Schimpfwort Politiker

[analysiert]: Bastian Brandau über die schwierige Aufgabe der neuen italienischen Regierung.

Vor allem die runde Brille bleibt in Erinnerung, sie sticht hervor am kurzrasierten Schädel von Enrico Letta – dem Mann, den noch vor kurzem außerhalb Italiens keiner kannte, der es aber nun richten soll. Seit Ende April ist Letta Ministerpräsident, ganze zwei Monate dauerte die Regierungsbildung. Letta ist nun Anführer dessen, was man in Deutschland als Große Koalition bezeichnen würde. Im Italienischen ist die Rede von „larghe intese“, breiten Bündnissen; Gegner sprechen von „inciuci“, von Mauscheleien. Die neue Konstellation war die wohl letzte Möglichkeit, eine Equipe zu finden, die eine Mehrheit im Parlament auf sich vereinen kann.

Zum breiten Bündnis der Kompromisse gehört auch, dass in der Regierung keine politischen Schwergewichte der beiden großen Parteien PD (der Letta angehört) und PdL (die Partei Berlusconis) sitzen. Denn deren Ansehen in der italienischen Bevölkerung ist etwa so groß wie der Wunsch nach Regen im August. Die miserable wirtschaftliche Lage tut da ihr Übriges, Politiker ist fast ein Schimpfwort in Italien, die Verachtung für die „Casta“ [1] groß. Verbreiteten Ansichten zufolge verdienen Politiker zu viel, sind nur an ihrem eigenen Wohl interessiert, faul und darüber hinaus korrupt.

Zum Beispiel der Senator Sergio De Gregorio: Er gab im Februar zu, drei Millionen Euro von Silvio Berlusconi angenommen zu haben. De Gregorios Stimme fehlte Ministerpräsident Romano Prodi 2008 bei einer Vertrauensfrage im Parlament, seine Regierung stürzte, es kam zu Neuwahlen. Mit einer klaren Mehrheit für Berlusconis Partei PdL.

Korruption ist aber nur ein Aspekt der politischen Krise, in der sich Italien seit Jahrzehnten befindet. Auch wenn sich die PdL in dieser Hinsicht besonders hervortut, kann keine etablierte Partei behaupten, sich von diesem Gesamtbild abzusetzen. Episoden wie die des bestechlichen Senators verdeutlichen, warum sich die Vertrauenswerte für Politiker seit Jahren im Sinkflug befinden, warum von den größeren Parteien Italiens kaum eine dieses Wort als Eigenbezeichnung verwendet: [2] Allein dem Präsidenten der Republik, Giorgio Napolitano, vertrauen die Italiener, keineswegs den Politikern im Allgemeinen. Der Lohn für Beliebtheit und Verdienste Napolitanos: Er bekam eine zweite Amtszeit gegen seinen erklärten Willen. Auf einen konsensfähigen Nachfolger konnten sich die Parteien nicht einigen – und wählten den 87-Jährigen für weitere sieben Jahre. Erneuerung stellt man sich irgendwie anders vor.

Parteien in der Krise, politische Kultur in der Krise – all das erlebte Italien schon zu Beginn der 1990er Jahre. Innerhalb weniger Monate zerlegten sich seinerzeit die beiden prägenden Parteien Nachkriegsitaliens. Während sich die Kommunistische Partei nach der politischen Wende der Jahre 1989/90 nicht neu erfinden konnte, zerbrachen die Christdemokraten und ihre langjährigen Regierungspartner in den 1980er Jahren, die Sozialisten, an einem von ihnen aufgebauten Netz aus Günstlingswirtschaft, Korruption und Mafia-Verbindungen.

Einen Neuanfang versprach 1994 der Quereinsteiger Silvio Berlusconi. Der Unternehmer prägte das System der sogenannten Zweiten Republik: durch seine Öffnung für die Rechtspopulisten von der Lega Nord und die Postfaschisten der Alleanza Nazionale (AN), durch seine Medienherrschaft über Fernsehkanäle [3] und Zeitungen. Dieses System kennt nach wie vor keine gesetzlich vorgeschriebene innerparteiliche Demokratie. Das hat Auswirkungen vor allem auf der rechten Seite des politischen Spektrums: Silvio Berlusconi, der für sich selbst immer angeben würde, als Reaktion auf die politische Krise in die Politik gegangen zu sein, führt seine Partei wie einen Betrieb. Er versprach stets viel, um wenig zu halten. Darüber hinaus profitierte er immer wieder von der Schwäche seiner politischen Gegner. Womit wir bei einer weiteren Konstante der Krise der politischen Kultur Italiens wären: Praktisch alle Reformversuche von links wie rechts schlugen bislang fehl, Ergebnis aller „Bemühungen“ seit 1994 ist ein noch unglücklicheres System aus Korruption, politischer Immobilität und Klientelismus [4] – an dem die etablierten Politiker aber keinen Schaden nehmen.

Das gilt besonders für Silvio Berlusconi, der einen persönlichen Anteil an den miserablen Zustimmungswerten für Parteien und Politiker hat. Berlusconi machte vor, wie man Politik vor allem zu seinen persönlichen Gunsten betreibt, inklusive Privatfehde gegen Fiskus und Justiz. Mit seiner Unverfrorenheit und der öffentlichen Nichtachtung politischer Institutionen hat er für die Politik Italiens einen Stil geprägt, der für die aktuelle Krise der politischen Kultur mitentscheidend sein dürfte. [5] Die sorgt dafür, dass sich die Bürgerinnen und Bürger Italiens massenhaft von der Politik abwenden. Nur noch 75 Prozent der Wahlberechtigten stimmten im Februar ab: Negativrekord. An eine Verbesserung der Lage fehlt vielen Italienern momentan der Glaube.

Als Ausdruck und Profiteur der mit der Krise der Politischen Kultur einhergehenden Politikverdrossenheit hat sich in den vergangenen Jahren das Movimento 5 Stelle [6] in Position gebracht. Diese Gruppierung, insbesondere ihr charismatischer Anführer Beppe Grillo, legte den Finger in die offensichtlichen Wunden des politischen Systems und prangerte Missstände offen an. Alle etablierten Parteien sind für sie gleich – und das bedeutet gleich schlecht. Das Movimento predigt Verzicht, Nüchternheit und Sachlichkeit, seine Abgeordneten verzichten auf große Teile ihres Gehaltes und verstehen sich als Verwalter. Sie wollen lediglich zwei Legislaturperioden ihre Mandate ausüben, im Gegensatz zum sprichwörtlichen Berufspolitiker. Bei den Parlamentswahlen holten sie gut 25 Prozent und wurden stärkste Partei. Auch aufgrund der eigenen Verweigerungshaltung ist das Movimento jedoch nicht in der Regierung vertreten, in der Opposition gegen die Regierung Letta wird es seine dauerhafte Rolle finden müssen. Erste Auswirkungen: Die neuen Präsidenten der Parlamentskammern verzichten auf dreißig Prozent des ihnen zustehenden Gehalts. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass durch solche Maßnahmen allein das Vertrauen in die Politik zurückgewonnen werden kann.

Bastian Brandau ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Vor kurzem erschien sein Buch „Fünf Sterne gegen Berlusconi„.


[1] Der Begriff Kaste für die politische Elite wurde 2007 von Gian Antonio Stella und Sergio Rizzo geprägt. In ihrem Buch „La casta. Cosí i politici italiani sono diventati intoccabili“ beschreiben sie die Privilegien und Verschwendungssucht italienischer Politiker.

[2] Allein der Partito Democratico (Demokratische Partei) PD bezeichnet sich als Partei, alle anderen Parteien ziehen Bezeichnungen wie Bewegung, Volk vor oder benennen sich schlicht nach ihrem politischen Anführer.

[3] Zur Bedeutung des Fernsehens als „Transmissionsmechanismus der modernen Kultur“ und „äußerst gefährliches Werkzeug“ vgl. Ginsborg, Paul: Italien retten. Dt. Erstausg. Wagenbach. Berlin 2011, S. 16.

[4] Vgl. Ginsborg, Paul: Italien retten. Dt. Erstausg. Wagenbach. Berlin 2011, 2011, S. 18 oder Woller, Hans: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. München, Beck, 2010, S. 403f. Zur genaueren Definition von Klientelismus und seiner Rolle in Italien vgl. Ginsborg: Italien retten, S. 90-95.

[5] Siehe auch: Bastian Brandau: Der Berlusconi in mir, http://www.demokratie-goettingen.de/blog/der-berlusconi-in-mir (09.12. 2011).

[6] Vgl. zum Movimento 5 Stelle: Brandau, Bastian: Fünf Sterne gegen Berlusconi. Das Movimento 5 Stelle und sein Weg in die italienische Politik. Göttinger Junge Forschung, Bd. 14. Ibidem Verlag, Stuttgart 2013.