Vom Überleben der Dinosaurier

Beitrag verfasst von: Robert Lorenz

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[kommentiert]: Robert Lorenz über die Bedeutung des Personalwandels an den Gewerkschaftsspitzen.

Fünf von acht DGB-Gewerkschaften haben in diesem Jahr ihre Spitze gewechselt. Als vorerst letzte Gewerkschaft wählte gestern die IG Metall Detlef Wetzel zu ihrem neuen Chef. Diese Personalie ist besonders aufschlussreich: Denn Wetzel personifiziert den Wandel der letzten Jahre, im Gewerkschaftslager gilt er als der Reformer schlechthin. Doch nur 75,5 Prozent der Delegierten gaben ihm ihre Stimme, sein künftiger Stellvertreter Jörg Hofmann, ebenfalls dem Eindruck nach kein Gewerkschafter im Stile des Betonkopf-Klischees, erhielt 77,7 Prozent – beide Werte sind für Gewerkschaftstage eigentlich klare Zeichen des Misstrauens. Dennoch zeugen sie von einem angemessenen Kurswechsel.

Denn hätten sich Wetzel und Hofmann in der gesamten IG Metall beliebt gemacht, wäre die Gewerkschaft vermutlich nicht da, wo sie heute ist. Heute – das heißt z.B. seit 2010 eine steigende Mitgliederzahl, nachdem sich die IG Metall seit den frühen 1990er Jahren in einem stetigen Schrumpfungsprozess befunden hatte. Außerdem wächst sie in Bereichen des Arbeitsmarkts, die noch vor kurzer Zeit eine Art unentdecktes Land waren, bspw. verzeichnet sie Zuwächse unter Leiharbeitern. Wetzel steht stellvertretend für eine Gruppe von Gewerkschaftsfunktionären, die den nötigen Wandel der traditionsreichen Großorganisationen nicht nur in Reden und Aufsätzen betont, sondern ihn auch in der Wirklichkeit eingeleitet haben. Ihr Bekenntnis zu Reformen war nicht bloß rhetorisch, sondern auch praktisch. Wetzel und seine Mitstreiter räumten der Rekrutierung und Betreuung von Mitgliedern, auch jenseits der überkommenen IG-Metall-Klientel in der Auto- und Stahlindustrie, höchste Priorität ein. Dass diese Mitgliederorientierung etwas Besonderes und eben nichts Selbstverständliches für die größte deutsche Einzelgewerkschaft sein soll, mag zunächst seltsam klingen. Doch im Grunde seit den 1980er Jahren hatte sich die IG Metall auf ihren Erfolgen aus der Ära des „Wirtschaftswunders“ ausgeruht – in einigen Branchen übte sie unangefochten großen Einfluss aus und verfügte dort über einen zufriedenstellenden Mitgliederbestand, wodurch sie sich ein gutes Vierteljahrhundert lang Nachlässigkeiten erlauben konnten. Diese bestanden vor allem darin, jenseits ihrer angestammten Wirkungsfelder keine neuen Mitgliederpotenziale zu erschließen. Als sich der Arbeitsmarkt in den 1990er und 2000er Jahren wandelte, lebte die IG Metall mental noch in den 1960er und 1970er Jahren.

Belegschaftsabbau und Werksschließungen begegneten die IG-Metall-Funktionäre mit Demonstrationen und Streiks. Auch die Kollegen anderer Gewerkschaften versuchten den Mitgliederschwund mit großangelegten Werbe- und Imagekampagnen zu stoppen. Doch am Ende waren all das doch nur die altbekannten Rezepte. Die wenigen Reformversuche glückten einfach nicht. Stattdessen wurden sie sogar zum Problem: Denn bei vielen Funktionären, insbesondere der Gewerkschaftseliten, schufen sie das trügerische Bewusstsein, am Ende angemessen gehandelt, rechtzeitig in eine problematische Situation eingegriffen, genügend Maßnahmen angeordnet, eben alles richtig gemacht zu haben. Die Wirkungslosigkeit ihrer Versuche schien an kapitalistischen „Heuschrecken“ und dem „shareholder“-Value-Denken zu liegen. So wurde die anfangs außergewöhnliche Krise, die sich im Rückgang der Mitgliederzahlen, einer Überalterung der Mitgliedschaft sowie überproportionalen Anteilen von Facharbeitern und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ausdrückte, allmählich zur Normalität – zum Alltag eines fast jeden deutschen Gewerkschafters. Man stumpfte ab, die jährlichen Verlustziffern sorgten nur noch für kleine Aufreger. Die Aufmerksamkeit für die bedrohliche Lage ging dabei verloren. Zugleich waren die Restbestände an Mitgliedern und die Reproduktionsraten in den fortexistierenden Gewerkschaften noch stets groß genug, um keine existenzielle Krisenstimmung aufkommen zu lassen.

All das entband in nahezu allen Gewerkschaften vom Zwang, die offenbar unzeitgemäßen Strukturen konsequent aufzubrechen und derart umzugestalten, dass damit der Anschluss an eine inzwischen demografisch gewandelte Gesellschaft möglich geworden wäre. Während die deutsche Bevölkerung immer gebildeter, postmaterieller und in sich vielfältiger wurde, blieben die Gewerkschaften in den 1960er Jahren stehen. Wie damals, rekrutierten sie auch in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren vornehmlich ihre Mitglieder in großen Stahlfabriken, Kohlegruben, Werften oder im öffentlichen Dienst. Und sie alterten mit ihren Mitgliedern, verloren an Anziehungskraft auf die nachrückenden Jahrgänge – die „Generation Golf“ suchte man in den Gewerkschaften größtenteils vergeblich. Auch blieben sie ausgesprochen maskulin, aus feministischer Perspektive ein rückständiger „Männerverein“. Das war ein enormes Problem. Denn kaum etwas ist für die Rekrutierung neuer Mitglieder so wichtig wie die persönliche Ansprache, der zwischenmenschliche Kontakt. Hierbei ist allerdings die Ähnlichkeit von Vokabular, Kleidung, Bildungsgrad – allgemein: die lebensweltliche Nähe – ausschlaggebend; und deshalb misslang es z.B. den gelernten Elektrikern, Schlossern und Werkzeugmachern der IG Metall in der Regel, Programmierer, Bürokaufleute oder Ingenieure, die in ihrem Zuständigkeitsbereich arbeiteten, für die Gewerkschaft zu gewinnen.

Irgendwann war dann jedoch der Zeitpunkt erreicht, an dem der Wandel unumgänglich wurde, nämlich als der immense Organisationsapparat mit dem geschrumpften Mitgliederbestand nicht mehr zu finanzieren war. Aber selbst in dieser Situation war die Beharrungskraft in vielen Teilen der IG Metall noch immer groß genug, um sich zwar mit Reformplänen zu tragen, diesen aber kaum Konsequenzen folgen zu lassen. Wetzel hingegen – Jahrgang 1952, gelernter Werkzeugmacher, nachgeholtes Studium in den 1970ern und seit 1980 hauptberuflicher Gewerkschafter – avancierte 1997 zum Leiter der IG Metall in seinem Heimatort Siegen, experimentierte dort mit neuen Rekrutierungsmethoden und schuf dort unter seinen Kollegen das Bewusstsein für den hohen Stellenwert von Mitgliedern und Wachstumsbranchen. Von 2004 bis 2007 leitete er dann den IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen, ehe er an der Seite des Vorsitzenden Berthold Huber als dessen Stellvertreter in die Frankfurter Zentrale umzog. Mit ihm zog gewissermaßen die neue Zeit, denn Wetzel – wie auch Huber – forcierte nun in der gesamten Gewerkschaft die Mitgliederorientierung.

Doch auch in anderen Gewerkschaften scheint sich etwas getan zu haben: Mit Marlies Tepe (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) und Michaela Rosenberger (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten) sind in diesem Jahr zwei Frauen an die Spitze ihrer Organisationen getreten – momentan die einzigen weiblichen Gewerkschaftsbosse – und die IG BAU wird seit Kurzem von Robert Feiger geführt, der als Parteiloser unter den Vorsitzenden ein Exot ist. Sicher: Das sind nur oberflächliche Veränderungen, deren Tragweite nicht überschätzt werden darf. Dennoch sind sie Symptome eines tiefgehenden Wandels der deutschen Gewerkschaften, die jünger, weiblicher, progressiver – insgesamt: zeitgemäßer werden. Sie haben neue Gebäude und Büros bezogen, nutzen Social Media und betreiben moderne Homepages. Längst hat sich auch ihr Öffentlichkeitsbild gewandelt: Vom einstmals fantasielosen „Kurs der Blockade“[1] haben sie in den Pressekommentaren mittlerweile den Weg zur „IG Vernunft“[2] beschritten. Und welcher Publikumsverlag wäre noch vor Kurzem schon ernsthaft auf die Idee gekommen, wie Hoffmann & Campe ein Buch über den Werdegang des damals Zweiten Vorsitzenden der IG Metall (Detlef Wetzel) zu veröffentlichen?

Der diesjährige Personalaustausch an den Gewerkschaftsspitzen, der sich im kommenden Jahr mit Michael Sommers Rückzug vom DGB-Vorsitz fortsetzen wird, zeugt davon, wie weit bereits der personelle Wandel auch in unteren und mittleren Ebenen fortgeschritten ist. Langsam strömt neues Personal in die Gewerkschaftssekretariate an der Basis und die Abteilungen in der Zentrale. Die Neuen sind eher in der Lage, über persönliche Ansprache und das nötige Problembewusstsein bislang gewerkschaftsferne Gruppen als Mitglieder zu gewinnen und auch zu binden. Immer mehr Funktionäre gewähren den Mitgliedern, stärker als früher, Freiräume in der Gestaltung von Protestaktionen, aber auch in der Formulierung von Forderungen an die Betriebsleitungen, indem sie nicht dominant auftreten, sondern die Betroffenen mit Materialien und Sachverstand unterstützen. Dadurch reißen sich die Beschäftigten innerhalb der Betriebe zwar nicht um Aufnahmeanträge, empfinden die Gewerkschafter aber zumindest weitaus weniger als früher indoktrinierend, bevormundend und vermeintlich überlegenes Wissen vorgebend. Auch das lange Zeit angespannte Verhältnis zu Betriebsräten hat sich beträchtlich verbessert – beide Seiten betrachten sich nicht mehr als Konkurrenten, sondern treffen klare Absprachen und haben sich auf einen Austausch von Beratung gegen Mitgliederwerbung geeinigt. So verlangt bspw. die IG Metall für juristischen und betriebswirtschaftlichen Beistand im Gegenzug unterschriebene Mitgliedsanträge. Sie lässt sich nicht mehr ohne Gegenleistung konsultieren, wenn im betreffenden Betrieb die Mitgliederzahl niedrig ist. Ihre Stärke liegt in der Zurückhaltung – gegenüber Arbeitnehmern und Betriebsräten gleichermaßen. Kurzum: Die Zeit bierseliger Runden im holzvertäfelten Hinterzimmer einer verrauchten Kneipe scheint in den Gewerkschaften zu Ende zu gehen. Und damit wohl auch die in den 1980er und 90er Jahren beliebte Metapher von den Gewerkschaften als aussterbenden Dinosauriern. Die Entwicklung ihrer Mitgliedschaft spricht jedenfalls dafür, dass sie damit doch noch den Weg ins 21. Jahrhundert beschritten haben.

Dr. Robert Lorenz arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Kürzlich erschien von ihm das Buch „Gewerkschaftsdämmerung. Geschichte und Perspektiven deutscher Gewerkschaften“.


[1] Schiltz, Christoph B.: Die Gewerkschaften müssen endlich aufwachen!, in: Die Welt, 23.05.2003.

[2]  Borstel, Stefan v./Wisdorff, Flora: IG Vernunft, in: Die Welt, 08.11.2007.

Foto: © Fabio Sommaruga/ PIXELIO