Rausch und Rationalität

[präsentiert]: Die neue Ausgabe der INDES widmet sich einem faszinierenden Gegensatzpaar.

Gerade, vor einer knappen Woche, am Abend der Bundestagswahl waren sie wieder zu beobachten: die vielfältigen Rauschzustände des Politischen. Als da wäre zum einen die fieberhafte Erregung des Wettstreites, die Ekstase von Erfolg und Niederlage gleichermaßen. Freudentrunkene Gesichter auf christdemokratischen Wahlpartys quer durch die Republik hier, um Fassung ringendes, ungläubiges, taumelndes Entsetzen bei den Liberalen dort. Doch ein Wahlabend ist mehr, er ist auch ein Rausch der Zahlen und Prozente, der Balken und Tortendiagramme. Und natürlich gibt es auch den ganz unmittelbaren Rausch des Bierdunstes und der Weinseligkeit.

Die Emotionen und Gefühlsaufwallungen erklären sich aus der Bedeutung des Wahlvorganges: Es geht um die Macht im Land. Darum, wer in den kommenden Jahren das Land regiert und repräsentiert. Es geht um Einfluss, Geld und Arbeitsplätze, um Prestigegewinne, Karrieresprünge und Jobverluste. Die Faszination des Abends speist sich aus eben dieser Bedeutsamkeit, sie begründet die Leidenschaft, die Begeisterung, ja Berauschtheit der Akteure und Beobachter. Sie übertüncht sogar die mathematische Kühle und rechenhafte Exaktheit und amalgamiert den denkbar nüchternen Vorgang von Addition und Prozentrechnung mit Emotionen.

Nun wird in dieser INDES keine Vor- oder Nachwahlbetrachtung betrieben, es finden sich auch keine Wählerwanderungsanalysen oder parteiprogrammatischen Auswertungen. Das alles hat seinen Platz in der aktuellen Tages- und Wochenpresse, wird sich natürlich auch, mit einigem zeitlichen Abstand, in Fachzeitschriften niederschlagen. Gänzlich ignoriert wird das Wahlereignis natürlich nicht – nur mit einem Weitwinkel betrachtet: Die Beitrage in den „Perspektiven“ untersuchen allesamt die Lage der Demokratie: Franz Walter, Danny Michelsen und Ingolfur Blühdorn entwickeln darin zumeist skeptische Perspektiven und mithin eine angesichts rauschender Wahlabende kritische Bestandsaufnahme.

Doch nicht nur in Wahlnächten, auch in der Politik im Allgemeinen, in der Freundschaft, beim Essen oder in der Musik, ob im Krieg, im Glauben oder bei der Arbeit und in der Freizeit – rauschhafte Erlebnisse haben schon immer Personen geprägt und Gesellschaften mitgeformt. Im Kleinen wie im Großen: Sie können der Treibstoff einzigartiger Leistungen sein, jedoch auch in wahnhafte Übersteigerungen führen. Die Rationalität, das vernünftige Handeln, erscheint dagegen als weit weniger risikobehaftet. Allerdings, natürlich, meist auch kühler, berechnender, öder. Im Schwerpunkt widmet sich INDES diesem (vermeintlichen) Gegensatzpaar: Rausch & Rationalität. In diesem Heft fragen wir: Wie viel Rausch tut gut? Und umgekehrt: Wie viel Vernunft ist „richtig“? Gibt es gar so etwas wie den berechneten Rausch und die rauschhafte Ratio? Welche „Rationalität“ ist überhaupt gemeint? Wann ist z.B. vermeintlich unvernünftiges Verhalten doch rational (weil man einen bestimmten Zweck verfolgt), inwiefern kann man auch scheinbar irrationales Handeln mindestens wertrational rechtfertigen? Mit der „Vernunft“ ist es immer heikel – was ist schon vernünftig? Kann nicht auch der Überschwang „vernünftig“ sein, wenn er z.B. den positiven Effekt des Spannungsabbaus hat? Dieser Gedankengang lässt sich immer weiterspinnen. Oder ist der „Rausch“ per se zweckungebunden? Wer sich diesen Fragen stellt, dem wird – wie so oft bei komplexen Beschäftigungen – rasch klar: Einfache Antworten gibt es nicht. Die Auseinandersetzungen sind stets ambivalent. Ein Sowohl-als-auch durchzieht die Beitrage der vorliegenden INDES – macht sie aus diesem Grund interessant.

Robert Feustel weist einleitend darauf hin, Rausch und Rationalität nicht an unterschiedlichen Ufern zu suchen – eine Erkenntnis, die sich auf das Feld der „praktischen Politik“ übertragen lasst. So erläutern Robert Lorenz und Matthias Micus in ihrem Beitrag über ehemalige und derzeitige Politiker-Kohorten, wie aus Pathos Sachlichkeit wurde. Vincenz Leuschner fragt, ob Vertrauen und Freundschaft in der Politik vernünftig seien. Lars Geiges zeigt, dass Essen und Trinken – Verzicht und Völlerei – gleichermaßen Kraftquellen der Mächtigen darstellen können. Und Teresa Nentwig führt am Beispiel der Plagiatsaffäre zu Guttenbergs aus, dass dem politischen Skandal Ratio und Rausch zugleich innewohnen. Darüber hinaus schreibt Torben Lütjen über die Konjunkturen politischer Rationalität und untersucht den Technokratie-Begriff historisch. Er schreibt: „Mag sein, dass die Sprache der Politiker steril und blutarm geworden ist; doch Technokraten macht das noch nicht aus ihnen. Wenn Technokratie bedeutet, an eine höhere Rationalität zu glauben und dass die Wissenschaft ein Wissen bereitzustellen vermag, mit dem sich gesellschaftliche Konflikte wie von selbst auflösen – dann hat dieses Denken schon seit langer Zeit keinen herausgehobenen Platz mehr im politischen Mainstream.“

Welchen Reiz der Rausch auf Schriftsteller ausgeübt hat, dem geht Jörg Magenau in seinem Beitrag über die Arbeiten und Drogenexperimente Ernst Jüngers nach. Der Autor kommt zu dem Schluss: „Den Rausch zu leben, hieß für Jünger, ihn zu kontrollieren und in ein Forschungsgebiet zu verwandeln. Deshalb findet er nur in seinen Büchern statt. Im Text. Und in den Köpfen der Leser.“ Den gelebten und erlebten Rausch, die Strahlkraft, die vom intellektuellen Mentor, vom „Meister“ ausging, der die Apokalypse beschwor und die radikale Umkehr predigte, erkundet Franz Walter und zeichnet den gesellschaftlichen Abschied vom Phänomens des Gurus nach. „Zwar flackern spirituelle Bedürfnisse immer mal wieder auf“, resümiert Walter, vor allem jedoch „in einem sehr individualisierten Sinne als jederzeit austauschbare Angebote in den Regalen für Lebenshilfeprodukte.“ Doch gerade das Feld, das immer wieder exemplarisch für die „Macht der Zahlen“ und strategisches Handeln herangeführt wird, die Wirtschaft, die Börse, zeigt sich bei näherem Hinsehen als Spielwiese des Rauschs. Ob Börsenkurse fallen oder steigen, ist beeinflusst von emotionalen Höhenflügen oder Angstreaktionen. Wie sich die Akteure am Rationalen berauschen, dem spürt Christian von Eichborn nach. So haben wir versucht, mit diesem Schwerpunkt eine Art Kaleidoskop entstehen zu lassen, das zwischen den Polen – Rausch und Ratio – viele Bilder und Figuren entstehen lässt, die zum Nachdenken anregen. Und, nun ja, im besten Fall, wenn auch vielleicht nicht berauschen, so doch zumindest inspirieren.

Katharina Rahlf ist Chefredakteurin der Zeitschrift INDES, Lars Geiges ist Redaktionsmitglied. Beide arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Das Heft 3-2013 ist soeben bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Zur Leseprobe

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