„Partei der Hoffnung“

Thema: Wege aus der Krise (2)

[kommentiert]: Matthias Micus über Herausforderungen auf dem Weg der SPD-Parteireform

Ziemlich exakt ein Jahrzehnt ist seit dem letzten Anlauf zu einer Organisationsreform in der SPD vergangen. Auch inhaltlich weist die aktuelle Reformdebatte nur einen geringen Abstand zu dem Erneuerungskatalog auf, den seinerzeit Franz Müntefering im Jahr 2000 den Parteigremien vorgelegt hat. Damals wie heute soll die mittlere Funktionärsebene entmachtet, die Beteiligung der Basis gestärkt und die Partei für Sympathisanten geöffnet werden.

Im Übrigen ähneln sich die Auspizien, unter denen die Parteispitzen die Zukunft der Sozialdemokratie deuten: Auch zur Jahrtausendwende wähnte sich die SPD im elektoralen Niedergang, nachdem sie bei den Landtagswahlen in den Jahren 1999 und 2000 fast durchgängig und bisweilen gar zweistellige Einbußen erlitten, in Brandenburg die absolute Mehrheit und in Hessen sowie dem Saarland die Regierungsmacht verloren hatte. Dabei verfehlte sie in Thüringen mit weniger als 20 Prozent und noch dramatischer in Sachsen mit nur noch rund 10 Prozent das Ergebnisniveau von Volksparteien bereits deutlich.

Es zeigen sich bei den beiden jüngsten Operationen am Körper der Partei mithin einige Gemeinsamkeiten, die generelle Schlussfolgerungen über Parteireformen zulassen – zumal sie sich gleichermaßen sowohl bei zeitlich weiter zurückliegenden Reformanläufen als auch mit Blick über den nationalen Tellerrand hinaus bei den allermeisten europäischen Schwesterparteien zeigen: Die Stimmen der Erneuerung erheben sich zumeist in Phasen des Niedergangs, sei es organisatorisch, elektoral und/oder gouvernemental. Und die Reformen setzen immer an der Organisation an, die Lösung der Probleme wird immer in einer Modifikation der innerparteilichen Strukturen, Arbeitsweisen und Entscheidungsprozeduren gesucht.

Beides ist nicht unproblematisch, die Reformdiskussion müsste einerseits viel bescheidener, gleichzeitig aber erheblich selbstbewusster geführt und begründet werden. Andernfalls dürfte auch die gegenwärtige Neuvertonung dieses parteipolitischen Evergreens wieder folgenlos bleiben. Zum einen könnte und müsste die Stärkung der Organisation viel mutiger als generelle Notwendigkeit verstanden werden und nicht bloß als pawlowscher Reflex auf zyklische Zustimmungskrisen daherkommen. Auf die Funktionen von Kollektivorganisationen können moderne Gesellschaften generell nicht verzichten, dies gilt – scheinbar paradox – umso mehr in Zeiten rapiden Wandels, in denen die bestehenden Organisationsstrukturen regelmäßig als Relikte vergangener Zeiten erscheinen. Doch ist gerade dann der Einzelne auf die entlastende Wirkung von Institutionen und Organisationen angewiesen, die Unsicherheiten reduzieren und Entscheidungszwänge abbauen.

Für den Philosophen Norbert Bolz liegt die Entwicklungsgarantie fortschrittlicher Zivilisationen regelrecht darin begründet, dass es die Menschen so genau gar nicht wissen wollen und sich dem in Institutionen „geronnenen Geist“ anvertrauen, der in einer Welt erst überlebensfähig macht, in der nur gewiss ist, dass die Zukunft ungewiss ist. „Nicht das, was Menschen denken, sondern das, was man ihnen zu denken erspart, bringt den zivilisatorischen Fortschritt.“ Mithin: Die Bedeutung kraftvoller Organisationen beschränkt sich nicht punktuell auf temporäre (Partei-)Krisen, der Erhalt ihrer Lebendigkeit und Funktionsfähigkeit – auf Parteien gemünzt vor allem: einer gelingenden Vermittlung zwischen Staatshandeln und Bevölkerungsinteressen – ist vielmehr eine Daueraufgabe.

Zum anderen aber müssen Heilserwartungen gedämpft werden. Die Reformen der Vergangenheit zielten allesamt gleichsam ganz einseitig und ausschließlich auf Organisatorisches. Strukturen sollten geöffnet, Beteiligungsverfahren ausgebaut und Informationswege auf den technisch neuesten Stand gebracht werden. Der Bundesgeschäftsführer der deutschen SPD in den frühen 90er Jahren, Karlheinz Blessing, mahnte diesbezüglich schon vor zwanzig Jahren zur Selbstbeschränkung: „Die Parteiorganisation darf nicht Selbstzweck sein, sie muss Instrument sein, mit und für Menschen diese Gesellschaft zu verändern“. Mehr noch: Blessing betonte, dass sich das politische Ziel in der Organisation spiegeln müsse. Dann aber müsste man vor einer Organisationsreform über langfristige politische Fluchtpunkte, Ziele und Visionen sprechen, bevor man sich überhaupt organisatorische Fragen stellen dürfte. Anders gesagt: Zunächst müsste das programmatische Fundament gegossen werden, dessen Profil und Zuschnitt würde sodann die organisatorische Form vorgeben.

Diesbezüglich freilich bieten die diskutierten Reformmaßnahmen durchaus Anknüpfungspunkte. Als Vertretungsagenturen von Arbeitern gegründet, deren wirtschaftliche Unselbständigkeit in der Industriegesellschaft von Unternehmern ausgenutzt wurde, deren Einzelstimme in den abgestuften Wahlrechten der konstitutionellen Monarchien wenig zählte und deren Aufstiegswege in der Klassengesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts blockiert waren, sind sozialdemokratische Parteien traditionell Mitglieder- und Kümmererparteien. Sozialdemokratien sind (bzw. waren) mithin ganz klassisch Interessenvertretungen und Repräsentationen derjenigen, die sich alleine nicht helfen können, die ihre individuelle Machtlosigkeit durch die Macht des Kollektivs ausgleichen müssen und sich darum im Gefüge der sozialdemokratischen Organisation engagieren.

Wenn in der Sozialdemokratie – im Übrigen nicht bloß in Deutschland, sondern ganz ähnlich in einer Vielzahl europäischer Länder – nun von der Notwendigkeit gesprochen wird, die lokalen Parteigliederungen zu stärken, auf die Menschen wieder spürbarer zuzugehen, vor Ort besser sichtbar und in der Öffentlichkeit präsenter zu sein, dann schwingt in der Revitalisierung der Graswurzelarbeit eine Wiederbelebung der oben genannten Kümmererstrategie mit. Und wenn darüber hinaus über neue Konzepte zur Mitgliederwerbung und Mitgliederbindung sinniert wird, wenn die Beteiligungsmöglichkeiten von Mitgliedern wie Sympathisanten erweitert und Impulse zur Öffnung der Partei gesetzt werden sollen, so fügen sich auch diese Reformvorschläge in die Tradition der sozialdemokratischen Massenmitgliederpartei, zu der immer auch Aktivität, Partizipation, Engagement gehörten.

Freilich: Nicht zu übersehen sind die Widersprüche, in denen die aktuell wiederbelebten Vorschläge für die Organisationsreform zur sozialdemokratischen Mehrheitspolitik der letzten 15 Jahre stehen. Auf ihrem „Dritten Weg“ propagierten die Sozialdemokraten den Vorrang professioneller Experten vor zahlenstarken Mitgliedschaften; praktizierten ihre Vorderleute eine autoritäre Basta-Politik anstelle einer breiten Basispartizipation; erstickte ein klebriges Geschlossenheitspathos jegliche Diskussionsbereitschaft. Ganz abgesehen davon, dass insbesondere Sigmar Gabriel, der heute als Vorsitzender einer der Protagonisten in Sachen Öffnung und Beteiligung von Nicht-Mitgliedern ist, vor einer Dekade bei der Diskussion über Münteferings Maßnahmenkatalog noch auf Seiten der Reformkritiker gegen jede Relativierung des Mitgliederprimats focht.

Schwerer noch wiegen die Aporien der verstärkten Basisbeteiligung. Die geläufigen Assoziationen mit Partizipation sind rundweg positiv: Die Beteiligung des Durchschnittsbürgers oder einfachen Parteimitglieds bereichere den Meinungspluralismus, verhindere kurzsichtige politische Entscheidungen, verbessere die Elitenrekrutierung und vertiefe die Identifikation insbesondere der bisher politikfernen, sozial randständigen Gesellschaftssegmente mit dem Gemeinwesen. Doch begünstigt jede Partizipation seit jeher die Ressourcenstarken – und eine Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten bevorzugt die gehobene Bildungs-, Berufs- und Einkommensmitte noch stärker, indem Beteiligungsofferten auch Beteiligungserwartungen nach sich ziehen und direktdemokratische Verfahren erhebliche Forderungen an den Sachverstand, den Zeitreichtum und das oratorische Selbstbewusstsein des Einzelnen stellen. Im Gegensatz dazu waren es nicht zuletzt das niedrige Partizipationsniveau und die in ihren Reihen gepflegte unpolitische Geselligkeit, welche die Massenparteien in ihren besseren Zeiten nach unten öffneten und für die Unterschichten attraktiv machte

Zudem: Bislang galten bei Reformdebatten immer die Parteispitzen als die treibenden Kräfte und die mittleren und niederen Funktionäre in den hinteren Reihen als Blockierer von Innovationen. Jetzt soll ausgerechnet die Beteiligung der Basis und die Stärkung der Ortsvereine – und das heißt eben auch: die Stärkung der lokalen Amts- und Mandatsträger – eine Weitung der politischen Perspektive und eine Öffnung des Parteihorizonts bewirken. Sind nicht die Ortsvereine die Parteiebene „mit der kleinsten Aufgabe und dem begrenztesten Horizont“, wie Johannes Gross bereits vor knapp drei Jahrzehnten urteilte? Und begünstigen dann nicht gerade die kommunalen Aktivisten „beim Aufstieg Leute, die nur umgrenzte Interessen oder eine Lokalität repräsentieren“? Ist nicht überhaupt die viel geschmähte „Ochsentour“ im Wesentlichen eine Folge des ohnehin schon bestehenden Basiseinflusses bei der Personalrekrutierung in den Parteien? Dies alles sollte zumindest als Problem erkannt und gründlich bedacht werden. Ganz unabhängig davon, dass Umfragen regelmäßig eine positive – und nicht etwa negative – Korrelation zwischen dem Wunsch nach mehr direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten und autoritären Politikvorstellungen zeigen, von der unverzüglichen, konsequenten und kompromisslosen Umsetzung der zuvor erfragten Mehrheitsmeinung bis hin zum sogenannten „starken Mann“ an der Spitze, der diese Umsetzung garantiert.

Doch sind eben diese Ambivalenzen, Widersprüche, Paradoxien in der SPD gegenwärtig kein Thema. Vielmehr glauben die Reformer ganz fest an die frohen Verheißungen der Organisationsreform im Allgemeinen, der Basispartizipation im Speziellen. „Party of Hope“, Partei der Hoffnung, nannte R.W Emerson die Sozialdemokratie dereinst aufgrund ihres Zukunftsoptimismus, ihrer Fortschrittsgläubigkeit, ihrer Diesseitsutopie. Die Utopie der klassenlosen, sozialistischen Zukunftsgesellschaft ist lange verflogen, an ihre Stelle ist der Glauben an den Segen organisatorischer Veränderungen getreten. Doch mit Blick auf die Parteireform ist die Sozialdemokratie heute wieder eine „Partei der Hoffnung“.

Dr. Matthias Micus ist akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Herausgeber des Sammelbandes „Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand“.