Politik und Sport (1): Medien und Mythen
[analysiert]: Katharina Trittel über das „Wunder von Bern“: Fußballspiel oder moderner Mythos?
„Es scheint das Kennzeichen einer historischen Stunde zu sein, dass noch Jahrzehnte später jeder genau erzählen kann, was er in diesem Augenblick getan hat, wo er war und mit wem zusammen.“[1] Wenn man von dieser Prämisse ausgeht, dann war der Sieg der deutschen Fußballmannschaft in Bern 1954 eine „historische Stunde“ – und für viele war er noch weit mehr.
Unvergesslich für alle Zeitzeugen ist die kollektive Begeisterung; heute spricht man von einem ersten spontanen Massenerlebnis nach dem Krieg. Deutschland „war wieder wer“ – und auf jeden Fall mehr als nur Fußballweltmeister. Die Masse, das Kollektiv, die „virtuelle Gemeinschaft“, wurde maßgeblich erst geschaffen durch die legendäre Radioreportage Herbert Zimmermanns, so die kulturwissenschaftliche These, in deren Zentrum die Frage steht, wie das Medium Radio zum gemeinschaftsstiftenden Element in der sozial heterogenen Nachkriegsgesellschaft werden konnte. Auch heute ist das „Wunder von Bern“ ein feststehender Topos. Einige sprechen gar von einem Mythos. Aber was ist das „Mythische“, das „Wunderbare“ am „Wunder von Bern“ und wie wurde es in der öffentlichen Wahrnehmung dazu?
„Virtuelle Gemeinschaften“ beruhen auf medial vermittelten bzw. erzeugten Erlebnissen, nicht aber auf persönlicher Anwesenheit oder unmittelbarer Teilnahme. Man kann an ihnen unabhängig von den konkreten Orten des Geschehens überall dort teilhaben, wo es entsprechende Medien gibt. Bemüht man diesen Erklärungsansatz einer virtuellen Gemeinschaft für das Jahr 1954, so muss die Nachkriegssituation als Nährboden und entscheidende Voraussetzung für die Mentalität berücksichtigt werden, die das „Wunder“ ermöglichte. In der „Zusammenbruchsgesellschaft“ war eine tiefe moralische Unsicherheit spürbar, hervorgerufen durch den Werteverlust, den die militärische Niederlage 1945 für viele bedeutet hatte. Indes war ein weiteres „Wunder“ – das „Wirtschaftswunder“ – der Wegbereiter hin zu einer Freizeitgesellschaft, in der sich das Konsumverhalten der Deutschen wandelte und eine Popularkultur entstand, in der das Medium Radio zu wesentlicher Bedeutung gelangte. Außerdem ermöglichten erste sportliche Erfolge ein unbelastetes Auftreten auf der internationalen Bühne. Dass sich nicht nur Fußballbegeisterte, sondern die gesamte bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit sportlichen Wettkämpfen identifizierte, lag an deren Prestigecharakter. Sie ermöglichten eine Flucht in eine vermeintlich unpolitische Welt. Aus dem Bild von Deutschland in Schutt und Asche wurde die „Wurzel eines Mythos von der Stunde Null und dem Wiederaufbau aus dem Nichts [geschaffen], eine schon in den 50er Jahren verbreitete Nationallegende“[2].
Sport wird allgemein die Fähigkeit zugesprochen, Aufschlüsse über aktuelle Debatten geben zu können – so z.B. auch über Fragen von Identität und Gemeinschaft. „Durch die Begeisterung für den Fußball“, so der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Brüggemeier, „entstand eine Gemeinschaft, die wegen ihrer Größe und Intensität ihrer Gefühle eine neue Qualität besaß. Diese Gemeinschaft war virtuell, weil sie auf einem medial vermittelten Ereignis beruhte.“ Eine zunächst begrenzte Gemeinschaft Fußballbegeisterter erweiterte sich dann im Siegestaumel um nahezu den gesamten Rest der deutschen Bevölkerung. Typischerweise bestand sie nur für einen kurzen Moment und es handelte sich auch nicht um eine aktive Gemeinschaft. Im Gegensatz zu anderen kommt die virtuelle Gemeinschaft überdies nicht beabsichtigt zusammen, um für bestimmte Werte einzutreten – sie steht gar nicht für irgendeine spezifische Art von Werten. Die Menschen teilten 1954 „nur“ zwei Stunden allergrößter Anspannung, sie verfolgten ein einmaliges Ereignis. Diese Verbindung von Flüchtigkeit und Intensität setzte bestimmte Regeln außer Kraft: In dem Moment der Gemeinschaft scheinen alle Unterschiede ihrer Mitglieder vergessen, bis der Alltag zurückkehrt und die Gemeinschaft sich auflöst.
Das mythische Potential der Zimmermann-Reportage, dem Ausgangs- und Konstitutionspunkt der virtuellen Gemeinschaft, liegt vor allem in der damaligen relativen Neuheit des Mediums: Die menschliche Stimme aus dem Äther erhielt durch ihre Medialisierung eine mythische Dimension. Zimmermann, „der zwölfte Mann von Bern“, dessen Freudenschreie sich „dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein verankert haben“[3], vertrat mit seinem Pathos den Hörer vor Ort, als Stellvertreter und Stifter der Gemeinschaft. Indem er das medial reproduzierte Ereignis in die Wohnzimmer brachte, schwang er sich zum auktorialen Weltvermittler und -erklärer auf, da er vom Sichtbaren ins Nur-Hörbare übersetzte: eine Dramatisierung des Geschehens, die den Hörern als Dramatisierung der Wirklichkeit erschien. Die Reportage fesselte sechzig Millionen Menschen an die Radiogeräte und trotzdem wurde durch das Medium und Zimmermann eine soziale Nähe zwischen ihnen aufgebaut, eine „sorgsame Inszenierung von Intimität“[4], da das Radio die Raum- und Zeitverhältnisse für das damalige Empfinden völlig erneuerte. Durch die überräumliche Ebene des Radios schien alles gleich nah und gleichzeitig zu geschehen. Man nahm teil, ohne vor Ort zu sein – an jeder beliebigen Stelle konnten die gesamte Welt medial auf einen Punkt verdichtet, die Geschehnisse intensiviert werden. Man war Teil des Geschehens und deswegen auch ein wenig dafür verantwortlich. Durch das mediale Ereignis wurden die Teilnehmer Zeuge eines ganz besonderen Vorgangs; und diese Zeugenschaft verband die anonyme Masse zu einer Gemeinschaft. Das Faszinosum ist also die mediale Teilnahme selbst und die Verbindung unter den Teilnehmern – und nicht etwa das verfolgte Ereignis.
Dass sich Fußball besonders dazu eignet, in einen „wunderbaren“ Zusammenhang gestellt zu werden, hat also spätestens die WM von 1954 gezeigt: „Fußball ist Märchenstoff. Manchmal siegt sogar das Gute.“[5] Aber assoziieren wir heute mit dem „Wunder von Bern“ lediglich eine Erzählung, mit allen mythischen und verklärenden Elementen, die dem Ereignis im Nachhinein übergestülpt wurden, und erleben somit einen Prozess historischer Verformung?
„Das ‚Wunder von Bern‘ hat heute den Rang eines Mythos.“ Ein „Mythos“, das kann eine „von der Rationalität abgehobene Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter“[6] sein, vor allem aber werden Ereignisse auf ganz bestimmte, aus dem komplexen Ereignis heraus isolierte Elemente reduziert. Diese Erzählmuster verändern sich in dem Maße, wie sich ihre Wahrnehmung, Überlieferung und Erzählsituation verändern: „Der Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Aussage“[7] und somit in einen historischen Prozess eingebunden. Gerade in Zeiten von Krisen werden die Erzählmuster intensiver, die Ereignisse zu „Mythen“ stilisiert, weil sie Geborgenheit und Identität vermitteln. Aber auch „magische Daten“ haben die Wirkung, dass sie eine „rituelle Form kollektiver Besinnung“[8] nach sich ziehen: „Wunder“ und „Mythos“ sind also Gegenkonzepte zum historischen Ereignis.
Wie wurde die Geschichte des „Wunders von Bern“ erzählt? Die erstmals 1954 im Kicker auftauchende Wendung stammt aus der zeitgenössischen Diktion, die den Begriff des Wunders nahezu inflationär gebrauchte und daher anders konnotierte als heute. Von den Beteiligten wurde sie hingegen nicht bemüht: „Es wurde von den Helden von Bern gesprochen, aber wir haben uns nie als Helden gefühlt.“[9] Wohl aber von den Mitgliedern der virtuellen Gemeinschaft: „Es war mehr, als nur ein Fußballspiel, es war ein Endspiel, es war mehr als Fußball. Wir sind Weltmeister und ich habe elf Helden und ein Lebensmotto. Es geht immer weiter – niemals aufgeben!!!“ Mit der Rede vom „Wunder“ betont man bewusst das Übernatürliche und Charakter des entgegen aller Erwartungen errungenen Sieges.
Die kollektive Aneignung dieses Sieges schuf darüber hinaus eine Identitätsmöglichkeit. 1967 erlangte die Berichterstattung anlässlich des 70. Geburtstags von Sepp Herberger eine neue Qualität: Es setzte eine personenbezogene Glorifizierung und nostalgische Verklärung ein. Mit dem Titelgewinn von 1974 geriet dann die Reportage Zimmermanns als Element der späteren Mystifizierung in den Fokus – von dem Sieg selbst distanzierte man sich eher: ein vergangenes Ereignis ohne Gegenwartsbezug. Der Tod Herbergers 1977 war der vorläufige Höhepunkt der Mythenbildung. Er schloss ein Kapitel in der Geschichte ab und machte es erst damit zum Gegenstand einer umfassenden Mystifizierung. Nun wurde der Sieg historisiert und sank in tiefere Schichten des kollektiven Bewusstseins herab. Diese Distanzierung war notwendig, um das Thema unter neuen Gesichtspunkten, nämlich den mythisch-wunderbaren, wieder aufzugreifen und neu aufzuarbeiten.
In den 1990er Jahren war ein regelrechter Boom zu beobachten, weil sich das Medienspektrum erheblich verbreitert hatte. Anlass zur Wiederaufnahme bot der 80. Geburtstag von Fritz Walter. Zeitungen schrieben jetzt explizit über „das Fußball-Wunder“, vor allem die ZDF-Dokumentation „Das Wunder von Bern“ machte den Begriff wieder populär, indem sie die Geschichte als „modernes Märchen“ ankündigte. Vor allem aber wurde das komplexe Ereignis nun auf einzelne Elemente verdichtet, die eine Mythisierung nahe legten; und an erster Stelle stand hierbei die Reportage Zimmermanns. Der Sieg war nun nicht länger „nur“ Teil der Sportgeschichte, sondern Bestandteil der „offiziellen“ Geschichte der BRD. Das Ereignis wurde als Ort der kollektiven Erinnerung der deutschen Öffentlichkeit begriffen. Die Rezeptionsgeschichte des „Wunders von Bern“ ist exemplarisch für die Funktionsweise von populärer Erinnerungskultur: Eine mediale Großoffensive münzt ein Sportereignis um in einen modernen, nationalen Mythos.
Katharina Trittel arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Leinemann, Jürgen: Sepp Herberger: ein Leben, eine Legende. Berlin 1997, S. 19.
[2] Schildt, Axel: Kontinuität und Neuanfang im Zusammenbruch. In: Estermann, Monika (Hg.): Buch Buchhandel Rundfunk 1945 – 1949, Wiesbaden 1997, S. 18
[3] Jordan, Stefan: Der deutsche Sieg bei der Weltmeisterschaft von 1954, vgl. http://www.sehepunkte.de/2004/06/6462.html.
[4] Dammann, Hanns-Clas: Stimme aus dem Äther – Fenster zur Welt: die Anfänge von Radio und Fernsehen in Deutschland, Köln 2005, S. 54.
[5] Leinemann, S. 334.
[6] Leinemann, S. 4
[7] Barthes, Roland: Der Mythos heute. In: Pias, Claus (Hg.): Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 2004, S. 164
[8] Ebd., S. 165
[9] Horst Eckel zitiert nach: http://www.derlehrerclub.de/uploads/tx_kemwebslmedia/pdf_swf/pdf_177/swf_16.swf