[kommentiert]: Matthias Micus über den SPD-Kandidaten Stephan Weil
Was ist das für ein Mann, der sich den niedersächsischen Wählern im Wahlkampf mit dem Versprechen anpreist, eine „knochentrockene Haushaltspolitik“ betreiben zu wollen? Wie konnte jemand sozialdemokratischer Spitzenkandidat für die Landtagswahl werden, über den die Welt kürzlich schrieb, er sei „das Gegenteil einer Rampensau“ – und das in eben jenem Bundesland, das von 1986 bis 1998 die Arena des politischen Schlachtenrosses Gerhard Schröder gewesen ist? Und welche Chancen auf das Amt des Ministerpräsidenten, mithin des obersten Repräsentanten des Bundeslandes, kann jemand haben, der nach eigenem Bekenntnis ein „einfacher, Bier trinkender Bürgermeister“ ist und vorgibt, „in hohem Maße dem Normalbürger“ zu entsprechen?
Stephan Weil, der Anwärter der SPD auf das Amt des Ministerpräsidenten, ist seit sechs Jahren Oberbürgermeister von Hannover und amtierte zuvor ein knappes Jahrzehnt als Stadtkämmerer der Leinestadt. Geboren in Hamburg, aber bereits mit sechs Jahren in die Landeshauptstadt von Niedersachsen umgezogen, wuchs er in einem bürgerlichen Umfeld auf, beide Eltern Akademiker, der Vater Ingenieur. Nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums und dem Jurastudium arbeitete Weil in rascher Folge zunächst als Rechtsanwalt, Staatsanwalt und Richter, eher er seit 1994 im Schnittfeld von Politik und Administration tätig war.
Im Wahlkampf scheinen sich zunächst die eingangs geäußerten, mit der Person Stephan Weil verbundenen Zweifel zu erhärten. Seine Versuche, im Straßenwahlkampf Kontakt mit den Bürgern aufzunehmen, wirken unbeholfen und verkrampft. Kein Zufall daher, dass der Spitzenkandidat der SPD unmittelbar vor der Landtagswahl letzten Umfragen zufolge nur 67% der Befragten ein Begriff ist, wohingegen seinen christdemokratischen Kontrahenten, David McAllister, jeder kennt. Im Wahlkampf wirkt Weil solide, seriös, letztlich tatsächlich wie ein Normalbürger, also durchschnittlich, jedenfalls keineswegs außergewöhnlich.
Langeweile strahlt der Wahlkampf auch deshalb aus, da sich der Ministerpräsident und sein sozialdemokratischer Herausforderer politisch durchaus schätzen und auch in den Wahlprogrammen von CDU und SPD grundsätzliche inhaltliche Differenzen kaum zu finden sind. Beide Seiten betonen die Bedeutung des demographischen Wandels und der Energiewende. Gleichfalls überwiegen bei den Themen Schulpolitik, Kreisreform und Schuldenbremse die Gemeinsamkeiten.
Nun ist eines der wesentlichen Funktionserfordernisse demokratischer Systeme das Vertrauen, das die Bevölkerung den Institutionen und ihren politischen Repräsentanten entgegenbringt. Vertrauen aber setzt Glaubwürdigkeit voraus, es gründet zumindest auf dem Eindruck von Ehrlichkeit und Authentizität. Authentisch aber könnte Weil nicht sein, würde er als politischer Haudrauf, Polarisierer oder Bierzeltagitator inszeniert werden. Nahezu alles in seinem Werdegang spricht dagegen.
So weist Weils politische Karriere einerseits Elemente einer langjährigen kontinuierlichen Parteikarriere auf. Seit über 30 Jahren SPD-Mitglied, war er zunächst Vorsitzender der Hannoveraner Jusos und führte später den Stadtverband der SPD. Andererseits entspricht sein Werdegang in manchem dem Typus des politischen Büroleiters. Gleichermaßen langjährig jedenfalls ist Weils Verwaltungskarriere, die noch zu Zeiten Gerhard Schröders im Rang eines Ministerialrates begann und ihre Fortsetzung in der bereits erwähnten Tätigkeit als Stadtkämmerer Hannovers fand.
Und schließlich weist sein Aufstieg Merkmale eines Karrierepolitikers auf. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Unsicherheit im Berufsfeld Politik so weitgehend wie möglich zu reduzieren versuchen, weshalb sie akribisch ihre Karriere planen und für die politische Tätigkeit besonders viel Zeit aufwenden, in der Regel aufgrund einer auffälligen Ämterhäufung. Eine solche extensive Kumulation verschiedener Funktionen charakterisiert nun auch Stephan Weil, der zuletzt nicht nur Oberbürgermeister von Hannover, sondern auch Präsident der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunalpolitik, Präsidiumsmitglied des Deutschen Städtetages und Präsident des Verbandes kommunaler Unternehmen war.
Freilich: Weder die Karriereaspekte der Ochsentour noch die des Büroleiters oder Karrierepolitikers begründen einen Hang zum Schillernden, Überraschenden, Unkonventionellen, gar Charismatischen. Die Lehren, die sie bereithalten, weisen vielmehr sämtlich in die Richtung des anpassungsfähigen, dem Pragmatismus verpflichteten, sich seiner praktischen Verantwortung für das Gemeinwohl bewussten Verwalters des Politischen.
Doch ist Weil damit für die niedersächsische SPD keineswegs eine Verlegenheitslösung, eher im Gegenteil. Mit seiner kommunalpolitisch grundierten Sachbezogenheit passt er nicht nur nach Hannover, sondern auch in das Land Niedersachsen, dessen Kollektivmentalität gerne mit den Attributen nüchtern und bodenständig versehen wird. Erst recht ist Weil der geeignete Vorsitzende und Spitzenkandidat einer Landespartei, die in Niedersachsen weitgehend bloß als potemkinsche Fassade existiert. Mit ihren wenigen Planstellen ist sie den vier niedersächsischen Parteibezirken jedenfalls chronisch unterlegen.
Im Zuge seiner Nominierung wurde über Stephan Weil wiederholt gesagt, er sei der bürgerlichere, mittigere und also eher der SPD-Rechten zugehörige Kandidat – Bewertungen, bei denen immer etwas Abwertendes mitschwang. Doch dürfte hierin für die niedersächsische SPD letztlich eher ein Vorzug denn ein Nachteil liegen. Arbeiterpartei nämlich ist die SPD auch zwischen Ems und Elbe, Cuxhaven und Göttingen längst nicht mehr. Im Übrigen: Selbst der traditionssozialdemokratische Parteilinke Wolfgang Jüttner konnte als Spitzenkandidat der SPD bei der Landtagswahl 2008 nicht verhindern, dass bei einem Gesamtverlust von rund drei Prozentpunkten die Sozialdemokraten deutlich überproportional bei den einfachen Arbeitern (-8,3 Prozentpunkte), bei den berufstätigen Arbeitern (-8,9 Prozentpunkte) sowie selbst bei jenen Arbeitern verloren, die Mitglied einer Gewerkschaft sind (-8,8 Prozentpunkte). Gegen den Trend gewannen sie dagegen bei den Beamten 5,4 Prozentpunkte hinzu, ein Wert, der die Verbürgerlichung der SPD-Wählerschaft sinnfällig spiegelt.
Wenn der Hannoveraner Oberbürgermeister schließlich als unsexy, dafür aber nachhaltig gilt, korrespondiert diese Wirkung mit einer sozialstrukturellen Entwicklung, die vor allem das großflächige und überwiegend ländliche Niedersachsen zukünftig vor große Herausforderungen stellen wird, welche als Problem von den Landesparteien auch erkannt worden sind und als „demographischer Wandel“ ein Schwerpunktthema des Wahlkampfes gebildet haben. Bis 2030, so sagen es die Prognosen, sinkt der Anteil Jugendlicher an der niedersächsischen Gesamtbevölkerung von jetzt 19,8% auf dann 16,7%, der Anteil der Über-65-Jährigen steigt in demselben Zeitraum gar von 20,8% auf 29%. Der politische Stil der alternden Gesellschaft aber ist das gedämpft vorgetragene Veto eher denn der herrische Appell. In solchen Gemeinwesen richtet sich das Augenmerk der Mehrheit weniger auf die ferne Zukunft, deren Bilder von Visionen und Utopien gezeichnet werden, sondern auf die Gegenwart und einen funktional organisierten Alltag.
Der Historiker und Adenauer-Biograph Hans-Peter Schwarz hat einmal am Beispiel des ersten deutschen Bundeskanzlers den Prototypen des selbstbewussten Stadtbürgers beschrieben – und damit auch Stephan Weil treffend charakterisiert. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass er „Konkretist und Pragmatiker“ sei. Kundig in den administrativen Details, sei er ein tatkräftiger Praktiker, immun gegen visionäre Phantastereien und träumerische Schwärmereien. Er liebe Ordnung und Disziplin, alles potentiell Chaotisierende oder Systemumstürzende lehne er ab. Unambitioniert aber sei er keineswegs, vielmehr verbände sich in ihm eine realistische Vorsicht mit Wagemut und unbürokratischem Gestaltungswillen. Zupackend und flexibel, dynamisch und gleichzeitig listig, richte er seine Politik zwar nicht an den gegebenen Mehrheiten aus, er versuche sie aber auch nicht selbst herzustellen, sondern organisiere sich trickreich temporäre und nach Bedarf wechselnde Mehrheiten.
Und wurde nicht schon vor einigen Jahren die These von der „Bonapartisierung der Politik“, wie sie insbesondere um die Jahrtausendwende kursierte, zurückgewiesen? Angelehnt an ausgemachte Medienpolitiker sollte künftig das sogenannte telepolitische Charisma als Basisvoraussetzung politischer Führung bedeutsamer werden. Aber: Betrachtet man die Parteivorsitzenden, die Merkels, Röslers, Roths und Riexingers, dann kann von einem systematischen Aufstieg des mediencharismatischen oder bonapartistischen Typs keine Rede sein
Stephan Weil, heißt das, der Olaf Scholz Niedersachsens, dieses Gegenmodell zu den Alt-68ern in den Parteien, entspricht mit seiner trockenen Sachlichkeit dem Geist der Zeit. Sicher, der SPD-Spitzenkandidat versteht sich nicht auf den schönen Schein, er ist kein Menschenfänger und seine Auftritte wirken nicht so abgebrüht wie bei den meisten Politikern. Andererseits: „Wer will schon noch die alte Schröder-Show, wenn er gut gemachtes Handwerk haben kann?“[1]
Dr. Matthias Micus ist akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Beiträge zur Niedersachsenwahl finden sich hier.
[1] Lehmann, Armin: Aus der Deckung, in: Der Tagesspiegel, 05.01.2013.