Vordenker der arabischen Moderne

[analysiert]: Severin Caspari über den marokkanischen Philosophen Mohammed al-Jabri

Es wäre auch seine Revolution gewesen. Aber als sich die Bevölkerung in Nordafrika und im Nahen Osten 2011 gegen ihre Unterdrücker erhob, war Mohammed al-Jabri bereits ein Jahr verstorben. Der marokkanische Philosoph wurde vor allem durch sein Hauptwerk „Die Kritik der arabischen Vernunft“[1], das zwischen 1984 und 2001 in insgesamt vier Bänden erschien, zu einem der bedeutendsten Intellektuellen der arabischen Welt. Zwischen Beirut und Casablanca führte die Lektüre seiner Schriften zu hitzigen Diskussionen – vor allem bei der Jugend.[2]

Jabri traf den Nerv seiner Leser, weil er sich den Schlüsselfragen der Region zuwandte: Wie kann die arabische Krise überwunden werden? Sind Islam und Moderne, Glaube und Vernunft miteinander vereinbar? Und wie wäre ein Weg in eine „arabische Moderne“ zu beschreiten? Diese Fragen haben dieser Tage, in denen in Nordafrika die ersten freien Wahlen stattfinden und viele einen Triumph islamistischer Parteien wie der Nahda in Tunesien befürchten, große Relevanz. Wer diese Fragen stellt, begibt sich jedoch auf vermintes Terrain. Schließlich muss man kein Islamist sein, um im Konzept der „Moderne“ ein westliches Importprodukt zu vermuten. Dennoch: Denker der Moderne im Islam sehen sich hier mit einer großen Herausforderung konfrontiert: Sie müssen einen Weg in die Moderne aufzeigen, der das authentische der eigenen Kultur erhält, ohne es durch bloße Nachahmung zu entfremden.

Die Parole von Verfechtern der Modernisierungstheorie der 1950er Jahre, die die arabischen Länder vor die Wahl stellte zwischen „Mecca or Mechanization“[3], konnte daher nie verfangen. Der Optimismus dieser Theorie, dass die arabischen Eliten eine „Modernisierung von oben“ herbeiführen würden, welche wirtschaftliche Prosperität, Demokratie und Säkularisierung über die Region bringen könnte, ist längst verflogen. Stattdessen sicherten sich Jahrzehnte lang kleptokratische Diktaturen mit Gewalt ihre Herrschaft. Die Gegenparole der Islamisten „Der Islam ist die Lösung“, mit der sie eine radikale Auslegung des Korans einforderten, brachte jede Menge Chaos und Gewalt über die Region. Zur Überwindung der arabischen Krise trug sie nicht bei.

Für Jabri stellt nun die „arabische Moderne“ den Ausweg aus dieser Krise dar. Der Weg dorthin führt für ihn jedoch nur über die Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, nicht über die Nachahmung der westlichen Moderne: „Der arabischen Kultur und ihrer Geschichte gegenüber fremd, kann die europäische Moderne keinen Dialog etablieren, der eine Bewegung innerhalb dieser Kultur auszulösen vermag“[4]. Er entzieht sich damit dem Vorwurf, dass sein Modernisierungsprojekt auf eine Verwestlichung der islamischen Kultur hinauslaufe. Auch wenn Jabri die Vorstellung von einer universellen Moderne, die die ganze Welt umspannt, ablehnt, nennt er mit Rationalität und Demokratie zwei „universelle Praktiken“ als Wesensmerkmal jeder Moderne.

Vor allem die Rationalität wird bei Jabri zur entscheidenden Voraussetzung für eine arabische Moderne. Er argumentiert, dass die Araber ihren „eigenen Weg zur Moderne zwangsläufig auf Elemente eines kritischen Geistes stützen [müssen], um im Inneren [ihrer] Kultur eine Dynamik der Veränderung in Gang zu setzen“. Die Bereitschaft, der eigenen Tradition mit kritischem Denken zu begegnen, wird damit ausschlaggebend für die Möglichkeit, eine eigene Moderne hervorzubringen, während der Westen nicht länger als Vorbild dient. Der Rationalismus wird dabei gleichsam zur einzig „wirksamen Waffe“, um die irrationalen Strömungen im zeitgenössischen arabischen Denken, wie den islamischen Fundamentalismus, zu bekämpfen.

Dabei stellt sich für den Modernediskurs im Islam die zentrale Frage: Sind Rationalität und Islam überhaupt zwei miteinander zu vereinbarende Konzepte? Jabri kann dies bejahen, indem er historisch argumentiert und sich damit der eigenen arabisch-islamischen Tradition zuwendet. Mit Al-Kindi (796-873) und Al-Farabi (870-950), der vielfach als „Rousseau der Araber“ bezeichnet wurde, verweist er auf die Existenz zweier bedeutender rationalistischer Philosophen als Bestandteil der arabisch-islamischen Tradition. Die Lichtgestalt des arabischen Rationalismus ist für Jabri jedoch Averroes (1126-1198), der im Maghreb und Al-Andalus (heutiges Spanien) wirkte. Averroes vertrat, da er der Religion und der Philosophie jeweils eigene Geltungsbereiche einräumte, eine „radikal neue Auffassung vom Verhältnis Religion/Philosophie“.

Der Einfluss von Averroes reichte bis ins christliche Europa hinein. Indem er die Texte von Aristoteles kommentierte und ins Lateinische übersetzte, machte er dieses Denken den Scholastikern des Mittelalters zugänglich. Aristoteles, der zu dieser Zeit in Europa unbekannt war, hat sich auf diese Weise „durch die Hintertür“[5] nach Europa eingeschlichen, wie der Zivilisationstheoretiker Leslie Lipson schreibt. Auch andere haben auf diesen kulturellen Beitrag der islamischen Rationalisten zur Herausbildung der europäischen Moderne immer wieder hingewiesen.[6] Während jedoch in Europa über Renaissance, Reformation und Aufklärung die „Entzauberung der Welt“ (Weber) voranschritt, erlitten die Rationalisten des Islams eine bittere Niederlage.[7] Ihnen gelang es nicht, die Institutionen zu erobern; stattdessen wurden ihre Bücher von orthodoxen Strömungen verbrannt und gerieten in Vergessenheit.

Damit war die Niederlage der Vernunft im Islam, dass macht auch Jabri deutlich, historisch eine politische Niederlage, aus der sich jedoch keine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Rationalität und Islam ableitet. Um der Vernunft nun zum Sieg zu verhelfen, führt er die islamischen Rationalisten als Kronzeugen der Vereinbarkeit von islamischer Kultur und Vernunft als Voraussetzung einer arabischen Moderne an. Der Rationalismus ist damit für ihn authentischer Bestandteil der arabisch-islamischen Kultur und kein westliches Importprodukt.

Jabri wurde deshalb vorgeworfen, genau wie die Islamisten die Lösung für heutige Probleme in der Vergangenheit zu suchen.[8] Er ist jedoch nicht daran interessiert, die Philosophie der arabischen Rationalisten wiederzubeleben. Sie ist für ihn zum größten Teil „ein toter Stoff“[9]. Überleben könne dagegen von der Tradition allein, „was noch vermag auf einige unserer heutigen Fragen zu antworten“. Vor allem geht es Jabri um die kritische Haltung der mittelalterlichen Rationalisten, weniger um die Inhalte ihrer Philosophie. Der Rückgriff auf das Erbe der Rationalisten ist bei Jabri also einzig Mittel zum Zweck, nicht das eigentliche Ziel.[10] Insofern steckt in seiner Argumentation eine besondere strategische Klugheit: Er begibt sich bewusst auf die Eben der Islamisten, die ja ebenfalls mit der eigenen Tradition argumentieren, um sie auf diesem Feld mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Wie die arabische Moderne genau ausgestaltet werden soll, lässt Jabri offen. Ihm liegt zuvorderst daran, den Weg dorthin zu beschreiben. Die Stärke seines Ansatzes liegt ohne Zweifel darin, dass sich sein Plädoyer für die Vernunft aus der eigenen Tradition speist. Damit umgeht er die Fallstricke, die der islamisch-arabischen Modernediskurs bereithält. Er macht seinen arabischen Lesern zudem deutlich, dass sie sich nur selbst aus ihrer Krise befreien können. Der genaue Einfluss von Jabris Denken auf den arabischen Frühling kann an dieser Stelle zwar nicht exakt bestimmt werden. Genau diese Haltung aber, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, prägte jedoch den Geist der Revolutionen. Das „arabische Ich“ jedenfalls, das zu Vernunft und Kritik begabt ist, hatte Jabri schon lange vor 2011 beschworen.

Severin Caspari ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Im Deutschen liegt bisher nur eine Einführung, erschienen im Perlen-Verlag 2010, vor: Mohammed Abed Al-Jabri: Kritik der arabischen Vernunft, Naqd al-‚aql al-‚arabi, Die Einführung, Perlen-Verlag, Berlin 2009.

[2] Vgl. Hegasy, Sonja: Mohammed Abed al-Jabri: Pioneering Figure in a New Arab Enlightment, Qantara.de 06.05.2010, online einsehbar unter http://en.qantara.de/wcsite.php?wc_c=8325 [eingesehen am 06.10.2011].

[3] Lerner, Daniel: The Passing of Traditional Society. Modernizing the Middle East, London 1958, S. 405.

[4] Jabri, S. 57.

[5] Lipson, Leslie: The Ethical Crisis of Civilization. Moral Meltdown or Advance?, London 1993, S. 62.

[6] Vgl. Bloch, Ernst: Avicenna und die aristotelische Linke, Düsseldorf 1953, S. 5; Rodinson, Maxime: Die Faszination des Islam, München 1985, S. 32-33; Watt, W. Montgomery: Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, Berlin 1988, S. 48.

[7] Vgl. Tibi, Bassam: Islams Predicament with Modernity. Religious reform and cultural change, London 2009, S. 51 und S. 249.

[8] Vgl. Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie, Darmstadt 2004, S. 169.

[9] Jabri, S.. 219.

[10] Vgl. auch Kügelgen, S. 288.