[kommentiert]: Jöran Klatt über Starbucks-Filialen und andere third spaces.
Demokratie lebt von Öffentlichkeit, Transparenz, von Orten und Räumen, die für die Gemeinschaft gemacht sind. Gleichermaßen jedoch lebt sie von Privatheit, Hinterzimmern und Ruheräumen, von denen aus Meinungen gebildet werden, geplant, organisiert und vorbereitet und darüber hinaus auch geherrscht werden kann. Demokratie ist multispatial, sie benötigt eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Orte und Räume. Doch neben den genannten existieren auch noch jene Räume, die sich nicht so recht den Kategorien Privatheit und Öffentlichkeit fügen wollen. Sie werden third spaces genannt: dritte Räume. Der Begriff entstammt der Schule der kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel, der cultural turns. Raum ist dort keine unveränderbare Größe, sondern ein von Menschen gemachtes, gedachtes und veränderbares Konstrukt. Räume sind soziale Räume, also Lebenswelten, die erst durch die Praxis jener entstehen, die darin und damit leben – und damit eben auch etwas, das sich wandeln kann.
Der Philosoph Paul Virilio war der Meinung, dass Kategorien, die den Raum definieren – wie etwa Privatheit und Öffentlichkeit –, verschwinden, modernes Leben nicht mehr von dem „Gegensatz zwischen Stadt und Land“ oder überhaupt „Zentrum und Peripherie“ geprägt sei.[1] Der Soziologe Hartmut Rosa bemerkt, dass „immer mehr soziale Ereignisse […] im Zeitalter der Globalisierung […] ‚ortlos‘“ würden.[2] Eben diese Tendenz beschreibt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick als eine räumliche Variante der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es sei paradox, dass wir es in den Raumdiskursen seit den 1980er Jahren gleichermaßen mit einer „neuen Raumkonstruktion“ wie mit einer „Enträumlichung und Entortung“ zu tun hätten. Einerseits boomten die „expandierenden uneigentlichen Orte“, andererseits gebe es aber auch eine „Wiederentdeckung des Lokalen“.[3] Der Lifestyle der globalisierten urbanen Mittel- und Oberschicht (es ist alles andere als trivial zu bemerken, dass hier hauptsächlich über sie geredet wird) ist einerseits geprägt von dem Bedürfnis nach echten Räumen (etwa durch Landflucht oder Waldlust) und andererseits durch identitäts- und geschichtsleere Transit- und Übergangsräume, die sogenannten „Nicht-Orte“[4].
Eine Verkörperung dieses Widerspruchs sind die Filialen der Kaffeekette Starbucks. Erklärtes Ziel des Unternehmens ist es, ein „third place“ zu sein.[5] Starbucks will eine Zwischenlösung liefern, zwischen Arbeit und Freizeit, aber auch zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Damit weckt Starbucks zunächst (scheinbar) den Mythos eines anderen Ortes der Demokratie, den der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ thematisiert hat: „Die ‚Stadt‘ ist nicht nur ökonomisch Lebenszentrum der bürgerlichen Gesellschaft; im kulturpolitischen Gegensatz zum ‚Hof‘ bezeichnet sie vor allem eine frühe literarische Öffentlichkeit, die in den coffee-houses, den salons und den Tischgesellschaften ihre Institutionen findet.“[6] Habermas geht es um den öffentlichen Raum. Er bemerkt, dass wir zwar zunächst „öffentlich“ nennen würden, was allgemein allen zugänglich sei. Aber nur weil etwas „öffentlich“ genannt werde, sei dies bei Weitem noch nicht wirklich allen zugänglich. Öffentlichkeit ist für ihn daher auch eine normative Kategorie, eher ein Ideal, das es zu erreichen gilt. Öffentlichkeit, auch als kritische Gegenöffentlichkeit, sei trotz vorhandener „Tendenzen des Zerfalls […] offenbar mehr und anderes als ein Fetzen liberaler Ideologie, den die soziale Demokratie unbeschadet abstreifen könnte“[7]. Kaffeehäuser erzeugten dabei eine Teilöffentlichkeit mit kritischem Potenzial.
Starbucks-Filialen sind aber keine Kaffeehäuser im Sinne von Habermas. Denn als Orte des dritten Typus sind sie hybrid und vielseitig angelegt. Was zunächst zu einer pluralen heterogenen Zivilgesellschaft passend erscheinen mag, ist gleichzeitig ihr Manko: Sie schließen nichts aus. Für die Bewohner bzw. Besucher der dritten Orte typisch ist die „Verschiebung von Beziehungen, die auf Gemeinsamkeiten in der Lebensführung gründen, hin zu Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Identitäten. Letztere passen besser zum amöbenhaften postmodernen Selbst.“[8] Was man hier nicht findet, sei es Identität, Verbündete oder gar Gegner, findet sich notfalls im Netz, und die Leserichtung kehrt sich um: Das kritische Potenzial des Subjekts ist somit selbst nicht mehr ortsgebunden und schickt sich selbst auf digitale Wanderschaft.
Der Schriftsteller Robert Misik hat über die politische Szene Wiens, jener Stadt die besonders mit dem Ideal des Kaffeehausintellektuellen assoziiert wird, bemerkt, dass dieser heute mehr Klischee als Wirklichkeit und wohl „ausgestorben“ sei. Er oder sie, soweit es ihn oder sie denn überhaupt noch gibt, lebe heute viel mehr globalisiert. Einerseits sei das „toll, wenn eine globale A-Liga auf Wanderschaft ist […], aber das nimmt natürlich auch lokale Differenzen und Signifikanz“[9]. Was hier für die Intellektuellen beklagt wird, lässt sich auch auf andere Milieus übertragen: Mit dem Verlust der klaren Lokalität von Privatheit und/oder Öffentlichkeit (im doppelten Sinne) verschwindet auch der zuweilen notwendige Rückzugsort.
Die Einsamkeit und der apolitische Charakter des Ortes, an dem man sich physisch befindet, werden dabei entweder nicht mehr wahrgenommen oder gar selbst verwertet und somit nicht mehr beklagt. Das Motiv des einsamen Schöpfungsaktes von Kultur, Gedanken oder irgendeiner Art gesellschaftlich politischer agency wird in der Popkultur gerne zitiert: In den Fernsehserien „The Big Bang Theory“ und „Two and a half Men“ etwa gibt es jeweils Szenen, in denen Personen im Café mit dem Laptop vor sich ein Drehbuch zu schreiben versuchen, um aus der Bedeutungslosigkeit aufzusteigen. Persiflage – aber vielleicht ehrlicher als „House of Cards“, eine Serie, in der sich die Charaktere (Politiker, Journalisten und Manager) häufig in Bars und Cafés treffen und dort nicht selten über die Weltpolitik bestimmen. Auch hier geht es um die Elite und die scheinbare Notwendigkeit, ihr anzugehören, um dadurch Bedeutung zu generieren. Unterschwellig wird die Ausschaltung des Demos zum Witz herabgedeutet oder als Stilmittel verklärt.
Indes waren auch das Kaffeehaus und die literarische Öffentlichkeit, die Habermas beschrieben hat, Orte der Elite und damit exklusiv. Doch waren sie, anders als die Öffentlichkeit der Cyberspaces und der dritten Orte, lokalisierbar. Wem der Aufstieg in diese verwehrt war, konnte sich etwa, wie die Arbeiterklasse gegen Ende des 19. Jahrhunderts, durch Distinktion abgrenzen und eigene Orte schaffen.
Third Spaces dagegen sind integrativ und schwer von jeglicher Kritik zu fassen, da sie eben nichts wirklich ausschließen, alles zulassen und in ihnen (scheinbar) alles möglich ist. Sie haben kein natürliches Milieu, das sie erschafft, und integrieren wie der Neoliberalismus selbst prinzipiell jede/n. Soziale Rollen an diesen Orten sind jedoch, was früher nur für den Kaffee galt, käuflich. Milieus werden zu Subkulturen, aus dem Kaffeehaus ist ein Coffeeshop, aus einem Ort der Demokratie ein Ort der simulativen Demokratie[10] geworden, an dem der Mensch glaubt, durch Habitus, Stil, Ästhetik und Mythos über Macht dereinst verfügen zu können, wenn man sich nur individuell und bedeutsam genug auflädt (also wenn man das Drehbuch schreibt und/oderzur Elite gehört, die im Kaffeehaus gewichtige Geheimnisse austauschen darf). Identität ist hier ein additiver Prozess von vermeintlich selbstbestimmtem Konsum. Daher ist es nicht bloß Kulturpessimismus, darauf hinzuweisen, dass das Ideal der Kaffeehäuser und der kritischen Öffentlichkeit, der lokalisierbaren politischen Identität, nicht ohne Konsequenzen für die Demokratie durch Cyberspace und Starbucks ersetzt werden kann.
Jöran Klatt arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er promoviert an der Universität Hildesheim über Sexismus in der GamerInnen-Szene.
[1] Virilio, Paul, Die Auflösung des Stadtbildes, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 261–273, hier S. 261.
[2] Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2008, S. 166.
[3] Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 288.
[4] Augé, Marc: Nicht-Orte, Frankfurt a.M. 2011, insb. S. 83.
[5] Dollinger, Matthew: Starbucks, ‚The Third Place‘, and creating the ultimate customer experience, URL: http://www.fastcompany.com/887990/starbucks-third-place-and-creating-ultimate-customer-experience [zuletzt eingesehen am 14.10.2015].
[6] Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 89.
[7] Ebd., S. 54–58.
[8] Skidelsky, Robert/Skidelsky, Edward: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, München 2013, S. 238.
[9] Misik, Robert: Abgesang auf die Kaffeehaus-Kultur. Zur intellektuellen Kartographie Wiens, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 1 (2011), H. 0, S. 82-86, hier S. 85 f.
[10] Blühdorn, Ingolfur: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013.