[analysiert]: Daniela Kallinich über die „droitisation“ der französischen Gesellschaft.
Auch im Frankreich des Jahres 2013 bewährt sich einmal mehr eine alte politikwissenschaftliche Beobachtung: Die Vertreter einer Geistesströmung oder eines politischen Lagers kommen erst dann an die Macht, wenn ihr gesellschaftlicher Einfluss eigentlich schon wieder im Abnehmen begriffen ist. Die Wahl an die nationale Spitze ist dabei Kulminations- und Wendepunkt zugleich. Denn dann, wenn sich gesellschaftliche Diskurse verändern, schnuppern die Vertreter des anderen Lagers aller politischen Gewohnheit nach wieder Morgenluft.
Genau dieses Phänomen ist gerade in Frankreich zu beobachten: Nach jahrelanger konservativer Dominanz besetzt das linke Lager auf verschiedenen politischen Ebenen die wichtigsten Positionen. Zuletzt fiel sogar die alte konservative Trutzburg, der Senat, vor den Präsidentschaftswahlen an eine linke Mehrheit. Nach der Wahl des Sozialisten François Hollande zum Präsidenten, so lässt sich anhand aktueller Umfragewerte vermuten, wird der Einfluss der Linken nun allerdings wieder langsam einbrechen. Kommunale Vertreter werden für die Regierungspolitik abgestraft werden, die Kräfteverhältnisse im Land dürften sich immer weiter nach rechts verschieben.
Doch stellt sich die Frage, ob die derzeitigen Demonstrationen, Umfrageergebnisse und Medienechos lediglich Ausdruck einer üblichen konjunkturellen Schwankung sind. Oder sind, verdeckt und kaschiert durch die traditionellen Lagerkämpfe, nicht Veränderungen im Gange, die tiefer an die gesellschaftliche und politische Substanz und an das Selbstverständnis des Landes rühren. Und genau darüber wird in Frankreich nun lebhaft diskutiert: Verschiebt sich das politische Gleichgewicht wie gewohnt periodisch oder bahnt sich vielmehr eine Konterrevolution zum Mai 1968 an, als die Studenten auf die Barrikaden gingen und der Modernisierung der Gesellschaft auf die Sprünge geholfen wurde? Gibt es also einen „mai 68 à l’envers“, eine wahre Restauration konservativen Denkens? Als Indiz hierfür dienen manchem Beobachter die „Demonstrationen für alle“ („manifs pour tous“), die sich gegen die mittlerweile gesetzlich verankerte Homo-Ehe richten.
Zweifellos prallen in Frankreich derzeit unterschiedliche gesellschaftliche Lager heftig aufeinander, die angesichts der wirtschaftlichen und moralischen Krise ihre Stärke neu auszuhandeln suchen. Allerdings formieren sich diese jenseits der klassischen politischen Gruppen, da der linken gesellschaftlichen Liberalisierungspolitik nun einerseits „das katholische Frankreich“, und andererseits die Globalisierungsverlierer gegenüberstehen, denen gemeinsam ist, dass die Reformen für sie eine der wenigen verbliebenen Fixpunkte, die Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kindern, in Frage stellen. Beiden Gruppen ist das Bewahren gesellschaftlicher Errungenschaften in Krisenzeiten wichtig.
Zu bedenken ist allerdings, ob es sich beim Thema Gleichstellung nicht vielmehr um eine Stellvertreterdebatte handelt, wonach sich all diejenigen, die von Hollande und seiner Politik enttäuscht und von der Krise betroffen oder zumindest verängstigt sind, das potenzielle Aufreger-Thema „Homo-Ehe“ gewählt haben, um damit letztlich ihre Unzufriedenheit mit der „Gesamtsituation“ Frankreichs und mit der Regierung insbesondere zu artikulieren.
Das Erbe von „1968“ wird zwar nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung als problematisch angesehen,[1] gleichzeitig wächst aber die Zahl derer, die mit den Auswirkungen von Globalisierung und Modernisierung unzufrieden sind. Dies zeigt sich auch jenseits der „manifs pour tous“: Die Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrages, stetig steigende Wahlergebnisse für den Front National sowie eine Umfragen[2] zufolge kritische Einschätzung des Islam im Besonderen und von Ausländern im Allgemeinen sind nur einige weitere Aspekte, die zeigen, dass die französischen Bürger mit den Konsequenzen der gesellschaftlichen Veränderungen ringen und zumindest ein Teil von ihnen eine verteidigende Haltung einnimmt.
Somit kann man im Jahr 2013 wohl kaum von der gleichen Entwicklung sprechen wie 1981. Damals verkündete der erste sozialistische Präsident der V. Republik, François Mitterrand: „La majorité politique rejoignait la majorite sociologique“[3] (die politische Mehrheit hat endlich die soziologische Mehrheit erreicht). Heute sieht das gänzlich anders aus, scheint sich das linke Lager doch in einer Art intellektueller wie auch politischer Schockstarre zu befinden. Befürworter der Homo-Ehe (Umfragen zufolge sind 53 Prozent für die Homo-Ehe[4]) und Verteidiger der linken Regierungen dringen jedenfalls gegen den lauten, medial verstärkten Widerstand kaum mehr durch.
In der Tat ist derzeit unklar, ob die links-liberale Politik Hollandes überhaupt über eine gesellschaftliche Mehrheit verfügt.[5] Schließlich hatten gerade viele der Globalisierungsverlierer ihre Stimme im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2012 einem der beiden extremen Kandidaten gegeben und sich dann – wenn nicht komplett – im zweiten Wahlgang enthalten. Auch, und das zeigen die Umfragen, gibt es kaum noch Franzosen, die Hollande und seiner linken Regierung zutrauen, Frankreich aus der Krise zu führen.
Dies hat nicht nur zur Folge, dass die aktuelle linke Regierung fast schon anachronistisch wirkt, sondern auch, dass es einerseits zur Radikalisierung konservativer Bewegungen, einer „droitisation“, und andererseits zu einer Debatte über die scheinbare Banalisierung des als rechtsextrem eingestuften Front National kommt. Noch vor wenigen Jahren galt die Rechtsaußenpartei als der Teufel des Parteiensystems. Im Zuge der Wirtschaftskrise, vieler kleinerer und größerer Skandale sowie der oben dargestellten Entwicklungen spricht auch die französische Politikwissenschaft nun nicht mehr bloß von einer banalisation der Partei und ihres Gedankengutes; erste Analysten gehen sogar so weit, die Partei als „installiert“[6] zu bezeichnen.
Dabei profitiert die Parteichefin Marine Le Pen nicht nur von ihrer Strategie der dédiabolisation, also der „Entteufelung“ ihrer Partei, sondern besonders von der Tendenz, dass an die Stelle „harter“ politischer Streitfragen „weiche“ Diskurse über gesellschaftliche Probleme getreten sind. Der vergangene Wahlkampf mit dem Rechtsruck des konservativen UMP hat sein Übriges dazu beigetragen, die Parolen des Front National zum Mainstream werden zu lassen. So vermag die eigentlich radikale Partei mit ihrer Mischung aus konservativem Familienbild und „Ethnosozialismus“ inzwischen viele abgehängte und/oder verärgerte Franzosen für sich zu gewinnen.
Vor harten wirtschaftlichen und sozialen Reformen schreckte die linke Regierung bislang zurück und sucht auch in Zukunft ihr Heil bei gesellschaftlichen Themen. So plant sie in Kürze etwa eine Ausweitung des Wahlrechts für Ausländer. Doch nicht nur aus elektoraler Sicht könnte sich Hollandes Versäumnis, notwendige Strukturreformen auf den Weg zu bringen, als Eigentor erweisen. Denn je länger die Handlungsfähigkeit der Regierung und des Staates überhaupt in Zweifel steht, desto mehr droht auch die Stabilität Frankreichs Schiffbruch zu erleiden. Dabei ist gerade die Staatsgläubigkeit seiner Bürger für Frankreich ein typisches Strukturmerkmal. Und daher überrascht es kaum, dass dieses durch die Wirtschaftskrise noch gesteigerte Gefühl, dass der Staat nicht mehr in der Lage ist, die entscheidenden Probleme zu lösen,[7] zu einer Verschärfung der Krise der politischen Kultur und damit auch zu einer radikalen Infragestellung der gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte führt.
Daniela Kallinich ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Einer Studie zu Folge halten 74 % der Franzosen den Einfluss des „Mai 68“ für positiv. Vgl. Le Nouvel Observateur/CSA: Que reste-il de Mai 1968 ?, März 2008, online einsehbar unter http://tempsreel.nouvelobs.com/file/490906.pdf [eingesehen am 27.05.2013], S. 20.
[2] Zur Stimmung in Frankreich vgl. Ipsos/CGI Business, France 2013 les nouvelles fractures, Januar 2013, online einsehbar unter http://www.ipsos.fr/ipsos-public-affairs/actualites/2013-01-24-france-2013-nouvelles-fractures [eingesehen am 05.02.2013]; TNS Sofres, Le Barométre politique, Figaro Magazine, Dezember 2012, online einsehbar unter http://www.tns-sofres.com/points-de-vue/3864184A605A482880121A72ED3ED321.aspx [eingesehen am 05.02.2013]; Cevipof, Baromètre de la confiance politique, Vague 4, Dezember 2012, online einsehbar unter http://www.cevipof.com/fr/le-barometre-de-la-confiance-politique-du-cevipof/les-resultats-vague-4-janvier-2013/ [eingesehen am 05.02.2013].
[3] Zit. Nach Michel Bassi/Georges de La Loyère: Le Centre des trahisons. L’UDF de Giscard à Bayrou, Paris 2007, S. 6.
[4] Le Journal de Dimanche/Ifop: Les Français et l’avenir de la loi sur le mariage et l’adoption pour les couples de même sexe, Mai 2003, online einsehbar unter http://www.ifop.fr/media/poll/2245-1-study_file.pdf [eingesehen am 27.05.2013].
[5] Einer Ifop-Umfrage aus dem Oktober 2012 zu Folge bezeichnen sich 33 % der Franzosen als links oder als sehr links und 26 % als rechts oder sehr rechts, 13 % sehen sich selbst im Zentrum, 28 % als weder-noch. Online einsehbar unter http://ifop.fr/media/poll/2023-1-study_file.pdf [eingesehen am 05.06.2013]..
[6] So Dominique Reynier im Interview mit Eric Mandonnet: „Pas de banalisation, mais un installation“, in: L’Express, 24.4.2013, S. 60.
[7] Vgl. Alain Mergier: Un contrat social rompu, in: Jérôme Fourquet u.a. (Hrsg.): Le grand malaise. Enquête sur les classes moyennes, online einsehbar unter http://www.ifop.fr/media/pressdocument/578-1-document_file.pdf, [eingesehen am 27.05.2013], S. 56 ff.