Der andere Hitler

[präsentiert]: Frauke Schulz liest Eric-Emmanuel Schmitts „Adolf H. – Zwei Leben“. Begeistert ist sie vor allem von dessen neuer Technik des Biographie-Schreibens.

„Der gängige Irrtum in Hinblick auf Hitler besteht darin, dass man in ihm eine Ausnahmeerscheinung sieht, ein Ungeheuer jenseits des Fassbaren, einen Barbaren ohnegleichen. Dabei ist er ein gewöhnlicher Mensch. Banal wie das Böse. Banal wie Du und ich. Du könntest es sein so gut wie ich.“ (Eric-Emmanuel Schmitt im Arbeitsjournal zu Adolf H. – Zwei Leben)


Über Adolf Hitler gibt es viele Biografien, darunter die monumentalen Werke von Ian Kershaw und Joachim Fest oder die klugen Anmerkungen zu Hitler von Sebastian Haffner. In keiner dieser umfangreichen Biografien jedoch liest man von Hitlers Zeit an der Kunstakademie in Wien, seinem Leben als Maler in Paris und seinem Ruhm als Expressionist. Der Grund dafür ist einfach: Adolf Hitler wurde von der Kunsthochschule abgelehnt, er wurde niemals Künstler. Bei Eric-Emmanuel Schmitts Hitler-Biografie ist das anders: Er beschreibt ausführlich Adolf Hitlers Jahre an der Akademie, seine lange Suche nach dem individuellen künstlerischen Stil, sein Hadern mit dem eigenen Werk. Denn Schmitt schreibt eine fiktionale „Was-wäre-wenn“-Biografie.

In seinem Roman Adolf H.- Zwei Leben bewegt ihn die Frage, wie Adolf Hitlers Leben verlaufen wäre, wenn er nach einem erfolgreichen Abschluss der Kunsthochschule ein Leben als Maler geführt hätte. Schmitt fragt damit implizit auch, wie die Geschichte der NSDAP, Deutschlands, Europas und der Welt verlaufen wäre, hätte es nicht den größenwahnsinnigen Politiker, Strategen und Agitator Adolf Hitler gegeben. Für Schmitt liegt in der endgültigen Ablehnung von der Kunstakademie die ultimative und nie verwundene Demütigung des jungen Adolf Hitler, der damals, mit 19 Jahren, ein verstörter, an Selbstüberschätzung leidender Träumer und Tagedieb war. Das „Nein!“ der Kunstakademie löste in ihm eine fatale psychologische Reaktion aus, die sich wie ein Muster einprägte:

„Hitler ist nicht nur Opfer seines Scheiterns, sondern auch Opfer der Analyse seines Scheiterns. Als er bei der Aufnahmeprüfung scheitert, gelingt es ihm nicht, diese Niederlage richtig zu entschlüsseln. Anstatt anzuerkennen, dass er nicht genug gearbeitet hat, kommt er zu dem Schluss, er sei ein verkanntes Genie. Erster Tobsuchtsanfall. Erste Abkapselung. Erster paranoider Schub. Es ist nicht nur das Scheitern in der Malerei, das ihn prägen wird, sondern vor allem seine Interpretation (sein Leugnen) dieses Scheiterns.“ (Eric-Emmanuel Schmitt im Arbeitsjournal zu Adolf H. – Zwei Leben)

Womöglich wurden mit diesem Moment die Weichen gestellt für den späteren Verlauf der Biografie Hitlers und damit zugleich für das Schicksal von vielen Millionen Menschen.

Eric-Emmanuel Schmitt erschafft in seinem Roman eine Kontrastfolie: Er legt die fiktive Lebensgeschichte des potentiellen Kunstmalers Adolf Hitler auf die – ebenfalls prosaische – Erzählung von dessen wahrhaftiger Biografie. Als formales Stilmittel zur Abgrenzung der beiden Lebensversionen voneinander wählt Schmitt die Benennung der Protagonisten: Adolf H. ist der Pariser Künstler, der deutsche Diktator wird nur als Hitler bezeichnet. Beide Varianten des Romans leben gleichermaßen von inneren Monologen, lebhaften Dialogen und detaillierten Beschreibungen. Dabei hält Schmitt sich in der „Durchgefallen“-Version an die bekannten Eckdaten aus Adolf Hitlers tatsächlicher Biografie.

Schmitt kreiert so ein antagonistisches Doppelporträt:

„Adolf H. sucht sich zu verstehen, während der echte Hitler nichts von sich weiß. Adolf H. erkennt die Existenz von Problemen in sich an, während Hitler sie begräbt. Adolf H. heilt sich und öffnet sich den anderen, während Hitler in seiner Neurose versinkt und jede menschliche Beziehung kappt. Adolf H. stellt sich der Realität, während Hitler sie leugnet, sobald sie seinen Wünschen entgegensteht. Adolf H. erlernt Demut, während Hitler ‚der Führer’ wird, ein lebender Gott. Adolf H. öffnet sich der Welt, Hitler zerstört sie, um sie wieder in Ordnung zu bringen.“ (Eric-Emmanuel Schmitt im Arbeitsjournal zu Adolf H. – Zwei Leben)

Die Parallelisierung ist nicht nur literarisch interessant, sondern auch eine bemerkenswerte Facette von Biografieforschung und -schreibung. Denn die detailreiche Darstellung dessen, was nicht passierte, was aber hätte passieren können, unterstreicht umso deutlicher, was wirklich geschah. Durch die Erschaffung einer alternativen Biografie und damit einer alternativen Realität verdeutlicht Schmitt die Schicksalhaftigkeit des tatsächlichen Geschichtsverlaufs, zugleich führt er der Leserschaft die Absurdität von Adolf Hitlers Aufstieg und seiner Macht vor Augen.

Der fiktive Charakter, Kunstmaler Adolf H., wird durch einen geschickten Kunstgriff des Autoren von den Komplexen befreit, die den Diktator Hitler kennzeichnen: Schmitt schickt Adolf H. in die therapeutische Sprechstunde von Siegmund Freud, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls in Wien lebt. Diesem gelingt es, das mindere und zugleich völlig übersteigerte Selbstwertgefühl des Adolf H. auszubalancieren, ihm die tief sitzenden Schuldgefühle zu nehmen.

Die zentrale Frage des Romans – wie wäre die Historie verlaufen, hätte es nicht den Diktator Adolf Hitler gegeben? – beantwortet Schmitt sehr eindeutig: glimpflicher, vorhersehbarer, weniger grausam. Denn Adolf H. – traumatisiert vom Ersten Weltkrieg – zieht nach Paris, wo er sich als Expressionist einen Namen macht und schließlich mit einer jüdischen Frau glücklich wird. Er führt ein vergleichsweise normales, fast banales Leben. Die deutsche Politik betrachtet er als interessierter Unbeteiligter von außen. Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin emigriert Adolf H. zu seiner Tochter in die USA, wo er letztlich, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, stirbt.

Und was geschieht in Deutschland? Der Vertrag von Versailles lässt die Gemüter nicht ruhen. Ein rechtes Regime – das die alten Eliten und die Armee hinter sich weiß, nicht jedoch die Volksmassen – führt einen Blitzkrieg gegen Polen und erobert so die verlorenen Ostgebiete zurück. Hiernach scheint der deutsche Wunsch nach Revanche gestillt, es pendelt sich eine gemäßigt-konservative Regierung ein. Antisemitismus bleibt eine Randerscheinung.

Schmitts Urteil also über Deutschland ohne Adolf Hitler: ein Krieg zwar, doch aber kein zweiter Weltkrieg, keine Allmachtsfantasien, kein industrieartiger Massenmord, keine Ausrottung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Auch die kulturelle und politische Entwicklung der gesamten Welt nimmt einen anderen Verlauf: Die geistes- und naturwissenschaftliche Elite Europas bleibt in der Heimat, da es keinen Grund zu Flucht und Emigration gibt. Die USA sind somit ein ferner, provinzieller Handelspartner anstatt zur politischen und technologischen Weltmacht zu avancieren. Sogar der gegenwärtige Nahost-Konflikt wird verhindert, da der Staat Israel besonnen und weniger hastig etabliert werden kann.

Der Roman Adolf H. – Zwei Leben statuiert inhaltlich ein Exempel, er kann durch seine ungewöhnliche Form jedoch auch als eine Ausnahmeerscheinung im Genre der Biografik gelesen werden. Es ist nicht Schmitts Anspruch, einen neuen Beitrag zur Erforschung der Lebensgeschichte Adolf Hitlers zu leisten, vielmehr nutzt er einen außergewöhnlichen biografischen Ansatz, um psychologische, philosophische und politische Thesen zu transportieren.

Durch die zahlreichen inneren Monologe beider Protagonisten sowie durch den scharfen Kontrast der Lebensverläufe löst Schmitt eine emotionale Reaktion aus, die beim Rezipienten einen eigenständigen, kritischen Denkprozess anstößt. Denn, so Schmitt, „Literatur ist kein Selbstzweck. Ein Buch muss Streit auslösen, sonst ist es nutzlos.“ (Eric-Emmanuel Schmitt im Arbeitsjournal zu Adolf H. – Zwei Leben)

Der Leserschaft von Adolf H. – Zwei Leben bleibt letztendlich nur ein Urteil: Schmitts historische Alternative bleibt Spekulation, Wunschdenken und Fiktion zugleich. Doch lässt sie die Grausamkeit der historischen Wahrheit umso unfassbarer erscheinen.

Rezension zu: Eric-Emmanuel Schmitt: Adolf H. – Zwei Leben. (2. Auflage) Fischer-Verlag, Frankfurt 2008.

Frauke Schulz ist wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt „Politische Führung im deutschen Föderalismus„. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich intensiv mit Biographieforschung.