Symbiose zwischen Geist und Macht?

[analysiert]: Franz Walter über Willy Brandt und die bundesdeutschen Intellektuellen

Das Gros der Schriftsteller wie Dichter, das den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte und nach 1945/49 im Westen Deutschlands zu Hause war, hielt sich anfangs von aktiver Parteipolitik sorgfältig fern. Politische Ideologien hatten, im Gegensatz zu den weltanschaulich überhitzten Weimarer Jahren, kein Renommee mehr bei den Mandarins der frühen bundesdeutschen Gesellschaft. Anfang der 1960er Jahre jedoch mehrte sich unter ihnen der Unmut über die Kanzlerschaft des Alten aus Rhöndorf, häuften sich die kritischen Intellektuellen-Pamphlete über dessen „restaurative Politik“. Und aus dem demonstrativen Abstand zur rheinisch-katholisch dominierten Staatspartei ergab sich sukzessive eine größere Nähe zu den bis dahin politisch notorisch Unterlegenen, zu den Sozialdemokraten mithin.

Der Mann, der diese Annäherung stärker als jeder andere betrieb, war der Dichter der „Blechtrommel“, Günter Grass. Seit Mitte der 1960er Jahre rief der frühere Danziger bei Bundestagswahlen in verlässlicher Regelmäßigkeit zum Votum für die SPD auf. Er wurde zu einem nimmermüden Wahlkämpfer, reiste über Wochen landauf, landab, um für die Partei seiner ebenso intimen wie schwierigen Zuneigung die Trommel zu schlagen. Auf seinen Einfall ging auch die in der bundesdeutschen Geschichte erste Wahlhelfergruppe von Literaten für eine politische Partei zurück: das „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“. Ausgedacht hatte Grass diese Idee mit dem Patron der „Gruppe 47“, Hans Werner Richter, und dem jungen Berliner Verleger Klaus Wagenbach. Ein Kreis von professionellen Schreibern, darunter Nicolas Born, Peter Härtling, Hubert Fichte, Hermann Peter Piwitt, Günter Herburger, Hans Christoph Buch und Peter Schneider, sollte den Funktionärsjargon und die Propagandafloskeln aus der Wähleransprache der SPD tilgen und für neuen stilistischen Esprit sorgen.

Natürlich, die wahlkämpfenden Sozialdemokraten nahmen keineswegs alles mit uneingeschränkter Begeisterung, was ihnen die Kreativabteilung des Schriftstellerkontors in den frühen Morgenstunden anbot. „Der Frau treu bleiben, die Partei wechseln: SPD“ – zu diesem munteren Motto etwa fehlten den anspaßungsbeflissenen Sozialdemokraten des Jahres 1965 die Courage. Man wollte schließlich partout keine bürgerlichen Wähler verschrecken; man wollte vielmehr um alles in der Welt die Pose staatsmännischer Seriosität einnehmen. So landeten etliche Schlagzeilenentwürfe der Kontoristen in den Schubläden der von Herbert Wehner – kein Freund von freien Geistern – scharf kontrollierten Parteizentrale.

Der erstrebte Machtwechsel blieb 1965 bekanntlich noch aus. Als die Sozialdemokraten dann im Jahr darauf nach dem Rückzug der Freien Demokraten aus der Regierungsverantwortung in die Große Koalition mit den alten Feinden von der CDU/CSU hineinsprangen, reagierten die schriftstellerischen Unterstützer empört und zornig. Man resolutionierte und telegraphierte wütende Protestmanifeste, ohne dass dies die Architekten des neuen Bündnisses berührte. Die meisten Aktivisten aus dem Kontor rührten danach keinen Finger mehr für die SPD. Grass – ebenfalls alles andere als ein Claqueur des Kabinetts Kiesinger/Brandt – bildete auch hier (fast) eine Ausnahme.

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Schon 1968 begann er abermals damit, für den Bundestagswahlkampf 1969 Bündnisgenossen in der intellektuellen Szene zu sammeln. In seinem Haus, in Berlin-Friedenau, kamen der Publizist Günter Gaus, der Historiker Eberhard Jäckel, die beiden Politologen und Zeitgeschichtler Kurt Sontheimer und Arnulf Baring zusammen, um eine sozialdemokratische Wählerinitiative aus der Taufe zu heben. Doch schien es sich dabei um ein totgeborenes Kind zu handeln. Intellektuelle Promis wie Peter Weiss, Martin Walser und Heinrich Böll, von Grass um Mitwirkung gebeten, erteilten den sozialdemokratischen Wahlhelfern eine kühle Abfuhr. Insgesamt war die Reputation von Grass in linksintellektuellen Kreisen Ende der 1960er Jahre nicht durchweg glänzend. Grass lag in dieser Zeit in polemischer Fehde mit den studentenbewegten Rebellen der Republik, die er rüde als „Faschisten im Marxpelz“ qualifizierte. Infolgedessen stand der Blechtrommler daher bei all denen, die sich damals revolutionär kostümierten, im Ruf des verdammenswerten sozialdemokratischen Konterrevolutionärs.

Aber man darf die Zahl der SDSler, maoistischer Parteigründer, Marcusisten, Leninisten und Bakunisten eben auch im Nachhinein nicht überschätzen. Das neue urbane Bildungsbürgertum war vielmehr lediglich modisch linksliberal, rümpfte ein wenig blasiert die Nase über die Konservativen und schwärmte für Willy Brandt. Und in diesem linkslibertär-akademischen Umfeld gehörte es, zwischen 1969 und 1972, zum guten Ton, sich parteipolitisch demonstrativ zu bekennen – durch Mitgliedschaften in Wählerinitiativen, durch Plaketten, Buttons, Zeitungsinserate, Aufkleber et cetera, et cetera. Wie Pilze in feucht-warmen Spätsommernächten schossen die sozialdemokratischen Kultur- und Intellektuelleninitiativen überall in der Bundesrepublik aus dem Boden. Es war gleichsam der politische Frühling der Intellektuellen, eine Zeit der Gärung, des Aufbruchs, des Enthusiasmus. Nie fühlten sie sich politisch so sehr im Recht wie damals, als Willy Brandt, der Emigrant und aktive Gegner Hitlers, Kanzler wurde. Nie hatten sie so wenig Zweifel an der Richtigkeit ihres politischen Credos und Engagements wie in den Monaten, als Egon Bahr nach Moskau und Willy Brandt nach Erfurt fuhr, als die Unionsparteien und die Springerpresse, als Vertriebenenverbände und dubiose Unternehmerzusammenschlüsse die neue Regierung aus dem Amt zu katapultieren versuchten. Nie wieder waren sie so fest davon überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen, bei den politischen Kräften der Entspannung, Völkerverständigung und Abrüstung, der Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität. Kurz: Nie wieder rückten parteipolitisch im Prinzip nicht gebundene Intellektuelle so nahe – und in so großer Zahl – an eine politische Partei heran wie zwischen 1969 und 1972 an die SPD. Von einer Symbiose zwischen Geist und Macht sprach man schon in jener Pfingstzeit des frühen Sozialliberalismus.

Vor allem Günter Grass hätte Geist und Macht gern stärker verklammert gesehen, präziser: er wäre gern zum essentiellen Berater des Bundeskanzler Brandt geworden. Aber das gelang ihm nicht. Im Kanzleramt wurde Grass zu seinem Leidwesen nur ab und an nach schwierigen terminlichen Vereinbarungen zu einstündigen Gesprächskontakten beim Kanzler vorgelassen. Dabei war Grass, waren Intellektuelle in der Tat wichtig für die Aura der Ära Brandt, für das Flair des Kanzlers selbst, für den Kult, der um ihn, noch Jahre nach seinem Abtritt, herrschte. Was von dieser Regierungszeit neben der Ostpolitik übrig blieb, waren gewissermaßen intellektuelle Ansprüche, Botschaften und Zukunftsversprechen. Einige Jahrgänge sind nachhaltig geprägt worden durch die Leitmaxime „Mehr Demokratie wagen“, das Zentralmotiv in der Regierungserklärung Brandts von 1969. Aber der eigentliche Erfinder und Urheber dieser politischen Ankündigung war doch Günter Grass. Brandt hatte sich dessen Formulierungskunst und Inspirationskraft bedient, hatte damit einen epocheprägenden Begriff für sich und seinen politischen Stil borgen und verwenden können. Brandt war darin empfindsamer als beispielsweise Herbert Wehner, dem die Metaphorik der Intellektuellen nichts sagte, der das als exaltierte Spinnerei abtat, der also nicht sah, wie sich durch den Diskurs der Intellektuellen das geistige Klima verändern, die kulturellen Unterströmungen verschieben, mithin also auch die Voraussetzungen des Politischen neu ordnen konnten. Brandt hatte dafür einen scharfen Blick. Insofern bedeutete ihm der Umgang mit den Denkern und Dichtern viel.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Er gibt die „INDES. Zeitschrft für Politik und Gesellschaft“ heraus, die sich in ihrer ersten Ausgabe mit Intellektuellen beschäftigt.