[kommentiert] Christopher Schmitz über die Lobo-Debatte
Ein halbes Jahr hat es gedauert, bis sich die Vertreter der sogenannten digitalen Bohème aus ihrer Schockstarre befreien konnten, in die sie als Folge der unerwarteten Wucht des NSA-Spähskandals geraten waren. Nun ist unter den Wortführern jener digitalen Speerspitze damit ein Prozess in Gang gesetzt worden, um argumentativ über den Rahmen der bisherigen Debatte hinaus zu denken. Statt die Konfrontation von der pervertierten Freiheit des Internets sowie der zerstörten Privatsphäre einerseits und der Anmaßung eines nach Daten um sich greifenden Staates und seiner Geheimdienste andererseits zu thematisieren, wird nun dazu übergegangen, das Internet nicht mehr länger, einem empfindlichen Ökosystem gleich, lediglich unter „Naturschutz“ stellen zu wollen, um seine fortschreitende, vor allem staatlich gelenkte Zerstörung zu verhüten und zu diesem Zwecke Enklaven der Privatsphäre zu errichten. Stattdessen wird hinterfragt, ob das Internet überhaupt jener verheißungsvoller Märchenwald ist, für den es jahre- und jahrzehntelang gehalten wurde.
Den Anfang machte hierbei Sascha Lobo: Dieser setzte mit einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Debatte in Gang, in der das Internet nicht mehr das sakrosankte, missbrauchte Gebilde der Emanzipation darstellt, zu dem es wieder und wieder gemacht worden ist. Lobo vollzieht seine autobiographische Katharsis, seinen persönlichen Irrtum – dieses Nicht-Wissen-Wollen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf – über die „vierte, digitale Kränkung der Menschheit: Was so viele für ein Instrument der Freiheit hielten, wird aufs Effektivste für das exakte Gegenteil benutzt.“[1] Es folgt ein Generalschock für das Individuum: Im Internet entfaltet es nicht etwa seine persönlichen Freiheiten, sondern wird vornehmlich verfolgt, durchleuchtet, überwacht. Lobos Art, sich selbst und das geliebte Medium aus dem Elysium hinunter auf den schmutzigen Boden der Tatsachen zu holen, bleibt dabei nicht ohne Pathos und markiert eine Wende in seinem Denken.
„Natürlich ändere ich meine Meinung, wenn sich die Fakten ändern. Sie nicht?“ Mit diesem Verweis auf John Maynard Keynes rechtfertigt Lobo seinen Sinneswandel in einem weiteren Text. Und natürlich habe sich mit der Aufdeckung des Spähskandals die Faktenlage fundamental geändert: Die Ausspähung sei von verschwörungstheoretisch angehauchter Befürchtung zur bitteren wie bewiesenen Realität geworden. Und sowohl das Ausmaß der Überwachung als auch, analog dazu, die Entschlossenheit der Politik, diese zu verteidigen, wäre so nicht zu befürchten, geschweige denn zu erwarten gewesen. Und so bilanziert Lobo schließlich am Ende: „Den Irrtum eingestehen, den Schmerz der Kränkung aushalten, denn dieser Tiefpunkt kann nicht, darf nicht das Ende sein. Das Internet ist kaputt, die Idee der digitalen Vernetzung ist es nicht.“[2]
Nun deutet Lobos Aussage, dass es hier zu einer Fehlentwicklung, einem Unfall gekommen sei, auf einen Umkehrschluss hin: Ein kaputter Gegenstand erfüllt nicht mehr den Zweck, für den dieser ursprünglich erdacht, entwickelt, konstruiert und vorgesehen war – könnte es aber, sofern er repariert werden würde. Das nunmehr überwachte Internet ist für die Träume von individueller Emanzipation und demokratischer Entfaltung nicht länger verfügbar, weil es „kaputt“ ist. Letztlich, so ließe sich argumentieren, ist darin immer noch die Hoffnung Lobos auf „das Gute im wahren Internet“ enthalten. Dadurch geriert sich Lobos Reise in die Selbstkritik sozusagen zu einer Katharsis mit Weichspüler. Eine Position, die im Kern alles andere als radikal ist, und lediglich in Worte gießt, was längst nicht mehr zu leugnen ist, ohne dass dabei das lang gepflegte Ideal aufgeben würde.
Eine andere Position vertritt hingegen Evgeny Morozov. Dieser kritisiert in seiner – ebenfalls in der FAZ publizierten – Replik auf Lobos Beitrag nun genau diese Haltung Lobos als unzureichend. Hierzu nennt er zwei Arten, wie angesichts der jüngsten Ereignisse mit dem Internet umgegangen werden könnte: Einerseits Lobos‘ Ansatz, bei dem aufgrund einer veränderten Faktenlage die Urteilsfindung anders auffällt, das Objekt der Analyse seinerseits in seinem Wesen jedoch nicht in Frage gestellt wird. Morozov hingegen tritt dafür ein, den Gedanken zuzulassen, dass das Internet mitnichten „kaputt“ sei, sondern im Zweifel genau so funktioniert, wie es funktionieren sollte – eine Funktionsweise hervorgegangen aus und ausgestaltet in einem Prozess von politischen, ökonomischen und anderen kulturellen Interessen und ihren jeweiligen Akteuren und Protegés. Dies ruft in Erinnerung, dass das Internet eben keine magische Technologie ist, die auf einmal, gelenkt von einer zweiten unsichtbaren Hand, über die Welt hereingebrochen ist und um deren besten Nutzen nun gerungen und gefeilscht werden müsste, sondern ein Machwerk von Menschenhand.
Morozovs Anliegen ist es, das Internet als ein Objekt der Ideologiekritik begreifbar zu machen, indem er betont, dass das Internet – so wie es sich heute darbietet – in einem Rahmen funktioniert, den politische Entscheidungen zugelassen haben. Und nun sind es vornehmlich Internet- und Technologiegiganten aus dem Silicon Valley sowie auch – und dies muss wohl hinzugefügt werden – einige Geheimdienste, die nun mit der notwendigen Kapitalmacht oder dem erforderlichen politischen Rückhalt ausgestattet in genau diesem Rahmen tätig werden. Jahrelang hat die digitale Bohème diese Entwicklung sekundiert. Staaten agierten entweder im Verborgenen oder, sofern öffentlich, unglücklich, während die Vorreiterrolle von Unternehmen im Netzausbau gut zu der von Staatsskepsis getragenen Netzutopie passte und ein Teil ihres Gründungsmythos darstellt.[3]
Diese Erkenntnis ist in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten. Weltweit organisieren sich Netzidealisten wie Internetaktivisten und werden mit Schlagwörtern wie „Weapons of the Geek“[4] (Anonymous) oder „Politik aus Notwehr“[5] (die Piratenpartei) versehen, um die Natur des Netzes gegen den politischen Eingriff zu verteidigen. Mit anderen Worten: Menschen werden politisch aktiv, um ein Konstrukt vor politischen Zugriffen zu schützen, das sie rhetorisch und diskursiv oft in eine apolitische Hülle kleiden, ohne dabei ausreichend zu hinterfragen, dass allein ihr Engagement einen gewissen Widerspruch zu ihrer Rhetorik darstellt. Warum sonst bräuchte ein unpolitisches Konstrukt politischen Schutz? Derlei Argumente erinnern nicht zufällig an Deregulierungs- und Rahmenbedingungsrhetoriken wirtschaftsliberaler Kräfte, die „dem Markt“ (und damit zumeist auch ihren eigenen Interessen) zur Entfaltung verhelfen wollen.
Der Gedanke, dass gerade ein Mehr an Politik, ein Mehr an Regulierung und Eingriffen durch den Staat das Internet reformieren soll, ist dabei für viele politisch Aktiven angesichts der Überwachungsorgien der Geheimdienste sicherlich nur schwer zu ertragen. Das weiß auch Morozov. Aber wenn das Internet jemals das Instrument darstellen soll, zu dem es einige optimistische Stimmen immer erhoben haben und auch weiterhin erheben werden, dann muss sich womöglich an den Gedanken gewöhnt werden, dass ein emanzipatorisches Internet unter einem allsehenden Auge der Geheimdienste ebenso wenig möglich sein wird wie dies unter der Federführung von den Weltkonzernen des Silicon Valleys, die ihr Tun und Handeln auf Profit und nicht auf Politisierung und Emanzipation ausrichten, ebenfalls nicht sehr wahrscheinlich erscheint.
Der entscheidende Unterschied zwischen den Positionen liegt also in dem einfachen Misstrauen eines Sascha Lobos gegenüber den Geheimdiensten als unzureichend kontrollierte staatliche Institutionen auf der einen Seite und der Hoffnung von Evgeny Morozov auf eine politische Lösung für beide Problemkomplexe auf der anderen Seite. Diese Lösung muss jedoch zwangsläufig mit der Kritik an den ökonomischen Verhältnissen, die das Internet prägen, beginnen.
Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Lobo, Sascha: Die digitale Kränkung des Menschen. Abschied von der Utopie, online einsehbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/abschied-von-der-utopie-die-digitale-kraenkung-des-menschen-12747258.html?printPagedArticle=true [eingesehen am 13. Januar 2014].
[2] Lobo, Sascha: Die digitale Kränkung des Menschen. Abschied von der Utopie, online einsehbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/abschied-von-der-utopie-die-digitale-kraenkung-des-menschen-12747258.html?printPagedArticle=true [eingesehen am 13. Januar 2014].
[3] Vgl. Castells, Manuel: Die Internet-Galaxie. Internet, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 73.
[4] Coleman, Gabriella: Anonymous in Context: The Politics and Power behind the Mask, Waterloo (Ontario) 2013, S. 14, online einsehbar unter http://www.cigionline.org/sites/default/files/no3_8.pdf [eingesehen am 5. November 2013].
[5] Becker, Sven, Beste, Ralf, Hornig, Frank, u.a.: Politik aus Notwehr, in: Der Spiegel, online, einsehbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-84519345.html [eingesehen am 23. Januar 2014].