Widerstand gegen Veränderung

[kommentiert]: Sebastian Kohlmann über die SPD-Parteireform

Die Debatte um eine umfangreiche Parteireform ist nicht neu in der SPD. Sie wurde zwischen 1990 und 1993 geführt, als die SPD noch über 900.000 Mitglieder hatte. Sie wurde im Jahr 2000 geführt, als die SPD noch fast 700.000 Mitglieder hatte und sie wird nun, im Jahr 2011, wieder geführt – die Mitgliederzahlen sind jüngst unter 500.000 gefallen. Geschehen ist in all den Jahren letztlich nicht viel.

Nachdem Björn Engholm 1993 als Parteivorsitzender zurückgetreten war, galt auch die von seinem Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing angestoßene Parteireform als obsolet. Nach-Nachfolger Franz Müntefering griff einige der Vorschläge im Jahr 2000 wieder auf. Doch erneut: Viel geschah auch hernach nicht. „Münteferings bisher größtes Reformwerk auf Bundesebene bleibt die ‚SPD-Card‘, mit der Parteimitglieder bei einigen Firmen Rabatte bekommen können”, urteilte ein Jahr darauf die taz. [1]

Im Jahr 2011 lauten die Schlagworte wieder einmal ähnlich: Partizipation ist abermals das Zauberwort der Stunde. Vorwahlen des Kanzlerkandidaten nach US-amerikanischem bzw. französischem Vorbild, die Öffnung der Partei für Nicht-Mitglieder und – natürlich – eine Quote. 2000 taufte man diese „30 unter 40“ – also 30 Abgeordnete unter 40 Jahren –, diesmal lautet sie 40 Prozent Frauen in der SPD-Fraktion. Letztere Forderung scheint noch am einfachsten umzusetzen – schon heute liegt der Anteil der Frauen in der Fraktion bei 37 Prozent [2].

Wie schwer es für die deutsche Sozialdemokratie allerdings ist, die Partei für Nicht-Mitglieder zu öffnen, geschweige denn wirkungsvolle Vorwahlen durchzuführen, zeigt der Blick in die eigene Vergangenheit. Im Jahr 2000 wurde diese Idee gleich nach Ihrer Erfindung wieder vergraben, eine Debatte in der Bundestagsfraktion kurzerhand wieder abgesagt – als chancenlos galt das Unterfangen, die Mitglieder für die Idee von Vorwahlen zu begeistern. So analysierte Franz Walter das Scheitern dieses Vorhabens: „[Die Aktivisten in der Sozialdemokratie] empfanden diese Initiativen nicht als Ausdruck willkommener Modernität, sondern als Angriff auf die von ihnen oft über Jahrzehnte praktizierte Verbindlichkeit des förmlich gesicherten politischen Engagements.“[3]

Auch im Kleinen, bei einem Blick in die SPD des nördlichsten Bundeslandes, Schleswig-Holstein, bestätigt sich diese Analyse. Dort gab es Anfang dieses Jahres eine öffentliche Debatte und Abstimmung um die Position des Spitzenkandidaten für die Wahl 2012. Jedoch konnte sich die Partei nicht auf ein einheitliches Procedere einigen. Die Konsequenz: Jeder Ortsverein wählte ein anderes Verfahren zur Kandidatenvorstellung – und am Ende durften nur die Mitglieder wählen.

Zwar zeigt dieses Beispiel, dass eine Vorwahl des Kandidaten durchaus zu einer bemerkenswerten Mobilisierung der Mitgliedschaft führen kann. Immerhin siebzig Prozent der Parteimitglieder des Landesverbandes beteiligten sich an der Abstimmung, und etwa 5000 Nichtmitglieder fanden den Weg in eine der Vorstellungsveranstaltungen der Kandidaten. Doch schon dem vergleichsweise kleinen Landesverband gelang keine innerparteiliche Einigung. Man kann sich vorstellen, wie schwer es sein wird, wenn bundesweit alle Landes- und Ortsverbände einbezogen werden sollen. Ein Stückwerk – wenn überhaupt – scheint wahrscheinlich.

Gleichwohl: Dass einige Reformideen durchaus durchgesetzt werden können, zeigen die Jahre 1995 bis 1998. Was heute in Bezug auf die neusten Reformanstrengungen von Spiegel Online als “McKinsey-Kur” bezeichnet wird, hatte Müntefering lange vor seinen Reformvorschlägen des Jahres 2000 an den Parteigremien vorbei praktiziert. Der damalige Bundesgeschäftsführer trieb einen Umbauprozess der Parteizentrale hin zu einem „Dienstleistungsunternehmen“[4] voran. Zunächst mit Erfolg: 1998 hatte die SPD ein schnell handelndes ‚Kompetenzzentrum‘, das insbesondere mit der Kampa, der Wahlkampfzentrale, einen „hochprofessionell[en]“ Wahlkampf organisierte.[5] Die Folge war jedoch schon da eine Abkopplung von den klassischen Gremien und Ortsvereinen, die in Münteferings Konstrukt nur noch eine geringe Rolle spielten. Das merkte er auch selbst: In seinen Parteireformvorschlägen zwei Jahre später maß er der Basis wieder eine größere Rolle zu.

Heute möchte die Parteispitze wieder beides forcieren: eine Öffnung der Partei für Nicht-Mitglieder und Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis wie auch eine organisatorische Erneuerung. Die Schließung kleinster Ortsvereine, die nicht einmal mehr einen “handlungsfähigen” Vorstand stellen können und gleichzeitig die Öffnung für Nicht-Mitglieder – bis hin zur umfangreichen Mitbestimmung.

Diesen eigentlich plausibel klingenden Ideen steht jedoch einmal mehr die gleiche Gruppe skeptisch gegenüber: die Mitglieder, derer es zwar immer weniger gibt, die aber gleichzeitig immer wieder gegen eine Mitbestimmung von außen und gegen die sie direkt tangierenden Veränderungen rebellieren – aus teils verständlichen Egoismen. Denn so einleuchtend die vorgebrachten Gründe für die einzelnen Reformschritte auch sein mögen, die Befindlichkeiten derjenigen, die über alle Schwierigkeiten hinweg der Partei treu geblieben sind, sind schwer beiseite zu schieben: Die Angst vor einer Entwertung der Mitgliedschaft ist nach wie vor groß.

Auch deshalb gelang Müntefering, obwohl einst mit fast 95 Prozent zum Generalsekretär und Liebling der Partei gewählt, die Umsetzung der Reform im Jahr 2000 nicht. Andrea Nahles war nie von solcher Popularität und bekam 2009 bei ihrer Wahl zur Generalsekretärin nur rund 70 Prozent der Delegierten-Stimmen. Ihr dürfte es noch deutlich schwerer fallen, die Partei in diesen ohnehin heiklen Reformfragen hinter sich zu versammeln. So droht der SPD – neben der dringend benötigten inhaltlichen Neudefinition – auch im Jahr 2011 dasselbe Schicksal wie so häufig in ihrer Geschichte: eine abermals auf unbestimmte Zeit vertagte Parteireform.

Sebastian Kohlmann ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Beucker, Pascal: Adieu, Westliches-Westfalen; in: taz, 17.12.2001, S. 7.

[2] eigene Berechnung nach den Zahlen auf der Interseite der SPD Fraktion: http://www.spdfraktion.de/cnt/rs/rs_rubrik/0,,3914,00.html [eingesehen am 03.06.2011].

[3] Walter, Franz: Zauberformel ohne Garantie; in: Spiegel Online, 26.05.2011; nachzulesen unter:  http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,764859,00.html [eingesehen am 01.06.2011]. 

[4] Vgl. hierzu: Urschel, Reinhard: Gerhard Schröder, München 2002, S. 302.

[5] Vgl. Raschke, Joachim; Tils, Ralf: Politische Strategie. Eine Grundlegung, Wiesbaden 2007, S. 442.