Auf der Strecke geblieben

[kommentiert]: Nur eine kurze Episode auf dem Weg zur grünen Volkspartei. Michael Lühmann über das jähe Ende schwarz-grüner Projektionen.

Die Berliner Republik steht vor einer Zäsur. Mit Renate Künast schickt sich eine Politikerin der Grünen an, mit ganz realistischen Chancen das Amt der Regierenden Bürgermeisterin zu erringen. Ähnliches, glaubt man den Umfragen, könnte vor ihr schon Winfried Kretschmann gelingen, dem grünen Spitzenkandidaten in Baden-Württemberg. Was noch vor wenigen Monaten undenkbar schien, könnte mehr sein als ein von Medien und Umfrageinstituten wechselseitig verstärkter Hype. Plötzlich ist allerorten von ganz neuen Koalitionsoptionen die Rede, grün-rot ist nur eine der jüngst diskutierten Varianten. Und während sich in Baden-Württemberg inzwischen die SPD als Juniorpartner anbietet, könnte Künast gar aus drei potentiellen Partnern auswählen: der Linken, der SPD und der Union. Wobei die dereinst hochfavorisierte CDU inzwischen die unwahrscheinlichste Option sein dürfte.

Hier ist, neben der neuen Stärke der Grünen, die zweite wichtige Verschiebung der politischen Gleichgewichte zu spüren, die, näher betrachtet, nur eine kurze Episode, eine scheinbare Verwirrung alter Lagerarithmetik, beendet: das schwarz-grüne Zwischenspiel. Noch vor wenigen Monaten sah das anders aus. Merkel hatte innerparteilich geschickt die Brückenköpfe für schwarz-grün in Stellung gebracht, aus Hamburg und dem Saarland kam der Rückenwind auch für NRW. Beide Parteien lebten eine Zeit lang in freundlicher Symbiose zusammen: Die Grünen erweiterten der Union über Hamburg hinaus das Koalitionsportfolio und die Union verhalf den Grünen aus der gefürchteten babylonischen Gefangenschaft des rot-grünen Projekts. Und der Start der Regierung Merkel/Westerwelle zeigte recht schnell, dass dem klassischen bürgerlichen Lager der Bonner Republik schon längst keine politische Zwangsläufigkeit mehr innewohnte.

Doch dann kam vieles anders. Binnen weniger Monate zerstörte die Union das noch nicht ausgehärtete Fundament schwarz-grüner Projektionen. Der Ausstieg aus dem Atom-Ausstieg, bei dessen Aushandlung mit Röttgen zugleich der wichtigste Brückenbauer demontiert wurde, ist hierbei nur die Spitze des Eisbergs, der die kurze Liebe abkühlen ließ. Auch das Scheitern der Bildungsreformen in Hamburg, die Konfrontation im Stuttgarter Schlossgarten, das offensichtliche Einknicken der Union vor der versammelten Schar der Lobbyisten – vieles hat dem schwarz-grünen „Projekt“ die Grundlage entzogen. Doch den Schaden hat allein die Union.

Die Grünen sind indes die großen Nutznießer. Denn in dem Maße, in welchem sich die Union von den Grünen entfernt, scheinen die Grünen hinzuzugewinnen, vor allem enttäuschte Wähler der Union, wie sich in und um Stuttgart beobachten lässt. Ein mögliches  Indiz dafür, dass erhebliche Teile der Unions-Wählerschaft sich bei den Grünen besser aufgehoben fühlen. Und ein Indiz dafür, dass sich Grüne und deren (neue) Wähler im Gleichklang in Zeiten der Dreifachkrise von Banken, Euro und Umwelt hinter einer konzeptionellen Idee der ökologischen Durchdringung des Politischen versammeln können. Auch hier hat Merkel ihre Anteile. Indem sie die Akzeptanz von Umweltpolitik in der bürgerlichen Anhängerschaft stärker erweitert hat als die ohnehin kritisch beäugte rot-grüne Regierung, sie nun aber wieder weit dahinter zurückfällt, treibt sie den Grünen potentielle Wähler in die Arme.

Doch nicht nur der ökologische Gedanke scheint neuerdings in Teilen des bürgerlichen Lagers zu verfangen, auch die Stellung der Grünen, die Sicht auf die einst rebellischen Bürgerkinder ist milder geworden, seit die Grünen in Hamburg und im Saarland bewiesen haben, dass sie auch bürgerliche Politik zu vertreten im Stande sind. Insofern hat schwarz-grün seinen Zweck erfüllt, nicht die Union ist der große Profiteur des Strebens in die Mitte, sondern die Grünen.

Wie gut, dass diese bundesrepublikanische Mitte inzwischen auch noch das Protestieren für sich entdeckt hat. Hier brauchen die Grünen keine Hilfe und Zuarbeit anderer Parteien – das  ist original grüner Markenkern.

Diesen durch einen Kompromiss mit der Union zu gefährden, würde der vor allem auf Glaubwürdigkeit rekurrierenden Partei inzwischen wieder mehr schaden als nutzen. Andererseits, auch das haben die Grünen von Hamburg über das Saarland bis nach NRW bewiesen: Im Zweifel, und für die Macht (in Parteisprache: grüne Inhalte) dann doch wiederum mit allen koalieren zu können. Sollte dies in Baden-Württemberg Realität werden, dürfte auch Renate Künast Schaden nehmen und die Grünen fielen wieder in die Rolle des Juniorpartners zurück.

Kurzum, das schwarz-grüne Projekt ist eigentlich tot und bleibt vorerst nicht mehr als eine Übergangsepisode auf dem Weg zur grünen Volkspartei. Zurück bleiben die, die schon damals in der anderen Schulhofecke gestanden haben, die die Grünen bis heute für entrückte Spinner und Alt-Kommunisten halten: die konservativen Auguren der Union. Dass gerade sie den Grünen auch noch den Weg an die bundesrepublikanischen Länderspitzen ebnen würden, ist die eigentliche Ironie der Geschichte.

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.