Aus der Traum

[analysiert]: Michael Lühmann ordnet das Wahlergebnis der Grünen in Berlin ein.

Als Renate Künast im Jahr 2010 ihre Kandidatur für die Berlin-Wahl ausrief, lagen die Grünen in der Hauptstadt bei Umfragen zwischenzeitlich als stärkste Kraft bei dreißig Prozent der Wählerstimmen. Nun sind sie „abgestürzt“ auf unter achtzehn Prozent – allem Zweckoptimismus zum Trotz eine Niederlage vor dem Erwartungshorizont des Grünen Superwahljahres 2011. Recht schnell hat man, inner- wie außerhalb der Partei Künast als – vermeintlich – Schuldige auserkoren. Allerdings  sind ihre taktischen Fehler – sei es das Kokettieren mit Schwarz-Grün in einer Stadt, sei es das späte Umschwenken auf Rot-Grün oder sei es die Absage an die Landespolitik– nicht die alleinige Erklärung für das letztlich enttäuschende Ergebnis.

Das Scheitern am Plüschkrokodil

Die Gründe sind weit vielfältiger. Einige der Ursachen wurzeln vor Ort, sind  speziell in Berlin zu finden. Da ist zum einen Klaus Wowereit, der nur wenig Angriffsfläche bot und seinen Amtsbonus voll zum Einsatz bringen konnte. Wie wichtig ein solcher ist, hatte seinerzeit etwa Ole von Beust in Hamburg gezeigt. Gleiches gilt für Petra Roth in Frankfurt oder Christian Ude in München. Macht der Bürgermeister keine schwerwiegenden Fehler, oderwerden ihm diese zumindest nicht zugeschrieben, haben es Herausforderer immer schwer.

Betrachtet man zudem den Wahlkampf, so zeigt sich, dass das bisweilen anstrengende grüne Programm – erinnert sei an die Tempo-30-Debatte – weit weniger Sympathien gewinnen konnte als Wowi-Bären und Plüschkrokodile auf Wahlkampfplakaten. Zudem gab es im Wahlkampf keine klare Konfrontation wie etwa in Baden-Württemberg, wo die Grünen als „bessere“ Alternative reüssieren konnten. Dabei muss man sich die spezifische Erwartungshaltung an die Grünen als klare Alternative vor Augen führen.

Grüne Erfolgsfaktoren geentert

Denn der Erfolg der Grünen bei sämtlichen Landtagswahlen des Jahres 2011 hatte einen verbindenden Faktor, der nicht Fukushima, sondern „Glaubwürdigkeit“ hieß. Vor allem in Baden-Württemberg erzielten die Grünen deshalb einen so überragenden Erfolg, weil ihnen zugetraut wurde, seit Jahrzehnten bestehende Verkrustungen lösen zu können. In Berlin nun hat sich gezeigt, dass in diesem wichtigen Punkt die Piraten noch weit vor den Grünen liegen.

Überhaupt sind die Piraten ein großes Problem für die Grünen. Denn der so wichtige Wählernachwuchs zeigt in urbanen Räumen schon länger  Präferenzen für die Piraten – ein Effekt, der sich in Berlin voll auswirkte. Und die Piraten konnten sehr viele enttäuschte Wechsel- und Nichtwähler mobilisieren  – doch vor allem die Gruppe hatte bei den vorangegangenen Wahlen den Erfolg der Grünen getragen. Hinzu kam in Berlin überdies, dass die Grünen große Teile ihrer eigenen Anhängerschaft an die Piraten verloren haben, mehr als etwa die Linke oder die SPD.

Der Erfolge zu viel?

Insofern kommt hier ein zweiter Effekt zur Geltung, der so neu gar nicht ist. Die Grünen haben seit dem Sommer 2010 die politische Agenda noch stärker zu prägen vermocht als Ende der 2000er Jahre die Linke. Die Partei hat einige ihrer zentralen Politikinhalte in den politischen Prozess eingespeist – und sich somit ein Stück weit selbst erübrigt. Die Weichen in der Atom- und Umweltpolitik beispielsweise sind unlängst gestellt worden. Diese inhaltlichen Errungenschaften erklären auch den leichten grünen Zuwachs in Berlin, doch für aufsehenerregende Erfolge wie in den vorhergehenden Wahlen braucht es eben auch ein thematisches oder personelles Alleinstellungsmerkmal – weder Künast noch die Verhinderung der A100 galten als solches.

Nicht nur an die Piraten haben die Grünen also verloren – sondern auch an die SPD durch die hohe Zufriedenheit mit Klaus Wowereit. Dazu kommt eine sehr eigene Agenda in der Hauptstadt, die ja kaum die gesellschaftlichen Verkrustungen aufweist, die zu ändern die Grünen immer wieder antreten. Denn kaum eine Partei hat, wandert man etwa durch den Prenzlauer Berg oder Friedrichshain-Kreuzberg, die Stadt derart verändert wie die Grünen. Im urbanen melting pot sind diese grünen Prägungen schon eingepreist, die Piraten sind quasi die nächste Stufe – und die Grünen, anders als in den Bindestrich-Ländern, schon längst Establishment – ohne je regiert zu haben.

Das Schweigen zu Europa

Hinzu kommt noch ein weiteres Problem, welches die Grünen indes nahezu gänzlich vernachlässigt haben. Sie sind, das zeigen Untersuchungen des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, auch der erste Adressat, wenn es um die Bewältigung von Ängsten jenseits der Atomfrage geht. Den Grünen traut man zu, in der Krise des Euro, der Banken und der Umwelt Auswege aufzuzeigen. Sie  sind der Adressat für eine Hoffnung auf Entschleunigung in einer zunehmend beschleunigten Welt.

Aber ausgerechnet zu den Themen Eurokrise und Europa hatten die Grünen erstaunlich wenig zu sagen. Nach der Abdankung der bürgerlichen Bundesregierung als verantwortliche Europäer gibt es hier jedoch eine Leerstelle in der Politik. Zwar ist die grüne Klientel im Kern die proeuropäischste. Doch die typischerweise hochgebildete, urbane, tendenziell etwas weiblichere und in öffentlichen und kreativen Berufen beheimatete, europäisch mobile und vernetzte Anhängerschaft ist in dieser höchst sensiblen Zukunftsfrage kaum von der grünen Partei abgeholt worden.

Gleiches gilt für den Zustand der internationalen Finanzmärkte. Auch hier erwarten die noch immer weniger materialistisch eingestellten grünen Wähler klare Vorgaben der Partei. Ein Dissens innerhalb der Grünen über die nur geringfügig zu ändernde Höhe des Spitzensteuersatzes ist für ihre Anhänger, die überdurchschnittlich zufrieden sind mit ihrer Steuerlast, schwer nachvollziehbar. In diesem Punkt  hat sich die Sozialdemokratie programmatisch weit entschiedener positioniert.

Nach Berlin

Dennoch ist es unnötig, den Erfolg der Grünen kleinzureden. Wären die Piraten nicht angetreten, hätten die Grünen die Zwanzig-Prozent-Marke deutlich überschritten. Der einstigen Anti-Parteien-Partei ist paradoxerweise ein – bisher auf Berlin beschränkter – neuer Repräsentant des Anti-Parteien-Affekts als Konkurrenz erwachsen, den es auch programmatisch nicht zu ignorieren gilt. Dennoch kann nach dem Wahljahr 2011 konstatiert werden, dass sich die Grünen nahezu auf Augenhöhe mit den schrumpfenden Großparteien befinden und dass an ihnen bei den nächsten Wahlen – bis hin zu den Bundestagswahlen – kaum vorbeizukommen sein wird.

Aber das Berliner Ergebnis sollte auch Lehren für die Partei parat halten. Erstens wären sie gut beraten,  die Debatte um einen grünen Kanzlerkandidaten vorerst nicht weiter zu befeuern. Zweitens sind die Inhalte der Piraten ernst zu nehmen. Und drittens sollten die Grünen inhaltlich wieder deutlich profilierter und offensiver als bisher auftreten. In Zeiten regierender Unvernunft braucht es eine Partei, die sich einerseits hinter den Euro und den Gedanken der europäischen Solidarität stellt und die andererseits deutlich macht, dass die Einnahmenseite zum Abbau der Schuldenkrise einer Reform bedarf. Insofern erübrigen sich derzeit sämtliche Gedankenspiele in Richtung Schwarz-Grün.

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.