[präsentiert]: Lea Heyne berichtet über den Protest gegen „Stuttgart 21“ und analysiert, was die Protestierenden zusammen hält.
Stuttgart, Bahnhofsvorplatz, 23. Oktober 2010: Großdemonstration der Gegner des Bahnprojektes „Stuttgart 21“. Familien, Schüler, Rentner, Umweltaktivisten und arrivierte Mittelstandspärchen schwenken Transparente und skandieren voller Inbrunst: „Mappus weg!“ Menschen, die man eher in Architektenbüros, Anwaltskanzleien oder auf Tennisplätzen als auf der Straße vermutet hätte, heften sich Protest-Buttons ans Revers und demonstrieren mit selbstgemalten Plakaten gemeinsam ihren Unmut. Die Veranstalter sprechen von bis zu 50.000 Teilnehmern – nichts Neues in der schwäbischen Metropole, die 2010 unangefochten Deutschlands Demo-Hauptstadt Nummer 1 sein dürfte. Unter der Parole „Oben bleiben!“ protestieren entrüstete Stuttgarter seit Wochen gegen das Prestige-Projekt der Deutschen Bahn und der baden-württembergischen Landesregierung. Wird im sonst eher ruhigen Ländle eine neue bürgerliche Revolution vorbereitet? Und: Was was hält die Demonstrierenden überhaupt zusammen?
Während die Stuttgarter Bürger sich unermüdlich an zu fällende Bäume ketten, zum Abriss freigegebene Bahnhofsgebäude besetzen und sich von Wasserwerfern zusammentreiben lassen, spekulieren deutsche Medien allenthalben über die Herkunft dieses plötzlichen Aufstands der Mittelschichten. Eine „neue Qualität des Protests“ wird konstatiert, eine wachsende Frustration und Politikverdrossenheit in allen sozialen Schichten und ein zunehmender Wunsch nach direkter Demokratie und Teilhabe. Und tatsächlich ist die schwäbische Protestbewegung ein eher ungewöhnlicher Fall in der Geschichte der deutschen sozialen Bewegungen. Kommt sie doch, so scheint es zumindest, aus der Mitte der Gesellschaft und nicht (nur) aus den üblichen linken oder postmaterialistischen Kreisen. Sie verfügt zwar über eine netzförmige Organisationsform, über eine dauerhafte, öffentliche und kollektive Protestkultur, doch die gemeinsame Identität und Wertebasis der Mitglieder über Einzelfragen hinaus, ein weiteres Definitionsmerkmal sozialer Bewegungen, kommt ihr größtenteils abhanden.
Ein möglicher Erklärungsansatz für ihren Erfolg trotz heterogener Mitgliederstruktur wäre die Framing-Theorie, die auf den amerikanischen Soziologen David A. Snow zurückgeht. Mit „Framing“ ist die Entwicklung und Propagierung eines Deutungs- und Erklärungsmusters gemeint, in dessen Rahmen eine Protestkampagne den Konflikt, ihre Ziele und ihr Vorgehen in einer bestimmten Weise definiert, interpretiert und rechtfertigt. Zentrale These ist, dass die Mobilisierungsfähigkeit einer sozialen Bewegung entscheidend von der Qualität ihres Framings abhängt. Im Klartext: Ein Problem wird erst dann zum Problem, wenn es jemand als solches definiert. Und ob diese Definition überzeugt, hängt neben der inhaltlichen Konsistenz im Wesentlichen von der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit und der Medientauglichkeit eines solchen Deutungsrahmens ab.
Beispiel „Stuttgart 21“: Der Protest richtet sich gegen die Verschwendung von Steuergeldern, die Missachtung des Bürgerwillens, gegen empfundenen Klüngel zwischen Vertretern von Wirtschaft und Politik, gegen die Zerstörung von Grünflächen und denkmalgeschützten Gebäuden. All das sind Themen, mit denen sich breite Teile der Bevölkerung solidarisieren können. Darüber hinaus ist das Projekt regional begrenzt, was die Individualisier- und Personalisierbarkeit des Problems und seiner schädlichen Folgen noch steigert. Aus dem Protestpaket „Stuttgart 21“ kann sich jeder herauspicken, was ihm gefällt. Während die einen leere Haushaltskassen und eine Mehrbelastung der Steuerzahler fürchten, hängen andere schlicht an ihren jahrhundertealten Schlossparkbäumen oder haben Angst, dass ihre in Umgebung des Bahnhofs liegenden Häuser durch die Tiefbauarbeiten einstürzen. Und so versammeln sich unter dem Dach der Neubau-Gegner verschiedenste Bevölkerungsschichten, die sonst wenig gemeinsam haben. Geeint werden sie allerdings durch eine tiefgreifende Frustration und Wut über die als arrogant und volksfern empfundene Landesregierung, die aus Sicht vieler Stuttgarter Einzelinteressen über die Belange ihrer Bürger stellt.
Hinzu kommt, dass der Stuttgarter Protest grade wegen seiner bunten Zusammensetzung medial bestens verwertbar ist. Es gibt klare „Schuldige“ (Bahnvorstand Grube, Ministerpräsident Mappus, OB Schuster etc.), eine deutliche Forderung (Baustopp und Neuwahlen) und sogar konstruktive Gegenvorschläge à la „Kopfbahnhof 21“. Die Bilder der beginnenden Abrissarbeiten und des brutalen Polizeieinsatzes am 30. September eignen sich hervorragend zur Inszenierung – diese beiden Ereignisse haben dementsprechend wohl auch die größten Solidarisierungswellen ausgelöst. Die Stuttgarter haben sich so mit ihrer „Oben bleiben!“-Kampagne die mediale Deutungshoheit erkämpft: An der Legitimität ihres Protestes und ihrer Forderungen mag von politischer Seite zwar weiterhin gezweifelt werden, über sie hinwegzusehen allerdings ist unmöglich geworden.
Um zur „Framing“-Theorie zurückzukehren: Es handelt sich hier um ein glaubhaftes Deutungsmuster, das sowohl eine Diagnose des Problems inklusive griffigen Namens und Indentifizierungsschemas („diagnostic framing“) als auch eine Vorstellung, wie und mit welchen konkreten Mitteln das Problem gelöst werden soll („prognostic framing“) enthält und das zudem eine Verbindung zwischen dem Problem und jedem einzelnen schafft („motivational framing“).
Beste Voraussetzungen also, um mehr als nur eine Eintagsfliege der Protestbewegungen zu sein. Ob „Stuttgart 21“ Schule machen wird in Deutschland, bleibt abzuwarten. Doch die schwäbischen Mittelschichts-Protestler haben anscheinend Geschmack bekommen am politischen Straßenkampf – trotz Beschwerden von einigen Demonstrationsteilnehmern, man wisse ja nun zum ersten Mal im Leben überhaupt nicht, wen man wählen solle, jetzt, da die CDU plötzlich nicht mehr die eigenen Interessen vertrete.
Lea Heyne ist studentische Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und nahm an der Großdemonstration in Stuttgart am 23.10.2010 als Beobachterin teil.