Bremen vor dem Erdrutsch

[analysiert]: Oliver D’Antonio ordnet das Bremer Wahlergebnis ein.

Ein Wahlausgang wie der der vom vergangenen Sonntag in Bremen lässt auf den ersten Blick jede nachträgliche Kommentierung überflüssig erscheinen. Im Vergleich zu den spektakulären Wahlabenden, die beispielsweise Hamburg und Baden-Württemberg zu Jahresbeginn erlebten, war der Urnengang in Bremen an Müdigkeit kaum zu übertreffen. Die seit sechseinhalb Jahrzehnten ununterbrochen an der Spitze der Stadt stehende SPD schien auch in diesem Jahr kaum aus dem Regierungsamt gedrängt werden zu können. In sicherer Gewissheit des bevorstehenden Misserfolges präsentierte sich die Opposition, insbesondere die CDU derart mut- und lustlos, dass der härteste Konkurrent der Sozialdemokraten eher der „kleine“ grüne Koalitionspartner zu sein schien.

Der Wahlausgang bestätigte dies. Der Bremer Senat wird künftig von einer großen Koalition aus SPD und Bündnis90/Die Grünen geführt. Doch nicht einmal dies überrascht, denn wer die Prognosen der vergangenen Wochen mit dem amtlichen Endergebnis vergleicht, wird feststellen, wie nah die Voraussagen der Meinungsforschungsinstitute an der Realität lagen, Forsa hatte das Endresultat schon im Februar recht genau getroffen. Der laue Wahlkampf veränderte die Stimmungslage folglich kaum. Der Weser-Kurier betitelte die vergangenen Wochen in diesem Sinne als „Valium-Wahlkampf“.

Allerdings wäre es keineswegs zutreffend, würde man den Bremerinnen und Bremern unterstellen, lediglich den rot-grünen Bundestrend nachzuvollziehen. Als der Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen im Sommer 2007 das Bündnis mit den Grünen schmiedete, war dies ein überaus antizyklischer Vorgang. In keinem anderen Bundesland existierte zu diesem Zeitpunkt mehr eine solche Koalition. Überhaupt arbeitete der Stadtstaat an der Weser seit Jahrzehnten konsequent gegen den koalitionspolitischen Zeitgeist. Bereits Mitte der 1950er Jahre nahm SPD-Bürgermeister Kaisen die Allianz mit der FDP – die bis dahin erste rot-gelbe Koalition auf Landesebene überhaupt – vorweg. Als die sozialliberale Koalition dann zu Beginn der 1970er Jahre zum dominanten Regierungsmodell zwischen Hamburg und Wiesbaden wurde, da zerbrach das seit 1955 bestehende Senatsbündnis zwischen Sozialdemokraten und Liberalen in der Hansestadt. Zu Beginn der 1990er Jahre regierte man als erstes Bundesland mit einer so genannten „Ampel“, ehe Bremen in eine zwölf Jahre währende große Koalition manövriert wurde. Folglich scheint die Trendangleichung zwischen der Hansestadt und anderen Bundesländern noch die spektakulärste Note der Bremen-Wahl 2011 zu sein.

Auf den ersten Blick suggeriert das Bremer Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag das Bild einer Oase der Stabilität von Regierungskonstellation und Parteiensystem in der ansonsten so volatilen Vielparteienrepublik. Doch bei genauem Hinsehen werden kleine, fast unmerkliche Risse in den Wänden des scheinbar so robusten Bremer Parteiengebäudes erkennbar. Es ließe sich ein Vergleich ziehen, der auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag. Die Bremer Wahl von 2011 könnte die letzte ihrer Art sein, ehe das SPD-dominierte Parteiensystem völlig aus den Angeln gehoben wird. Damit stünde diese Wahl unter den gleichen Vorzeichen wie die bayerische Landtagswahl von 2003. Auch wenn sich der riesige Freistaat und die klamme Hansestadt in so wenigen Punkten ähneln, sind gewisse Parallelen zwischen beiden Wahlgängen erkennbar: In Bayern herrschte die Christliche Soziale Union als überragende Hegemonialpartei über Jahrzehnte. Noch 2003 schien die Übermacht der CSU durch einen überragenden Triumph des vormaligen Kanzlerkandidaten Edmund Stoibers gefestigt, ehe fünf Jahre später alle bis dato gültigen Gewissheiten fulminant zertrümmert wurden.

In Bayern waren 2003, ähnlich wie heute in Bremen, alarmierende Signale erkennbar. Die leidenschaftslos geführten Wahlkämpfe, eine SPD-Opposition, die sich schon im Vorfeld praktisch aufgab, die dramatisch sinkende Wahlbeteiligung, das überraschend starke Anwachsen der Protestpartei Freie Wähler seit der Landtagswahl 1994 – all diese Trends können heute als leichtere Vorbeben gesehen werden, ehe im September 2008 der Erdrutsch im Freistaat folgte. Auch in Bremen herrscht am Tag nach der Wahl noch der Eindruck der Normalität, allerdings schon unter drückender Schwüle in der politischen Atmosphäre. Die Wahlbeteiligung an der Weser sank zum zweiten Mal in Folge auf einen historischen Tiefstand von 56,5 Prozent. Dafür erreichte eine Protestgruppierung namens „Bürger in Wut“ (BiW) im schon seit Jahrzehnten für Populisten empfänglichen Bremerhaven ein Mandat in der Bürgerschaft. Und wie in Bayern 2003 herrschte auch im Bremer Wahlkampf eine seltsam anmutende Themenarmut und Konfliktlosigkeit. Die Union als größte Oppositionspartei schien, ähnlich der bayerischen SPD unter Franz Maget, die Wahl schon im Vorfeld abgeschenkt zu haben.

Steht Bremen 2015 also ein ähnlicher Erdrutsch bevor wie Bayern 2008? Einiges spricht sogar dafür, dass eine solche Wahl in der Hansestadt noch dramatischere Züge annehmen könnte als seinerzeit zwischen Main und Isar. Denn das Bundesland Bremen befindet sich in einer nahezu existenziellen Krise: Das Land leidet unter einer immensen Verschuldung, einer Arbeitslosenquote, die Vergleiche mit ostdeutschen Ländern nicht zu scheuen braucht, sowie unter der Krise des Industriestandortes nach dem Zusammenbruch des Schiffsbausektors in den 1980er und 1990er Jahren. Bremen und vor allem Bremerhaven tragen schwer an dem seit Jahrzehnten anhaltenden Strukturwandel der Wirtschaft. In der folgenden Legislaturperiode dürfte die angespannte Haushaltslage zu weiteren Sparmaßnahmen zwingen. Insbesondere in Bremerhaven hat sich eine strukturelle Arbeitslosigkeit herausgebildet, die in Westdeutschland ihresgleichen sucht.

Fast 17 Prozent der Einwohner dieser Stadt sind 2011 ohne Job. Hier befindet sich auch nahrhafter Boden für politische Frustration und Apathie. Seit den 1980er Jahren konnte in Bremerhaven regelmäßig die rechtsextreme DVU reüssieren, nun gelang BiW unter Führung des ehemaligen Bremer Landesschefs der Schillpartei PRO, Jan Timke, ein satter Sieben-Prozent-Erfolg. Dies sind Anzeichen dafür, dass sich in der 100.000-Einwohner-Stadt an der Wesermündung allmählich etwas zusammenbraut. Weniger als jeder zweite Wahlberechtigte gab überhaupt seine Stimme ab, von diesen votierten immerhin 13.000 für Timkes BiW.

Kann die Bremer Politik, können Bürgerschaft und Senat einem solch drohenden Erdrutsch entgegensteuern? Dies scheint fraglich. Er wäre möglicherweise sogar ein notwendiger Katalysator, um das festgefahrene System vermittels eines „großen Knalls“ wieder in Bewegung zu setzen. Die sozialdemokratische Hegemonie ist, ähnlich der christsozialen in Bayern, ein Anachronismus geworden. Sie stimmt mit den Gesellschaftsstrukturen und der verschärften Wettbewerbskultur im komplexen Vielparteiensystem der Bundesrepublik nicht mehr überein. Bremen ist die letzte Bastion der alten Bonner Republik, der es noch bevorsteht, geschliffen zu werden. Dies geschah zuvor bereits in Hamburg, in Bayern und im März 2011 schließlich auch in Baden-Württemberg.

Wo sich lange vieles aufgestaut hat, bricht die alte Struktur oft in ungewohnter Heftigkeit auf – das wird möglicherweise auch den Bremern kaum erspart bleiben. Zwar könnten die ökonomischen Probleme durch ein solches Wahlergebnis keinesfalls gelöst werden, doch zumindest würde eine belebende Streitkultur wiedererschaffen, die derzeit eher gänzlich ermattet scheint. Auch hierfür liefert der Süden der Republik ein tragfähiges Beispiel: Die erdrückende christdemokratische Hegemonie in Baden-Württemberg senkte die Wahlbeteiligung im Jahr 2006 auf den Tiefpunkt von 53 Prozent. Erst die inhaltliche Polarisierung in der Frage um Stuttgart 21 belebte und politisierte die Debatte. Die Wahlbeteiligung stieg um sensationelle 13 Prozentpunkte an und die Wählerinnen und Wähler lösten eine uralte Hegemonialmacht ab, die noch Monate zuvor fest im Sattel zu sitzen schien. Dass auch Bremen in wenigen Jahren ein solcher Erdrutsch bevorstehen könnte, ist nicht unrealistisch. 2011 jedenfalls stehen viele Zeichen auf Sturm.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.