Die politische Landschaft wird durchgerüttelt. Die Parteienlandschaft sortiert sich neu, heißt es auch in pauschigen Kommentaren der Edelfedern der Hamburger ZEIT. In der politischen Auseinandersetzung und Mehrheitsbildung scheint man in der Tat auf feste Strukturen, stabile Loyalitäten, treue Wähler, kalkulierbare Lager, bewährte Koalitionsmuster jedenfalls nicht mehr bauen zu dürfen.
150 Jahre lang war es anders in Deutschland. Während eineinhalb Jahrhunderten existierten in Politik und Gesellschaft scharf konturierte Lager, durchdrungen von Weltanschauungen, religiösen Bekenntnissen oder von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. Im Grunde war der zähe Bestand versäulter Strukturen höchst erstaunlich. Denn in den 150 Jahren hatte das Land grundlegende Transformationen erlebt: Mehrere politische Systemwechsel, erhebliche demographische Verschiebungen durch freiwillige Wanderungsbewegungen und brutale Vertreibungen, ökonomische Depressionen und Inflationen mit enormen sozialen Verwerfungen für ganze Bevölkerungsteile.
Am Anfang des Zeitraums standen dominant noch die agrarischen Tätigkeiten, gegenwärtig redet jedermann von der Digitalgesellschaft. Und die klassischen Parteifamilien, die sich zu Beginn des Zeitraums des modernen Deutschlands um die Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten – Liberale, Katholische/Konservative, Sozialisten, Rechtspopulisten/-extremisten – überdauerten alle Einschnitte und Einbrüche, selbst Diktaturen. Neu hinzu kamen, neben erratischen und kurzlebigen Interessenkleinparteien der Altmittelständigkeit, lediglich die Grünen, die allerdings von einigen Interpreten als späte Sprösslinge des klassischen Freisinns aus der liberalen Parteienverwandtschaft angesehen werden.
Doch scheinen wir nun, zu Beginn des dritten Jahrtausends, an das Ende dieser Geschichte gekommen zu sein. Die tragenden Klassen der vergangenen 150 Jahre – Aristokraten, Bauern, Bürger, Arbeiter – sind massiv geschrumpft, haben an ökonomischer oder kultureller Bedeutung fundamental eingebüßt, stehen vor dem Abgang von der Bühne. Die Arbeiterklasse, über hundert Jahre Gegenstand von großen Ängsten hier und Projektionsfläche ebenso maßloser Hoffnungen dort, befindet sich, was ihr soziales, ökonomisches und politisches Gewicht angeht, im historischen Sinkflug. Mit ihr verbindet sich nicht mehr Stolz oder Bedrohung, weder Selbstbewusstsein noch Veränderungsenergie, keine Moderne oder Progressivität, nicht mehr das historische Subjekt des Neuen. Eben das war und ist primäre Ursache der traurigen sozialdemokratischen Verzwergung in Europa.
Und das Bürgertum? Zumindest der Typus des „Gebildeten“ oder des „ehrbaren Kaufmanns“, der gerade in Deutschland anfangs so charakteristisch war für liberale und konservative Parteien, ist als kulturell homogene Formation spätestens in Folge der Bildungsexpansion und Managerisierung der sechziger Jahre in der Masse neumittiger Geschichts- und Ortlosigkeit ebenfalls zerbröselt. Das alles hat sich auch auf die Parteien ausgewirkt. Was aber erwartet uns dann, bei Parteien ohne politisch und sozialmoralisch durchwirkte Lebenswelten? Bringt es sie endlich auf die Höhe der Zeit, wie man im Gefolge der postmodernen Soziologien aus München oder Bamberg in den letzten drei Jahrzehnten hoffnungsfroh vermutete? Oder befinden wir uns vielmehr im Abschied von Parteien und Parlamentarismus als Fossile einer untergehenden, durch allerlei kollektive Verbindlichkeiten imprägnierten Industriegesellschaft?
Im Grunde hatte sich der Parteienwettbewerb mit Beginn des 21. Jahrhunderts – bemerkenswerterweise in der Regierungszeit von Rot-Grün, während der damaligen Einheitsfront der als alternativlos reklamierten „Sozialreform“ aus SPD, CDU/CSU, Grünen und Freidemokraten – zeitweise substantiell entpolitisiert. Zwar rangelten weiterhin Cliquen und Clans in abgeschotteten Subsystemen miteinander, aber kaum noch Repräsentanten und Akteure sozialer Lebenswelten mit elementaren Entwürfen für eine (grund)verschieden interpretierte und gewünschte Zukunft. Für Parteien dieses Typs wurde schon vor 50 Jahren der Begriff der „catch all party“ kreiert. Doch kam der früh prognostizierte Trend zu einer solchen Partei zwischenzeitlich überraschend zum Erliegen, was ein Hinweis darauf sein mag, dass mit Gegenbewegungen auch zukünftig zu rechnen ist, dergleichen sich ja auch in allerlei Hinsicht bereits erkennbar anzudeuten scheint.
Jedenfalls kehrte während der siebziger und achtziger Jahre ein Stück politischer Bissigkeit und Dissensfreude in die politischen Formationen zurück, auch der selbstbewusste Anspruch der Parteimitglieder auf Debatte und Kontroverse. Allerdings hatte in den Jahren um die Wende zum 21. Jahrhundert die Entwicklung zur weltanschaulich weitgehend indifferenten Partei bei den beiden früheren Volksparteien, in gewisser Hinsicht auch bei den Grünen, abermals rasant an Tempo gewonnen. Der kluge Heidelberger Politikwissenschaftler Manfred G. Schmidt hat ihren Charakter einleuchtend zusammengefasst: Parteien dieses weit geöffneten Typs bieten keinen Schutz für gesellschaftliche Positionen, sie fungieren nicht mehr als Anlegeplatz für eine intellektuelle Ambition; ihnen fehlt ein Bild von der Zukunft.
So bluteten die Parteien, vor allem die Christliche Union und die Sozialdemokratie, allmählich normativ aus – und gefährdeten dadurch ihren eigenen Bestand. Gewiss, in einigen Situationen des 19. und 20. Jahrhunderts waren die Parteien mitunter extrem doktrinär, dadurch häufig starr und blockiert. Solche Dispositionen finden sich in den intervallhaften innerparteilichen Emeuten etwa der Sozialdemokratie auf rhetorischer Ebene weiterhin regelmäßig wieder, was ihre fortwährende politische Sterilität begründet. Während der ersten 17 Jahre des 21. Jahrhunderts aber drohte die Gefahr von der anderen Seite: Den Parteimitgliedern mangelt es durch die geistige Entleerung ihrer Organisationen an ideellen Motivationen für ehrenamtliche Aktivitäten; den Parteianführern fehlen die Maßstäbe und normativ fundierten Kriterien für ihr politisches Handeln.
Der Abschied von Kernüberzeugungen hatte die Parteien dabei keineswegs freier gemacht. Er hat ihnen eher die Orientierungssicherheit genommen, hat Loyalitäten geschmälert, hat ihre Stabilität beeinträchtigt. Die überzeugungs- und charakterarmen Parteien sind abhängiger von Stimmungen und externem Druck geworden: Von den Einflüsterungen und Kurzatmigkeiten der Demoskopen, von den Konjunkturen der politischen Leitartikel, von den Aufgeregtheiten in den Kurzkommentaren aus der Twitter-Welt, von den chronischen Dienstleistungserwartungen eines ungeduldigen Kundenelektorats.
Das alles war auch Folge des massiven – nicht zuletzt von empiristisch werkelnden Politologen empfohlenen – Zugs zur „Mitte“. Strategisch wirkte die Ansiedlung in der Mitte von Politik und Gesellschaft natürlich nicht unplausibel. Parteien im Zentrum des parlamentarischen Systems können sich die Möglichkeiten politischer Allianzbildung nach rechts wie links, nach oben wie unten, nach vorne wie hinten besser sichern als Formationen auf den Flanken des politischen Spielfelds.
Doch dürfen solche Partei dann ein zu scharfes Profil nicht mehr ausweisen. Sie müssen in ihren Positionen vage bleiben, haben sich inhaltlich wolkig und unbestimmt leutselig zu äußern. Denn sie sollen schließlich niemanden in der Bevölkerung und Parteienlandschaft vor den Kopf stoßen, haben möglichst viele Wähler zu halten und Koalitionspotentiale zu mehren. Solche Parteien aber entleeren sich in ihren Vorräten an Sinn, Werten, Überzeugungen, mutieren eben zu Allerweltsorganisationen.
Ihre Mitglieder machte das zunehmend rat- und sprachlos. Sie erschienen dann in ihren Kontakt- und Verkehrskreisen nicht mehr wie ihrer Sache sichere Aktivisten, sondern wirkten im Gegenteil verwirrt, gelähmt und richtungslos, mitunter verstummt. Die Parteioberen steuerten die Mitte an, währenddessen das Parteifußvolk am Rande mürrisch harrte, zunehmend, aber auch – wie derzeit nicht mehr zu übersehen – zornig aufbegehrt.
Und weiter: Jeder erfolgreiche Schritt der Politik in voraussetzungslose, begründungsindifferente Dehnung – was in der Regel heißt: Abkehr von einem genuinen politischen Charakter und Ort, Öffnung für Identitäten und Interessen aller Art, schließlich der Optionsimperativ in der Koalitionspolitik – bedeutet den Verzicht darauf, Gesellschaft noch zu prägen. Denn eine solche depolitisierende Methode kern- und programmloser Öffnung schleift die autonomen Maßstäbe und unzweideutigen Wertvorstellungen, die für politische Führung und Erklärungskraft indes unverzichtbar sind.
So sind Allerweltsparteien stets Agenten der obwaltenden Verhältnisse und der auch ohne ihr Zutun laufenden Entwicklungsprozesse, nicht zuletzt: der vorherrschenden Deutungen davon. Und so erscheinen ihnen gegenüber nunmehr solche Parteien ungleich dynamischer und forscher, die ihre Anhänger mit eindeutigen und provokativen Parolen in Stimmung bringen, die den eigensinnigen und kurz entschlossen Zerhau des gordischen Knotens zum Programm machen. Kurzum: Die ermüdete und ermattete Allerweltspartei und der neue, selbstbewusst agierende Populismus bedingen einander.
Im Zuge dieser Dialektik bewegen sich gerade Allerweltsparteien vom begehrten Status der Groß- und Volkspartei sukzessive fort. Denn sie verlieren an innerer Kraft, die aber nötig ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Mitglieder zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren und konfliktreich zu sozialisieren.
Entkräftete und ausgelaugte Allerweltsparteien sind am Ende dieses ganzen Auszehrungsprozesses „politische Mitte“ eigentlich nur durch selbst reklamierte semantische Ansprüche, nicht durch wirkliche Erdung und Repräsentanz in den konstitutiven Lebensbereichen der Gesellschaft. Infolgedessen reagiert die Gesellschaft teils höhnisch, teils einfach nur gleichgültig auf die mäandernden, politisch entleerten Allerweltsparteien, ärgert sich zunehmend über die immensen Kosten, die dafür gleichwohl aufzuwenden sind, empört sich zuweilen über Verfilzung, Kartellisierung, den Klüngel.
Jedenfalls: Politische Orientierungen und konzeptionellen Weitblick traut ein wachsender Teil der Nation den Allerweltsformationen nicht mehr zu. Und daher gärt es in der Tat in der Gesellschaft. Sogar beträchtlich. Aber in welche Richtung führt die Unruhe? Das bleibt ganz diffus – auch dies eine Folge der politischen Entleerung durch die in den letzten beiden Jahrzehnten gerade auch von den Medien gepriesenen Allerweltspragmatiker.
Franz Walter ist der Gründer und ehemalige Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.