Namen „Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer“ (GdL).
Verglichen mit anderen DGB-Gewerkschaften, die nach Branchen strukturiert sind, ergibt sich für die Bahn seit Gründung der Bundesrepublik eine komplexe Sondersituation. Denn die einstigen großen Staatsmonopolisten der Bonner Republik, die Bundespost und die Bundesbahn, hatten es je mit einer kleinen Betriebsgewerkschaft unter dem Dach des DGB zu tun, namentlich mit der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) sowie der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED). Die Sonderstellung der Bahner resultierte nicht zuletzt daraus, dass die rund 323.000 Beschäftigten (Stand 1985) von insgesamt drei Arbeitnehmerorganisationen erfasst werden konnten: Neben der GdED, die traditionell das Gros der Arbeiterschaft der Bahn integrierte, bestanden die im Deutschen Beamtenbund eingegliederte Angestellten- und Beamtengewerkschaft GDBA sowie der spezialisierte Lokführerverband GdL. Während die DPG wenige Jahre nach der Privatisierung von Post und Bahn 1994 in der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di aufging, blieb die Dreierkonstellation bei der Bahn bestehen.
Noch unlängst schien diese Situation jedoch unproblematisch. Da über Jahrzehnte eine große Zahl der Bahnbeschäftigten verbeamtet war, hatte sich keine eigene Streikkultur entwickelt. Die drei Gewerkschaften bildeten eine Tarifgemeinschaft unter Führung von Transnet, der Namensnachfolgerin der GdED, und dem Beamtenbund, die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn AG regelmäßig zu friedlichen Einigungen führte. Das änderte sich in den 2000er Jahren abrupt. Die GdL brach 2002 mit der Tarifgemeinschaft und suchte die Interessen ihrer Klientel in gesonderten Tarifverhandlungen zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig öffneten die Lokführer ihre Berufsorganisation für alle Beschäftigten der Eisenbahnbranche. Die derart brüskierten Gewerkschafter von Transnet und GDBA bildeten in der Reaktion 2005 eine Tarifgemeinschaft, deren Abschlüsse seitdem regelmäßig durch die weit aggressivere Tarifpolitik der GdL torpediert wurden. Die Tarifrunde 2007/08 ließ nun erstmals erkennen, welche Sprengkraft innerhalb des Gewerkschaftslagers vorhanden war. Die GdL überbot, mit Verweis auf die besonderen Arbeitsbedingungen und -anforderungen der Lokomotivführer, gezielt die Tarifforderungen von Transnet und GDBA um ein vielfaches und mobilisierte im Herbst 2007 und Frühjahr 2008 zum bis dahin größten Arbeitskampf in der Nachkriegsgeschichte des Schienenverkehrs in Deutschland. Lokführer stellen zwar nicht die quantitativ größte, fraglos aber die qualitativ bedeutsamste Berufsgruppe im Eisenbahnverkehr dar. Nicht zuletzt die darauf aufbauenden Tariferfolge der GdL sorgten dafür, dass sich immer mehr Zugführer von Transnet, GDBA und Ver.di abwandten und der kleinen GdL beitraten, deren Abschlüsse ihnen deutliche Vorteile versprachen. Die Gewerkschafter aus dem DGB geißeln die Konkurrenzstrategie der GdL als in hohem Maße unsolidarisch.
Hier erreichen wir nun den wahren Kern der gewerkschaftlichen Zukunftsfrage. Denn der Ruf nach der Rückkehr von Solidarität und einheitsgewerkschaftlichem Denken dürfte ungehört verhallen, allein schon weil die Vorstellung einer solidarischen, überideologischen Einheitsgewerkschaft unter dem Dach des DGB immer schon mehr Wunschdenken als Realität war. So wollte sich die standesbewusste Angestelltenschaft der Republik bereits in den Gründungsjahren nicht mit Arbeitern in einen Topf werfen lassen. Weder wollte man in die gleichen Sozialkassen einzahlen wie das Proletariat, noch war man willens, sich eine Arbeitnehmervertretung mit den Industriearbeitern teilen. Das Korps der weit stärker statusorientierten Beamten blieb für den DGB ohnehin kaum erreichbar. DAG und DBB waren die frühen Ausdrücke einheitsgewerkschaftlichen Scheiterns. Doch all dies schien in der spätindustriellen Bundesrepublik zunächst kaum eine Rolle zu spielen. Der DGB war der überragende Gewerkschaftsverband der Republik, organisierte in seiner Hochphase in den 1970er und 1980er Jahren beinahe acht Millionen Arbeitnehmer. Die großen Industriegewerkschaften bestimmten das Tempo. Die Lohnabschlüsse der IG Metall galten als branchenübergreifende Leitlinien, die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche wurde zum letztgültigen Machtbeweis der Metaller.
Doch da hatte die Transformation von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft bereits volle Fahrt aufgenommen. So richtig ernst mochte man im DGB den ersten Fluglotsenstreik im Jahr 1973 wohl noch nicht nehmen, ein singulärer Fall einer quantitativ unbedeutenden und renitenten Gruppe, deren Spezialinteressen die Großgewerkschaften weder angemessen vertreten konnten noch wollten. Doch war 1973, das Jahr des Beginns der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland, eine Zäsur für die gewerkschaftliche Entwicklung im Lande. Es bedeutete den Anfang vom Ende der Machtposition des DGB und der Industriegewerkschaften. Und er signalisierte das Ende der Fiktion des gewerkschaftlichen Solidaritätsideals über alle Branchen und Berufsgruppen hinweg. Die Fluglotsen waren die ersten Experten, die entdeckten, welche Optionen in ihrem hochtechnisierten und anspruchsvollen Arbeitsbereich steckten. Arbeitskämpfe an den zentralen Schaltstellen des immer komplexeren und engmaschigeren Verkehrsnetzes würden eine neue Qualität bedeuten: Im Gegensatz zu den arbeitsteiligen Tätigkeiten in der industriellen Fertigung sind diese Spezialisten nicht durch andere Arbeitnehmer zu ersetzen. Ohne sie bricht das System zusammen. Das wichtigste Kampfinstrument der Arbeitgeber, die Aussperrung, verpufft hier wirkungslos.
Seit geraumer Zeit erheben solche Spezialistenverbände immer häufiger den Anspruch auf selbstständige Tarifverhandlungen und treten somit offen in Konkurrenz zu den Verkehrsunternehmen, aber auch zu allen anderen Arbeitnehmern und deren Gewerkschaften innerhalb der Branche. Ob Fluglotsen (GdF), Flugbegleiter (UFO), Piloten (Cockpit) oder eben Lokführer – die Arbeitnehmerelite des Luft- und Schienenverkehrs ist in der Lage, ihre Arbeitgeber regelmäßig in die Knie zu zwingen. Solidarität lässt sich auf diese Weise nicht mehr stiften. Denn während die Elite ihre Soli spielt, gelingt es den traditionellen DGB-Gewerkschaften kaum mehr, eigene Akzente zu setzen. Der Mitgliederschwund vor allem im labileren und flexibilisierten, aber gesamtwirtschaftlich expandierenden Dienstleistungssektor zwingt zu weiterer Rationalisierung und zu Fusionen der Gewerkschaften des großen Überhangs an Nicht-Eliten. Diese neuen Multibranchengewerkschaften sind so glücklos wie organisatorisch notwendig. Ihre Chance besteht möglicherweise nur darin, dem wachsenden Heer der prekär Beschäftigten in allen Branchen eine politische Stimme zu verleihen. Diesem Mehrwert müssen sie stärker Ausdruck verleihen, Trittbrettfahrer wohl zähneknirschend mitnehmen. Denn im Zeitalter von Strukturwandel und dauerhafter Massenarbeitslosigkeit ist Solidarität für die Gewerkschaften kein belastungsfähiger Baustein mehr.
Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.