Das Mysterium des Kreuzes

[analysiert]: Klaudia Hanisch analysiert den Zustand der polnischen Gesellschaft ein Jahr nach der Flugzeugkatastrophe.

Seit einem Jahr hat das Datum des 10. April in Polen eine ähnliche Symbolkraft wie der 11. September in den USA. An diesem Tag kamen bei der Flugzeugkatastrophe im russischen Smolensk der polnische Präsident Lech Kaczyński, seine Ehefrau, drei Vizeminister, die Sejm- und Senatsvizemarschälle, 19 Parlamentsmitglieder, der Präsident der Zentralbank, der Chef des Nationalsicherheitsbüros, der Chef des Generalstabs sowie fast die gesamte Belegschaft der Präsidentenkanzlei ums Leben: Insgesamt 96 Menschen.

Dieses schreckliche Ereignis hat das Land in einen Ausnahmezustand versetzt und leitete das „polnische Katastrophenjahr“ ein. Es war schwer, sich der kollektiven Erregung nach dem Unglück und der Solidarität der Menschen in ihrer Trauer zu entziehen. Die Medien berichteten wochenlang über nichts anderes, die meisten Radiostationen sendeten rund um die Uhr Chopin. Zur gleichen Zeit wurden die wildesten Theorien entwickelt, was wirklich im Wäldchen bei Smolensk passiert sei. „Opfer“, „Verrat“, und „Verschwörung“ waren gängige Kategorien. Die Folgen für die politische Kultur kann man am besten an den so genannten „Verteidigern des Kreuzes“ illustrieren: Anfang August organisierten Sympathisanten der Kaczyński-Brüder eine ständige Wache vor einem riesigen Gedenkkreuz vor dem Präsidentenpalast und verhinderten so dessen Entfernung. Es kam zu verzweifelten Rangeleien mit der Polizei und den politischen Gegnern, selbst Priester wurden nicht zu dem Kreuz vorgelassen. Der „Krieg um das Kreuz“, wie die Kontroverse zumeist genannt wird, hatte begonnen. Getrennt durch Polizei und Barrikaden demonstrierten nun täglich tausende Gegner und Befürworter des Kruzifixes. Bilder von Szenen wie aus dem Mittelalter gingen um die Welt. Doch was meistens übersehen wurde, war die Tatsache, dass dieses Kreuz nicht nur irgendeine Devotionalie ist, sondern ein Kampfsymbol um die Deutungsmacht der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1989.

Lange sah es so aus, als ob sich die relevanten politischen Gruppierungen in Polen an bewährten ideologischen Leitbildern aus dem Westen orientierten und diese somit Bestandteil des politischen Mainstreams werden könnten. Doch so viel Spielraum war im Transformationsland Polen gar nicht gegeben. Unter Wirtschaftsexperten und Politikern kam es zum breiten Konsens, dass außer der liberalen Vision keine andere für die Zukunft des Landes existierte. Denn sie allein galt als „rational“. An der Stelle von Weltanschauungen, nationalen Mythen und romantischen Verklärungen sollte ein stabiles und prosperierendes Wirtschaftssystem treten, dessen „Sachzwänge“ jede Diskussion überflüssig machten. Die Regierungen, egal ob unter der sozialdemokratischen SLD oder dem Konservativen AWS, setzten auf einen Reformkurs, der an marktwirtschaftlichen Maximen, fiskalischen Restriktionen und internationalen Bezugssystemen orientiert war. Begleitet wurde dies immer wieder durch haarsträubende Korruptionsfälle. Bereits nach einigen Jahren wurde eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Verlierer und Gewinner der Transformation sichtbar. Dennoch war die politische Identität der Gesellschaft bzw. der Gesellschaftsteile nur schwer bestimmbar und die zwischen den Parteien stattfindenden Debatten blieben für die meisten Wähler unverständlich.

Erst 2005 wurde mit dem genial konzipierten Wahlkampf der Partei von Lech Kaczyński und dessen Zwillingsbruder Jarosław dem Bedürfnis nach Sinnstiftung Rechnung getragen. Die Kaczyńskis wurden von einer besonderen politischen Mission getrieben, sie wollten eine erneuerte, bessere „Vierte Republik“ aufbauen. Doch dafür brauchten sie Feindbilder. Mit der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verbindet man heute auch den Anfang des „polnisch-polnischen Krieges“, den die Brüder und deren Umfeld zuerst gegen die „Postkommunisten“, später gegen die liberalen Eliten und die Bürgerplattform des aktuellen Premierministers Donald Tusk führten. Der Vision des „liberalen Polens“ setzte PiS eine des „solidarischen Polens“ entgegen. So zog die Partei vor allem traditionsverwurzelte, ältere Menschen an, die ihre Hoffnungen und Sehnsüchte stark mit der katholischen Kirche und der Idee des Polentums verbinden. Die Flugzeugkatastrophe und die ihr folgenden Kontroversen haben diese Spaltung der Gesellschaft wohl für lange Zeit besiegelt.

Der Politikstil von „Recht und Gerechtigkeit“ wird von westlichen Beobachtern oft als „paranoid“ beschrieben, womit jenes Phänomen gemeint ist, bei dem hysterische Untergangsszenarien und Verschwörungstheorien Eingang in die Debatte der politischen Mitte gefunden haben. Dabei wird außer Acht gelassen, dass Verschwörungstheorien immer dann entstehen, wenn Menschen das Gefühl haben, dass es eine immer größere Distanz zwischen den einfachen Leuten und ihren politischen Repräsentanten gebe und die Interessen der Wähler nicht mehr vertreten werden.

„Früher haben sich die Forscher gewundert, dass Verschwörungstheorien just im Moment der Aufklärung aufkamen, als die Leute doch eigentlich hätten vernünftig werden sollen. Mittlerweile ist man davon überzeugt, dass durch den Prozess der Säkularisierung wohl auch eine Sehnsucht nach Sinn freigesetzt wurde“, so der Historiker Michael Butter. So wurde das durch die Französische Revolution hinterlassene Wertevakuum mit dem Streben nach Ganzheit und Synthese im Fall Polens von einer ganz besonderen Steigerung des Nationalgefühls begleitet. Es war die Zeit des polnischen Messianismus in der Philosophie und der Literatur. Die Romantik hatte ganze Generationen in der Überzeugung großgezogen, dass „der Dienst am Vaterland eine Art Einweihung sei, die von innen her zu verstehen sei, durch die Teilnahme am nationalen geschichtlichen Mysterium“. Eine wichtige Rolle spielte auch das Empfinden, dass man sich an der Nahtstelle von Kulturwelten befinde – dass das nationale Leben „wie zwischen dem fernen Osten und dem fernen Westen gekreuzigt“ sei.

Auch heute, wie am Beispiel des Eklats um das Gedenkkreuz zu erkennen ist, gewinnt der Kampf um solch transzendent angehauchte Symbole und Traumata erneut an Bedeutung. Dies ist typisch für Gesellschaften wie die polnische, in der Demokratie und Marktwirtschaft über Jahrzehnte nur vom Hörensagen bekannt waren, und die an die mediale Vermittlung nur einer „Wahrheit“ gewöhnt war. Noch immer leidet sie unter Irrtümern, die Folge einer idealisierten Betrachtung aus der Ferne ist. Dass auch in den westlichen Demokratien über Lösungen stets gestritten wird, ist hingegen keine weit verbreitete Einsicht. Insofern ist für viele Polen Demokratie zunächst identisch mit der Durchsetzung eines nicht näher definierten gemeinen Volkswillens. Überhaupt hat sich für mittel- und osteuropäische Länder ein anderes Politikverständnis eingebürgert. Politik in Polen wird nicht als die Suche nach Kompromissen, sondern als das Durchstehen von Konflikten auf dem einzig richtigen Weg zur Glückseligkeit begriffen.

Klaudia Hanisch ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.