Christdemokratie ohne Lebensinhalt?

[analysiert]: Franz Walter analysiert die Krise der Christdemokraten.

Die Freien Demokraten haben bekanntlich seit Anfang 2010 einen tiefen Absturz erlebt. Und die Sozialdemokraten fassen ebenfalls seit der Sarazzin-Debatte nicht mehr recht Fuß. Das hätte eigentlich die Werte der Kanzlerinpartei weit nach oben treiben müssen. Doch das ist nicht der Fall. Sie tritt trotz günstiger Konstellationen in Wirtschaft und Gesellschaft (bestenfalls) auf der Stelle.

Dabei reicht die Malaise des altbürgerlichen Lagers weiter zurück, war  – sah man genauer hin – bereits in den Tagen ihres scheinbar großen Triumphes gut erkennbar. Schon im Sommer 2009 hatten die Sozialforscher zwar eine parlamentarische Majorität für Union und Freidemokraten in Umfragen erheben können; zugleich aber ergaben die Zahlen, dass nur etwa ein Viertel der Wähler eine schwarz-gelbe Koalition wünschte. Gut drei Wochen vor den Bundestagswahlen kam in weiteren neuen Studien verblüffend deutlich zum Vorschein, dass nur kleine Minderheiten der Union zutrauten, die Arbeitslosenzahlen abzubauen, die Steuer- und Abgabenlasten zu mindern, den Haushalt zu konsolidieren.

Am Ende, am Sonntag der Bundestagswahlen, verbuchten die Parteien des alten bürgerlichen Lagers und der neuen Bundesregierung gut 300.000 Wähler weniger als 2005, als es für eine solches Kabinett noch nicht gereicht hatte. Nahm man alle Wahlberechtigten, so kamen CDU/CSU und FDP gerade auf ein Drittel Zustimmung für ihr Regierungsprojekt. Noch keine andere Regierung in der bundesdeutschen Geschichte war mit einer solch geringen Unterstützung in das Amt gelangt. 1961, als die letzte Runde der Adenauerära einsetzte, und 1983, als die lange Ära Kohl begann, erteilten immerhin nahezu 50 Prozent aller Wahlberechtigten dem bürgerlichen Lager ihre Legitimation.

Am stärksten hätte dadurch das Selbstbewusstsein der CDU/CSU getroffen sein müssen. Denn die Politiker der Christlichen Union hatten über Jahrzehnte ihr In-sich-selbst-Ruhen daraus gezogen, dass sie sich ganz selbstverständlich als Teil und Ausdruck von Mitte und Mehrheit der bundesdeutschen Gesellschaft fühlen durften. So hatten sie es von den 1950er Jahren bis weit in die Regierungszeit von Helmut Kohl im Alltag oft genug erfahren. Die Intellektuellen mochten maliziös lästern und sich über intellektuelle Unzulänglichkeiten der biederen CDU-Anführer kritisch auslassen – das Volk in seiner Majorität schätzte dennoch Rhetorik und Auftritt der Adenauers, Erhards und Kohls; nicht zuletzt gerade wegen ihrer Kleinbürgerlichkeit, wegen ihres Patriarchalismus, wegen ihrer Bindung an Provinz und Brauchtum. Die CDU war die Partei der Mitte, die Partei der Republik, die natürliche Regierungspartei schlechthin.

Allmählich aber ist schwer zu ignorieren, dass die Gleichung von Mitte = CDU nicht mehr aufgeht. Und mit den Händen zu greifen ist seit einigen Jahren die Verunsicherung, die sich darüber bei den Traditionalisten der Christdemokratie breit macht. Es ist nicht mehr ihre Welt. Früher, von Adenauer bis Kohl, war Wahlkampf für sie eine klare, im Grunde einfache Aufgabe: Man hatte den roten Gegner mit schwerem Säbel zuzusetzen und das Bürgertum durch apokalyptische Andeutungen über drohende Gefahren des Chaos und Eigentumsverlusts in Schrecken zu setzten. Dann konnte man verlässlich kalkulieren, das Wahlvolk von Mitte bis rechts hinter sich zu sammeln – und den „Sozen“ am Wahlsonntag eine deftige Niederlage beizubringen. Umso größer fiel der Schock aus, als ausgerechnet der Matador dieser polarisierenden Angriffstechnik im Wahlkampf, Roland Koch, eben damit 2008 seinen Abstieg einleitete, der 2010 in seinen kompletten Ausstieg aus der Politik mündete. Koch hatte 12 Prozentpunkte verloren und das vor allem in der bürgerlichen Mitte. Die Mitte hatte sich offenkundig gewandelt.

Dies gilt insbesondere für einen gewichtigen Teil der Mitte im bürgerlichen Nachwuchs. Die Lebensweltforscher haben für diesen Ausschnitt der Bevölkerung – jung, akademisch, beruflich mobil, urban, in kreativen Jobs tätig: also rundum modern – den Begriff der „kritischen Bildungselite“ kreiert. Ihre Zugehörigen prägen Trends und Themen der Zeit, verfügen zudem über das höchste Haushaltseinkommen innerhalb der deutschen Bevölkerung. Und: In keiner anderen Gruppe sind die klassischen Parteien des klassischen Bürgertums derart abgemeldet wie hier. Zum politischen Repräsentanten dieser nachgewachsenen „Bildungselite“ sind demgegenüber 2010 die Grünen avanciert.

Nicht ganz so trostlos sieht es im gewerblichen Teil des Bürgertums aus. Doch fiel das Ausmaß an Enttäuschung und Empörung über die Politik von Union und FDP dort in den letzten 15 Monaten besonders stark aus. Das junge Wirtschaftsbürgertum löste sich seit Jahren schon sukzessive aus der politischen Sphäre insgesamt, tolerierte die Zeitstrukturen und Aushandlungsprozesse dort nicht mehr, verachtete den schwerfälligen politischen Betrieb. Wirtschaftsbürger hier und bürgerliche Politiker dort bewegen sich mittlerweile in unterschiedlichen Sphären. Über Jahrzehnte waren die Berührungen im Alltag vielfältig. Man begegnete sich in den gleichen Vereinen, teilte gemeinsame Geselligkeiten, verschränkte sich zwecks Optimierung der eigenen Karriereaussichten miteinander. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft lohnen, in der CDU/CSU zumindest maßvoll aktiv zu sein.

Das ist Vergangenheit. Die ökonomischen Globalisierungseliten besitzen weder Zeit für Politik, noch brauchen sie Parteien als Katapult für berufliche Möglichkeiten, als Fundament der Interessendurchsetzung. Dadurch hat aber auch die Politik der bürgerlichen Parteien an Flechtwerken und Erfahrungsorten in Gesellschaft und Wirtschaft verloren. Bürgerliche Politiker bekommen so ihre zunehmende Einsamkeit zu spüren, ihre Beschränkung allein auf Ministerbüros und Abgeordnetenzimmer. Politische Macht ist infolgedessen fragil. Verliert man sie, verliert man alles. Das macht verletzbar, vorsichtig, ängstlich, in Zeiten des Machtverschleiß durch Schwäche aggressiv.

Denn nicht einmal die scheinbar ewigen Stützpfeiler tragen und stabilisieren noch. Einst bildeten die Gläubigen die große Reservearmee der Christlichen Partei. Episkopat und Ortspfarrer leisteten Mobilisierungshilfe bei Wahlen. Und das christliche Bekenntnis schlug den Integrationsbogen zum Zusammenhalt der Volkspartei. Zuletzt indessen hatten die Kirchen, die katholische vorneweg, ihre eigenen Probleme, hatten daher weder Zeit noch Sinn und Fußtruppen, um der Christdemokratischen Partei protegierend beizustehen. Zwischen 1990 und 2011 haben rund 6,5 Millionen katholischer und evangelischer Christen ihre Kirchenmitgliedschaft aufgegeben. In zusätzliche Bedrängnis geriet der Katholizismus, als die Missbrauchsfälle gegenüber Kindern in seinem Bereich ruchbar wurden. Die katholische Kirche ist zutiefst verunsichert, angenagt von Zweifeln, wie viel Zukunft sie selbst noch besitzen mag.

Die verbliebenen Reste des Kernkatholizismus erkennen in ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Randstellung auch in der CDU keinen sicheren Adressaten zum Schutz ihrer Position mehr. Die Partei erscheint ihnen säkularisiert, der Moderne verfallen. Wo noch Vertreter des Christentums in Spitzenposten erkennbar sind, da handelt es sich überwiegend um Protestanten – in einer Dominanz, die es in all den Jahrzehnten seit Gründung der Partei zuvor niemals gab: die Bundeskanzlerin, der Innenminister, die Ministerin für Arbeit und Soziales, der Finanzminister, der Fraktionsvorsitzende, der Kanzleramtschef – allesamt: Protestanten. Gläubige Katholiken, die Sonntag für Sonntag den Gottesdienst besuchen, fremdeln deshalb mit ihrer Partei, gehen in die innere Emigration.

Aber sie wählen gleichwohl nicht die Sozialdemokraten, nicht die Liberalen, auch nicht die Grünen und erst recht nicht die Linken. Überwiegend wählen sie ohne große innere Begeisterung dann doch ihre angestammt Christdemokratische Partei. In den verbliebenen Hochburgen des ländlichen Katholizismus kommen Christdemokraten weiterhin auf Spitzenwerte von rund 50 Prozent. und mehr. Aber die Zugehörigen dieser „traditionsverwurzelten Lebenswelten“ stehen ganz überwiegend in einem Alter, in dem man das Rentner- bzw. Pensionärsdasein erreicht hat. Sie werden bald nicht mehr da sein.

Gut 30 Jahre lang hatten die konservativen Katholiken und die Christdemokratische Partei gegen den gleichen Gegner gekämpft: die 68er und ihr permissives Verhältnis zu Moral und Sitte, zu Institutionen und Verpflichtungen, zu Gott und Kirche. Ganz anders hingegen die mit rund 30 Jahren Verspätung neu-emanzipierten CDU-Politiker: Sie streiften jäh die Verpflichtungen ab, die ihnen zuvor nachgerade heilig zu sein schienen, die sie wieder und wieder gegen den vermeintlichen Werteverfall der 68er ins Feld geführt hatten. Nun, im Jahr 2010 indes, waren es bürgerliche Politiker, Männer der CDU, die ihre Mandate hinwarfen, als wären es belanglose Karnevalsorden oder beliebige Sportabzeichen.

Braun gebrannt und gut erholte vom Urlaub auf Sylt erklärte der Erste Bürgermeister von Hamburg, dass er nicht mehr ausüben wolle, wozu er zwei Jahre zuvor noch angetreten und von den Wählern beauftragt worden war. Der Anführer des christdemokratischen Konservatismus, jener selbsterklärten Prätorianergarde von Disziplin, Anstand und treuer Pflichterfüllung, der Ministerpräsident aus Hessen also, entdeckte im zweiten Jahr seiner Legislaturperiode, dass auch andere Lebenspläne attraktiv sein könnten; und er wollte einen Neustart außerhalb der Politik versuchen. Auch der Bundespräsident mochte nicht mehr im Amt, das ihm ein Jahr zuvor ein zweites Mal anvertraut wurde, ausharren. Für Christdemokraten alten Schlages musste das Kapitulation und Verrat bedeuten.

Konrad Adenauer pflegte in seiner Zeit als Bundeskanzler und Parteichef stets zu mahnen: „Eine Partei muss einen Lebensinhalt haben“. Ganz einfach fällt es Christdemokraten heute nicht mehr, den unverwechselbaren Lebensinhalt ihrer Partei noch unmissverständlich deutlich zu machen.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.