Parteiausschlussverfahren im Spannungsfeld von Identitätsfindung und Transformation

Beitrag verfasst von: Simon T. Franzmann

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Simon Franzmann über die aktuellen Debatte um Parteiausschlussverfahren. Dieser Text ist am 12. März 2023 unter der CC-BY-SA-Lizenz im Verfassungsblog veröffentlicht worden.

Seit es Parteien gibt, gibt es Parteiausschlussverfahren. In den letzten Jahren haben sich jedoch prominente Fälle gehäuft. Es scheint, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für solche Verfahren stark zugenommen hat, wie die jüngsten Beispiele von Schröder, Palmer und Maaßen zeigen. Früher waren solche Verfahren in der Regel auf Parteien des linken Spektrums wie die SPD beschränkt, aber jetzt gerät auch die CDU verstärkt in die Schlagzeilen.

Eine mögliche Erklärung ist der beschleunigte Wandel der politischen Landschaft, der die Identität der Parteien besonders herausfordert. Parteiausschlussverfahren spiegeln stets ein Ringen um die Parteiidentität wider. Stets entsteht das Dilemma, Meinungsvielfalt zuzulassen ohne zugleich einen Präzedenzfall zu schaffen, von der offiziellen Parteilinie straflos abzuweichen. In der Vergangenheit ging es bei der SPD häufig um die Verfassungstreue und die Auseinandersetzung um einen revolutionären oder demokratisch-reformorientierten Kurs. Dies betraf eher jüngere Parteimitglieder, und der Ausschluss wurde als „Erziehungsmaßnahme“ betrachtet. Heute stehen eher ältere Mitglieder im Fokus, die bereits Ämter für die Partei und das Land ausgeübt haben. Bei solch prominenten Politiker*innen sind Ausschlussverfahren stets eine Gratwanderung zwischen berechtigen öffentlichen Interesse und internen Entscheidungsprozessen.

Wenn ein ehemaliger Ministerpräsident oder gar ein Bundeskanzler ausgeschlossen wird, ist das ungleich spektakulärer als bei einem „normalen“ Mitglied. Auch der Strukturwandel der öffentlichen Debattenkultur durch die Etablierung sozialer Medien verstärkt dies sicherlich. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, warum nun zunehmend die Parteiprominenz Gegenstand der Ausschlussverfahren wird. Und da scheint der sich wandelnde gesellschaftliche wie politische Kontext eine erhebliche Rolle zu spielen.Was in der Politikwissenschaft als Wandel des politischen Raums bezeichnet wird, ist im Alltag oft schwer zu erfassen. Dieser Wandel umfasst die Abkehr von der Konfliktkonstellation des Industriezeitalters um die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems und des Sozialstaats hin zu kulturellen Fragen, der Einbindung des Nationalstaats in eine entgrenzte Welt und der Transformation der Wirtschaft in eine klimaneutrale, digitale Wissensgesellschaft. Diese fundamentale Transformation bringt alte Gewissheiten und Parteiloyalität ins Wanken.

Die öffentliche Austragung von Parteiausschlussverfahren gibt dem Drama eine Bühne, wie Parteien versuchen, sich an die rasant verändernden Umstände anzupassen, dabei Wählerschaften verlieren, manchmal gewinnen, aber stets darum bemüht sind, ihre Identität zu erhalten.

Erziehungsmaßnahme Benneter vs. Sündenbock Schröder

Wie unterschiedlich Parteiausschlussverfahren die Identitätsfragen einer Partei früher und heute widerspiegeln, lässt sich prototypisch an den SPD-Fällen Benneter und Schröder illustrieren. Erfolgt der Ausschluss Benneters vor dem Hintergrund klassischer sozialdemokratischer Narrative in Abgrenzung zum Kommunismus, geht es bei Schröder um seine politischen „Sünden“ der früheren Agendapolitik und heutigen Russlandnähe.

Benneter wurde 1977 als Juso-Vorsitzender aus der SPD ausgeschlossen. Wie bei zahlreichen Verfahren innerhalb der SPD zuvor ging es um die Abgrenzung gegenüber kommunistischen Strömungen und Parteien. Die damalige SPD-Führung war um die Unterstützung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung besorgt – so wie es Jahrzehnte zuvor in der SPD stets Auseinandersetzungen zwischen den reformorientierten und revolutionären Flügeln gab.

Benneter als Vertreter des Stamo-Kap-Flügels1) galt hier als verdächtig – vor allem, nachdem er den Aufruf zu einer Abrüstungsdemonstration des „Komitees für Frieden, Freiheit und Abrüstung“ unterstützt und Kommunisten als Gegner, aber nicht Feinde, bezeichnet hatte. Trotz Rücknahme seines Aufrufs und seiner guten politischen Vernetzung wurde er ausgeschlossen.

Sein Verfahren war durchaus typisch. Bis 1990 erwischte es häufig Vertreter*innen des linken SPD-Flügels und des vermeintlich oder tatsächlich zu kommunistenfreundlichen Juso-Nachwuchses, die als Erziehungsmaßnahme und zur Abschreckung von Nachahmern aus der SPD ausgeschlossen wurden. Hatte diese Erziehungsmaßnahme gewirkt, konnten Ausgeschlossene wieder zurückkommen. Der Fall Benneter ist hier in gewissem Sinne spektakulär: Auf Betreiben seines Nachfolgers als Juso-Vorsitzender, dem späteren Bundeskanzler Gerhard Schröder, kehrte Benneter zurück in die Sozialdemokratische Partei. Seine Verfassungstreue wurde nicht mehr angezweifelt. Benneter stieg sogar 2004 bis 2005 zeitweilig zum Generalsekretär der SPD auf. Derjenige, dessen programmatische Ausrichtung einst als zu problematisch für die Zukunft der SPD galt, war nun genau für ebendiese aktuelle und künftige programmatische Ausrichtung zuständig.

Die Kontrastfolie zur „Erziehungsmaßnahme“ Benneter liefert ausgerechnet sein alter Förderer Gerhard Schröder. In seinem Fall geht es nicht mehr um die künftige Ausrichtung, sondern um eine Mischung aus Vergangenheitsbewältigung und persönlicher Wirkung.

Schröder war ursprünglich durch seine Wirtschaftsnähe und dann spätestens mit der Agenda 2010, die zur Abspaltung der WASG (offizieller Name: Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) und nach deren Zusammenschluss mit der vormaligen PDS zur Partei Die Linke führte, für Teile der SPD verdächtig geworden. Die späteren Wahlniederlagen wurden dem Kompetenz- und Vertrauensverlust in der Sozialpolitik der SPD durch die Agenda-Politik zugerechnet.

Aber nicht seine Agenda-Politik, sondern sein energiepolitisches Engagement holt Schröder nun ein. Seine Nähe zu Russland und seine langjährige Tätigkeit für GAZPROM werden ihm angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine als parteischädigendes Verhalten ausgelegt. Anders als im oben beschriebenen Fall Benneter ist hier aber klar, dass Schröder nicht mehr die künftige Politik der SPD und ihren ideologischen Kurs aktiv beeinflussen möchte. Teile der SPD wollen sich von der Person Schröder distanzieren aus der Furcht heraus, ansonsten für seine unpopuläre Russlandnähe an den Wahlurnen bestraft zu werden, ähnlich wie es bei der Agenda-Politik der Fall war.

Aber es geht in diesem Verfahren nicht nur darum, Schröder als Sündenbock zu nutzen, es geht auch hier um die Identität der Partei, um die Idee, zu den „Guten“ zu gehören. Und diese Identität ist in unsicheren Zeiten nicht nur in der SPD gefährdet.

Der Wandel des politischen Raums und Parteiausschlussverfahren

Die Zeiten sind unsicher angesichts des massiven gesellschaftlichen und politischen Wandels – schon vor dem außenpolitischen Zeitenbruch angesichts des Ukrainekriegs. Seit der Hoch-Zeit der Beschäftigung im Industriesektor in den 1960er und 1970er Jahren hat sich das Hauptfeld der politischen Auseinandersetzung allmählich von ökonomischen Fragen zu kulturellen Lebensstilfragen, der Umwelt- und Klimapolitik sowie des Umgangs mit offenen Grenzen und Migration verschoben. Diese Themen dominieren nun die Agenda und spalten die politischen Lager.

Die öffentlich ausgetragenen Diskussionen zum Parteiausschluss reflektieren diesen Wandel: Palmer, Sarrazin, Wagenknecht, Maaßen. Alle vier aufgeführten Fälle sind kulturelle „Rechtsabweichler“ in ihren Parteien.

Die Fälle Sarrazin und Wagenknecht sind ein Symptom des Wandels. Im alten, industriepolitisch geprägten Paradigma deutscher Politik kamen ihre Themen nicht auf die Agenda. Erst die Politisierung der gesellschaftlich-kulturellen Fragen zu Migration und der Rolle Deutschlands in der Welt lässt heute die Sollbruchstellen zu ihren eigenen Parteien erkennen.

Der Fall Boris Palmer hat wiederum einen eigenen Charakter. Palmers Abweichen in kulturellen Fragen bedroht direkt das Selbstverständnis der Grünen als Partei universalistischer Werte. Palmer stellt die orthodoxe Interpretation grüner Kernthemen infrage. Mit der Alltagsexpertise eines Bürgermeisters kann er mutmaßliche Grenzen grüner Migrationspolitik benennen. Rabiat bringt er dies öffentlich zum Ausdruck – und verschärft damit den ohnehin stets schwelenden Flügel- und Richtungsstreit bei den Grünen.

Bei Palmer geht es um mehr als um einen Richtungsstreit. Ihm wird vorgeworfen, in einer Buchveröffentlichung den Boden des Grundgesetzes verlassen zu haben, als er von Migranten ein „gesetzestreueres Verhalten“ als von den Deutschen verlangte. Auch hier ist es eine Identitätsfrage, die über die Personalie Palmer ausgetragen wird. Bis Ende 2023 ruht die Parteimitgliedschaft Palmers.

Seit seines abermaligen Wahlerfolges als Tübinger Bürgermeister als unabhängiger Kandidat gibt es Bemühungen, ihn wieder zu integrieren. Innerhalb der Grünen findet er für seine Positionen zunehmend Unterstützung bei Kommunalpolitiker*innen. Die Diskussion um Palmer veranschaulicht für ein großes Publikum das Ringen zwischen den grünen Idealen in der Flüchtlingspolitik und den Realerfordernissen bei der Flüchtlingsunterbringung.

Die Identitätssuche der CDU

Angesichts des fundamentalen Wandels der politischen Landschaft verwundert es nicht, dass eine der aktuell spektakulärsten Diskussionen um einen Parteiausschluss in der CDU stattfindet. Die Auseinandersetzung über Hans-Georg Maaßen führte zu Forderungen nach Ausschluss und Gegenausschlussverfahren. So verlangte die südthüringische CDU jüngst den Ausschluss der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin Karin Prien, weil sie im Bundestagswahlkampf 2021 indirekt dazu aufgefordert habe, Maaßens Gegenkandidaten Frank Ullrich (SPD) zu wählen. Freilich kam diese Gegenforderung erst 15 Monate nach der Wahl und war somit eher ein Instrument der Medieninszenierung.

Ein Muster wiederholt sich hier im Fall Maaßen, wie wir sie aus den anderen diskutieren Fällen kennen: eine ehemalige Person der Exekutive – allerdings kein Minister – vertritt Positionen, die für die Mehrheit der Partei nicht akzeptabel ist.

Der Fall Maaßen ist die Personifizierung der Auseinandersetzung über die gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU in den Merkel-Jahren. Die programmatische Entkernung, die von der Werteunion beklagt wird, ist eine, die sich vor allem auf konservative Positionen im Bürgerschaftsrecht bezieht. Es geht hier um den Markenkern damit um die Debatte, was in der Vergangenheit Wählerrückhalt gekostet hat und künftig ebendiesen erhalten kann. Die Unterstützer*innen von Maaßen sehen den Erfolg der AfD (nicht ganz zu Unrecht) als Folge der Politik der Merkel-Jahre und der (vermuteten) Aufgabe alter Positionen im konservativen Spektrum. Die Gegner wiederum können den gesellschaftlichen Wertewandel anführen, dass die alten konservativen Positionen selbst in der Union nicht mehr mehrheitsfähig waren und die 16jährige Regierungsführerschaft 2005 bis 2021 ohne diesen Kurs nie zustande gekommen wäre.

Während die einen also den Verlust der Regierungsbeteiligung auf die Modernisierung zurückführen, fürchten die anderen, in Zukunft nicht mehr mehrheitsfähig zu sein, sollte die CDU einen hart konservativen Kurs einschlagen. In der Person Maaßen kristallisiert sich der Kampf um Vergangenheit und Zukunft der CDU.

Parteiausschlussverfahren bei prominenten Persönlichkeiten sind stets eine Gratwanderung zwischen notwendiger öffentlicher Auseinandersetzung und internen Entscheidungsprozessen. Neben der höheren Transparenz dieser Verfahren gibt es mutmaßlich einen gesellschaftlichen Nutzen: Im persönlichen Drama prominenter Politiker*innen in der Auseinandersetzung mit ihrer Partei wird der Kampf um die Anpassung in einer zunehmend komplexen politischen Landschaft sichtbar und für ein großes Publikum nachvollziehbar.

Für die Partei selbst ergibt sich zudem das Dilemma, Meinungsvielfalt zuzulassen ohne zugleich einen Präzedenzfall zu schaffen, wie stark von der offiziellen Parteilinie und Identität straflos öffentlich abgewichen werden kann.

References

1 STAMOKAP – Staatsmonopolistischer Kapitalismus.