[analysiert]: Stine Marg über die soziale Zusammensetzung und das Selbstverständnis der Bürgerinitiativen.
Letztes Jahr um diese Zeit war „Stuttgart 21“ bereits ein bundesweit heiß diskutiertes Thema. Angeregt durch die Bilder von der Räumung des Schlossparkes am 30. September 2010 (die sicherlich Teil des nationalen Protestgedächtnisses bleiben werden) fokussierte sich der Blick der Medienfachleute, Meinungsdeuter und Sozialwissenschaftler zunehmend auf die allerorts protestierenden Bürger. Von Initiativen gegen Stromtrassen und Windkrafträder, über Widerstände gegen die Fehmarn-Belt-Querung bis hin zu Protesten gegen den Flughafen Berlin Brandenburg und die letztlich gescheiterte Münchener Olympiabewerbung – alles, was auch nur im Ansatz nach bürgerlichem Widerstand aussah, wurde mit analysierender Aufmerksamkeit bedacht. Die Kommentatoren stritten um die Etikettierung von „Mut- und Wutbürgern“, man wähnte sich in einer „Dagegen-Republik“ und beschwor das neue Phänomen eines kritischen, selbstbewussten aber moderneverdrossenen und fortschrittspessimistischen, somit ständig blockierenden Citoyen, der sich unzufrieden und wütend von Unternehmern und Politikern übergangen fühlt.
Ein Großteil dieser medial wahrgenommenen Proteste der letzten Zeit wird von Bürgerinitiativen oder anders klingenden, aber gleichartig arbeitenden Gruppierungen getragen. Ob sie nun „Nolympia“, „Bürgerinitiative gegen Megamasten“, „Windwahn“, „Berlin Brandenburg gegen neue Flugrouten“ oder „Wir wollen lernen!“ heißen, sie sind im Grunde alle spontane, zeitlich begrenzte, organisatorisch lockere Zusammenschlüsse von Bürgern, die sich für – beziehungsweise noch häufiger gegen – ein konkretes Projekt einsetzen. Dies tun sie außerhalb traditioneller Beteiligungsformen, Institutionen und Parteien. Es mag vielleicht sein, dass diese Initiativen vermehrt als Träger und Organisatoren von Großdemonstrationen – besonders öffentlich – in Erscheinung treten. Bürgerinitiativen als Phänomen an sich sind allerdings alles andere als neuartig.
In nennenswerter Zahl entstanden die Bürgerinitiativen bereits 1969/70 als Reaktion auf das repräsentative Defizit der Parteiendemokratie (Bernd Guggenberger), auf enttäuschte Erwartungen an staatliches Handeln (Cornelia Nowak), als Kritik an Planungsoptimismus, Sachzwanglogik und den unüberschaubaren Nebenkosten des Fortschritts (Jens Hacke). Und obwohl all diese Bürgerinitiativen völlig unterschiedliche Einzelziele vorwiegend in den Bereichen Umweltschutz, Städtebau, Verkehr, Erziehung und Soziales verfolgten, gab es doch einen größeren gemeinsamen Rahmen: Ihre Träger waren durch Gemeinsamkeiten im Lebensstil, in politischen Partizipationsformen und Grundeinstellungen zur Umwelt, Natur, Mitmenschen, Technik, Arbeit und Politik gekennzeichnet, sie waren ein Teil der Neuen Sozialen Bewegung.
Und genau hierin besteht ein Unterschied zu den aktuellen, von den Bürgerinitiativen organisierten Protesten der letzten Monate. Zwar gibt es durchaus Gemeinsamkeiten zwischen den Stromtrassengegnern und Kopfbahnhofbefürwortern, aber in einem ähnlichen Lebensstil oder einer gleichartigen Werthaltung sind diese nicht begründet und schon gar nicht aus einer besonderen Haltung zur Umwelt und Natur heraus motiviert. Was sie eint ist vielmehr die Unzufriedenheit mit der Funktionsfähigkeit des politischen Systems, mit dem Verhalten eines Großteils der politischen Eliten und hauptsächlich mit dem Mangel an Möglichkeiten, ihre Vorstellungen, Bedürfnisse und Anliegen effektiv und insbesondere unverwässert in den politischen Entscheidungsprozess hineinzutragen. Denn die Bürgerinitiativler der Gegenwart sind größtenteils ausgewiesene Experten in dem, was sie tun. Sie verfügen über das Wissen und die Fähigkeiten, mit Entscheidern und Konzernvertretern über technische Details auf Augenhöhe zu diskutieren. Dazu verfügen sie über die kommunikative Kompetenz im Bereich der klassischen und neuen Medien, was ihnen erlaubt, ihren Ansichten auch Gehör zu verschaffen. Vor allem aber haben sie, jetzt wo die Kinder aus dem Haus sind und sie sich dem Vorruhestandsalter nähern, Zeit, um sich intensiv der Organisation von Initiativen, Demonstrationen, Expertengesprächen oder dergleichen zu widmen.
Und auch das ist ein Unterschied zu den „alten“ Bürgerinitiativen der 1970er Jahre: Waren deren Mitglieder im Schnitt noch zwischen 25 und 45 Jahre alt und nahm ihre Bereitschaft zur aktiven Partizipation innerhalb der Gruppe mit zunehmenden Alter ab, sind die heutigen Engagierten größtenteils zwischen 46 und 65 Jahren alt. Beinahe 19 Prozent der Mitglieder der von uns in mehreren Studien untersuchten Interessengemeinschaften und Demonstranten sind sogar über 65 Jahre alt, wohingegen junge Menschen unter 35 Jahren so gut wie gar nicht vertreten sind. Während sich in den siebziger Jahren überwiegend Angehörige der freien Berufe, Angestellte und Beamte aus den Bereichen Wirtschaft und Verwaltung und kaum Rentner und Hausfrauen beteiligten, gingen doch viele – auf Basis von repräsentativen Meinungsumfragen über die Haltung zu Bürgerinitiativen – davon aus, dass auch die Mitmachbereitschaft der Arbeiterschaft steigen werde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Arbeiter beteiligen sich nach wie vor kaum an Bürgerinitiativen und Protesten. Heute sind es hauptsächlich Angestellte, Selbständige und Rentner, die das Bild prägen.
Noch ein weiterer Unterschied lässt sich erkennen, auch wenn sich das aufgrund der Kurzlebigkeit, unbestimmten Organisationsstruktur und dem ständigen Wechsel der Akteure nicht eindeutig mit belastbarem Zahlenmaterial belegen lässt: Die Beteiligten an den Protesten gegen den Flughafen im Großraum Berlin, gegen die Windparks an der Nordseeküste oder gegen die Strommasten in Niedersachsen haben alle etwas zu verlieren: den Marktwert ihrer Grundstücke und Immobilien. Während es den Bürgerinitiativen der 1970er Jahre größtenteils um die Lebensqualität in ihrem Viertel oder ihrer Stadt ging und sie angesichts ihres jungen Alters wohl nicht, wie gegenwärtig, zu über zwei Dritteln Häuser- und Wohnungsbesitzer waren, klagen in unseren Umfragen beinahe alle Befragten über den Wertverlust ihres Besitzes. Es geht um Wohnsituationen, für die Betroffene häufig etliche Jahrzehnte gearbeitet und einige Entbehrungen auf sich genommen haben, um Häuser und Grundstücke, die einmal die Altersvorsorge sichern sollten oder die sie als Geldanlage an die Kinder und Enkelkinder weitergeben wollten. Und deshalb versuchen sie sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen Nachtflüge, Freileitungen und Megamasten zu wehren. Im Licht der bundesrepublikanischen Protestkultur mit ihren Anti-Akw-Demonstrationen und Umweltbewegungen ist es ein eigenartiges (Schatten-)Spiel, wenn plötzlich auch Demonstrationen gegen regenerative Energieprojekte die Bühne der politischen Gegenkultur erobern.
Man kann den Bürgerinitiativen der Gegenwart nicht, wie es Haffner für die Gruppierungen der 1970er Jahre getan hat, das Etikett „konservativ“ anheften oder ihnen Fortschrittspessimismus vorwerfen. Sie sind auch nicht ausschließlich Nimbys, die den Strommast oder die Windkraftanlage nicht in ihrem Garten oder Hinterhof stehen haben möchten (Nimby steht für: Not In My Back Yard). Bürgerinitiativen setzten sich zwar meist gegen etwas ein – sind also kaum initiativ – aber sie belassen es nicht dabei: Sie schlagen ebenso technische Alternativen und Weiterentwicklungen vor, sind genauestens über die Vorteile und Nachteile der angestrebten Projekte informiert und wollen in einem selbstbestimmten Umgang mit der Technik ihr Leben gestalten. Und gerade weil sie auf ihren Gebieten zu Experten geworden sind und gleichzeitig den Politikern diesen Sachverstand absprechen, nehmen sie für sich die Überlegenheit der Argumente und das Recht der Entscheidung – jenseits der konventionellen Verfahren – heraus.
Stine Marg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Eine Arbeitsgruppe des Instituts, bestehend aus Ana Belle Becké, Franz Hartmann, Christoph Hermann, Lea Heyne, Christoph Hoeft, Julia Kopp und Stine Marg hat in den letzten Monaten Proteste in Deutschland erforscht. Die Ergebnisse stehen hier zum Download bereit: