Der australische Politikwissenschaftler Hedley Bull erklärte die Funktionsweise des internationalen Systems im Zeitalter der Bipolarität (Kalter Krieg) mit den Begriffen „Anarchie“ und „Ordnung“.[1] Das Fehlen einer den Staaten übergeordneten Instanz (Anarchie) werde demnach v.a. durch die Bildung internationaler Gesellschaften abgefangen. Dieses Konzept sollte zwar insbesondere die internationale Politik während des Kalten Krieges erklären, doch greift das Konzept der internationalen Gesellschaft als das spannungseindämmende Element weiterhin in fast allen Regionen der Welt – mit Ausnahme des Nahen Ostens. Dort herrschen gegenwärtig Anarchie und Unordnung.
In meinem Blogbeitrag von 15. September 2017 habe ich nach einer Skizze der Geopolitik des Nahen Ostens den Schluss gezogen: „Auch nach dem vorläufigen Sieg über den Islamischen Staat ist also keine Entspannung im Nahen Osten in Sicht. Alte Rivalitäten zwischen den regionalen Akteuren werden wieder an Bedeutung gewinnen.“[2]
Diese Prognose ist eingetreten. Die wichtigste Ursache für die massiv veränderte Geopolitik der Region und das drohende Ende des Status quo, den Barack Obama mit seiner regionalen balance of power zwischen Iran und Saudi-Arabien durchgesetzt hatte, ist in der neuen Nahoststrategie, besonders der Iranpolitik Donald Trumps zu sehen. Diese Strategie, die am 13. Oktober 2017 verkündet wurde, hat folgende Eckpfeiler:[3]
- Blockierung aller Wege, die dem Iran zur Herstellung einer Atombombe verhelfen könnten;
- Irans Raketenprogramm scharf entgegentreten;
- Irans regionale Destabilisierungsaktivitäten stoppen;
- die Verhängung von Sanktionen gegen die iranischen Revolutionswächter als Maßnahme der Terrorismusbekämpfung.
Donald Trump hatte bereits in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung den Gottesstaat scharf attackiert und ihn als „Schurkenstaat“ und „Förderer des Terrorismus“ bezeichnet, der die Region destabilisiere.[4] Trumps Auftritt bei der UNO sowie seine Iranstrategie legen nahe, dass der Iran der wichtigste Faktor der amerikanischen Nahostpolitik ist. Anders als Barack Obama hat die neue Administration eine klare Frontlinie im Nahen Osten gezogen. Die USA sind ein entschlossener Verbündeter der „Arabischen Koalition“ unter Führung von Saudi-Arabien. De facto ist auch Israel Teil dieses Bündnisses. Die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien ist das Resultat der neuen US-Politik.
Der große Schock in der Region ereignete sich innerhalb von wenigen Tagen in der ersten Novemberwoche. Zuerst quittierte der pro-saudische libanesische Ministerpräsident Saad Hariri von Riad aus den Dienst. Er verlas eine Erklärung, in der er Teheran wegen der Einmischung im Libanon durch die Hisbollah scharf angriff. Hariri hatte sich am Tag zuvor mit Ali-Akbar Velayati, dem wichtigsten außenpolitischen Berater des iranischen Revolutionsführers Khamenei, getroffen. Er könnte zwischen Hammer und Amboss geraten sein. Die Saudis erwarteten eine härtere Gangart gegen die Hisbollah, und Velayati wollte, dass Hariris Regierung den von den USA verhängten Sanktionen gegen die Hisbollah keine Folge leistete, denn das würde die finanzielle Existenz der Miliz gefährden. Am Tag danach wurden überraschend elf saudische Prinzen, vier Minister und mehrere Duzend Ex-Minister auf Anordnung von Kronprinz Mohammed bin Salman wegen des Vorwurfs der Korruption verhaftet. Währenddessen kam die Meldung über eine von der jemenitischen, dem Iran nahestehenden Huthi-Miliz auf den Flughafen der saudischen Hauptstadt Riad abgefeuerte ballistische Rakete, die in der Luft abgefangen werden konnte. Riad sieht die Islamische Republik Iran hinter der Attacke und bezeichnete diese als „einen Akt des Krieges“. Saudi-Arabien behalte für sich vor, bei passender Gelegenheit dem Iran zu antworten. Diese Ereignisse könnten die Vorstufe eines neuen Golfkrieges sein.
Hat Donald Trump recht mit seinen Vorwürfen gegen den Iran?
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat mehrfach betont, dass der Iran sich an das Nuklearabkommen vom Juli 2015 (JCPOA)[5] halte.[6] Im Endeffekt sind die US-Vorwürfe, der Iran missachte dieses Abkommen, bis auf einige geringfügige Verstöße haltlos. Allerdings: Nicht das JCPOA, aber die UN-Resolution 2231 verbietet dem Iran, ballistische Raketen zu testen. Und Trump hat längst klargemacht, dass er das gesamte „Problempaket“ mit dem Iran angehen wolle. Diese Resolution hat der Ayatollah-Staat bereits während der ersten sechs Monate von Trumps Regierungszeit mehrfach durch den Abschuss von Raketen verletzt. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass einige Raketen die Aufschrift „Israel muss vernichtet werden“ trugen. Die Behauptung bezüglich der Raketentests trifft somit in dieser Hinsicht zu. Der an den Iran gerichtete Vorwurf, der wichtigste Faktor der Destabilisierung in der Region zu sein, kann ebenfalls nicht von der Hand gewiesen werden. Iranische Staatsvertreter rühmen sich, die Kontrolle über vier Hauptstädte innezuhaben: Bagdad, Beirut, Damaskus und Sanaa.
Beide Anschuldigungen sind so evident, dass mittlerweile die Regierungen in Paris, London und Berlin zwar am JCPOA festhalten wollen, das iranische Raketenentwicklungsprogramm sowie dessen destruktive Rolle im Nahen Osten jedoch scharf kritisieren. Der französische Präsident Emmanuel Macron ging gar so weit, zu behaupten, die abgefeuerte Rakete sei eindeutig eine iranische gewesen.[7] Weil sie Strafen und Sanktionen seitens der USA befürchten, werden europäische Firmen zudem nicht bereit sein, das Risiko des Handelns bzw. Investition mit Teheran auf sich zu nehmen.[8] Die USA sind in der Lage, dem Iran empfindlich weh zu tun. „[…] [T]here’s no question that the U.S. can, if it wants to, impose pretty substantial costs on Iran’s economy without anybody else’s permission or cooperation“[9], so Jarrett Blanc, ein Mitglied der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden (Carnegie Endowment for International Peace) in Washington sowie ehemaliger Offizieller des amerikanischen Außenministeriums für Iran-Angelegenheiten. Die Hoffnung des Iran, zwischen Amerika und Europa einen Keil zu treiben, schrumpft.
Die Gründe für den mysteriösen Rücktritt Hariris, der als Druck Saudi-Arabiens interpretiert worden ist,[10] bleiben noch im Dunklen. Riad soll Hariri – der den Libanon vor dem Überschwappen des Syrienkriegs bewahrte – als nicht entschlossen genug gegenüber der Hisbollah empfunden haben. Hariri selbst meldete sich zu Wort und dementierte, in Riad gefangen zu sein. Er werde bald in den Libanon zurückkehren und seinen Rücktritt überdenken, wenn die Hisbollah sich aus den regionalen Konflikten zurückziehe.[11]
Der zweite Teil des Beitrages erscheint in der kommenden Woche.
Dr. Behrouz Khosrozadeh ist Lehrbeauftrager am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Bull, Hedley: The Anarchical Society: A Study of Order in World Politics, London 1977.
[2] Khosrozadeh, Behrouz: Nach dem Zusammenbruch des Islamischen Staates (IS) werden die Hoffnungen auf Entspannung und Ruhe im Nahen Osten verblassen, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 14.09.2017, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/nach-dem-zusammenbruch-des-islamischen-staates-is-werden-die-hoffnungen-auf-entspannung-und-ruhe-im-nahen-osten-verblassen [eingesehen am 13.11.2017].
[3] Vgl. o.V.: President Donald J. Trump’s New Strategy on Iran, in: The White House, Office of the Press Secretary, 13.10.2107, URL: https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2017/10/13/president-donald-j-trumps-new-strategy-iran [eingesehen am 13.11.2017].
[4] Vgl. o.V.: Trump: Iran nuclear deal is an embarrassment, in: CNN, 19.09.2017, URL: http://edition.cnn.com/videos/politics/2017/09/19/trump-un-general-assembly-iran-sot.cnn [eingesehen am 13.11.2017].
[5] Das JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action) wurde am 14. Juli 2015 zwischen dem Iran und den 5+1+Staaten (den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates plus Deutschland) abgeschlossen; vgl. o.V.: Joint Comprehensive Plan of Action, in: U.S. Department of State, 14.07.2015, URL: https://www.state.gov/e/eb/tfs/spi/iran/jcpoa/ [eingesehen am 14.11.2017].
[6] Vgl. o.V.: Iran hält sich an Vorschriften des Atom-Deals, in: Handelsblatt, 13.11.2017, URL: http://www.handelsblatt.com/politik/international/iaea-bericht-iran-haelt-sich-an-vorschriften-des-atom-deals/20577542.html [eingesehen am 28.11.2017].
[7] Vgl. Gambrell, Jon France’s Macron heads to Riyadh from UAE in surprise trip, in: Washington Post, 09.11.2017, URL: https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/frances-macron-heads-to-riyadh-from-uae-in-surprise-trip/2017/11/09/2efa8890-c5be-11e7-9922-4151f5ca6168_story.html?utm_term=.75db6f653f41 [eingesehen am 13.11.2017].
[8] Vgl. o.V.: Milliardenstrafe für BNP Paribas. US-Vorgehen lässt Europas Banken zittern, in: ntv, 25.06.2014, URL: http://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Vorgehen-laesst-Europas-Banken-zittern-article13090966.html [eingesehen am 13.11.2017].
[9] Zitiert nach Nasseri, Ladane: Trump’s Iran Policy Is a Headache for EU Business, 17.10.2017, in: Bloomberg, URL: https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-10-17/trump-gave-eu-business-a-new-iran-headache-whatever-leaders-say [eingesehen am 14.11.2017].
[10] Vgl. Barnard , Anne: Lebanon’s Leader, Still in Saudi Arabia, Claims He’s Free to Go, in: The New York Times, 12.11.2017, URL: https://www.nytimes.com/2017/11/12/world/middleeast/lebanon-saad-hariri-saudi-arabia.html [eingesehen am 28.11.2017].
[11] Siehe Barrington, Lisa/Bassam, Laila: Hariri warns Lebanon faces Arab sanctions risk, to return in days, in Reuters, 12.11.2017, URL: https://www.reuters.com/article/us-lebanon-politics-hariri/hariri-warns-lebanon-faces-arab-sanctions-risk-to-return-in-days-idUSKBN1DC0WW [eingesehen am 13.11.2017].